Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Artikel 3 | APuZ 33/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 33/1957 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Artikel 10 Verbrechen und Strafrechtsystem

Artikel 3

Die sowjetische Verfassung ist keineswegs ein wirkliches Staats-grundgesetz. Sie kann eher als feierliche Bekanntmachung der allgemeinen politischen Rechtslinien und ein ungefähres Schema für die Regierungsbehörden bezeichnet werden. Die Regierung ist jedoch nicht unbedingt an Bestimmungen der Verfassung gebunden.

Bei einer totalitären Auffassung der Staatsgewalt besteht die in den freien Staaten übliche Beziehung zwischen der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalt nicht. Obwohl Ausdrücke wie „Verfassung", „gesetzgebender Akt", „Verwaltungsbestimmungen" im sowjetischen Recht gebräuchlich sind, ist die solchen Rechtsquellen zukommende Machtfülle ganz verschieden von jener, die mit solchen Ausdrücken in demokratischen Ländern verbunden ist. So kann eine Verfassungsbestimmung durch eine Verwaltungsverordnung aufgehoben werden, und ein angenommener Rechtssatz wird erst zu einem viel späteren Zeitpunkt der Verfassung einverleibt.

In der Tat ist der spätere Regierungsakt ausschlaggebend, gleichgültig ob dieser nun Gesetz, Beschluß oder anders genannt wird und ohne Rücksicht auf die Stellung des zentralen Regierungsorgans, welches diesen Akt erließ; denn die wirklich souveräne Gewalt liegt außerhalb der verfassungsmäßig vorgesehenen Regierung. Die Entscheidung wird irgendwo auf höchster Parteiebene getroffen und hernach als eine Verordnung dieser oder jener staatlichen Behörde öffentlich bekanntgegeben.

So wurde zum Beispiel in der Verfassung von 1936 (Artikel 119) der 7-Stunden-Arbeitstag vorgesehen. Am 26. Juni 1940 beschloß jedoch das Präsidium des Obersten Sowjets (im Sinne der Verfassung eine vollziehende Gewalt) den Achtstundentag zum normalen Arbeitstag zu machen (Vedomosti Nr. 20).

Dieser Beschluß wurde sofort rechtskräftig; im August 1940 wurde er vom Obersten Sowjet bestätigt, aber ohne daß das für eine Verfassungsänderung vorgeschriebene Verfahren angewandt wurde. Erst sieben Jahre später wurde Art. 119 verfassungsmäßig abgeändert, d. h.

die Rechtssätze der Verfassung wurden dem schon vorher rechtskräftig gewordenen Verwaltungsdekret angepaßt (25. II. 1947, Vedomosti, Nr. 8).

Im Oktober 1945, am Vorabend der Session des Obersten Sowjets (1946), wurde die Altersgrenze für das passive Wahlrecht zum Obersten Sowjet vom 18. auf das 24. Lebensjahr erhöht; damit wurden ungefähr vier Millionen Staatsbürger des passiven Wahlrechtes beraubt. Der Oberste Sowjet trat zusammen und ratifizierte rückwirkend diese Änderung (Edikt vom 10. X. 1945, Vedomosti Nr. 72).

Ungeachtet dessen, daß Artikel 121 der Verfassung von 1936 das Recht der Staatsbürger der UdSSR auf „unentgeltliche Ausbildung einschließlich der Hochschulbildung" vorsah, beschloß der Rat der Volkskommissare, ein reines Exekutivorgan, am 2. X. 1940, daß der Besuch der höheren Klassen der Mittelschule sowie die Hochschulbildung schulgeldpflichtig ist. Diese Verordnung wurde mit sofortiger Wirkung durchgeführt, die Verfassung selbst jedoch erst sieben Jahre später — im Jahre 1947 — entsprechend geändert. Später wurde für den Beginn des Schuljahres 1956 versprochen, dieses Schulgeld abzuschaffen. Erst 1957 wurde die unentgeltliche Schulbildung eingeführt.

Die sowjetischen Juristen sind sich der Ungeklärtheit der Beziehungen zwischen der Sowjetverfassung, der Gesetzgebung und den Veroidnungen voll bewußt. Sie versuchen den Unterschied zwischen der Rechtskraft einer Verfassungsbestimmung, einem Gesetzgebungsakt und einer Verwaltungsverordnung oder Verfügung zu verwischen. In einigen vor kurzer Zeit erschienenen Abhandlungen über das sowjetische Recht, welche als Lehrbücher für die juristischen Fakultäten der Universitäten gebraucht werden sollen, wird die Lehre von den „normativen Akten" als Quelle des sowjetischen Rechtes zum Ausdruck gebracht.

In diesen Büchern werden im allgemeinen normative Akte als „Akte, durch welche der Wille der herrschenden Klasse , zum Gesetz erhoben'

wird", definiert. Auf diese ziemlich vage Definition folgt glücklicherweise eine Aufzählung konkreter, von sowjetischen Behörden vorgenommener Akte, die nach der Meinung der Verfasser unter die gegebene Definition fallen. Als solche kommen in Betracht: „Gesetze, die durch den Obersten Sowjet (entspricht im Sowjetrecht dem gesetzgebenden Organ) erlassen worden sind; die Edikte seines Präsidiums (eines aus 32 Mitgliedern bestehenden, die sowjetische kollektive Präsidentschaft personifizierenden Organs); die „normativen Beschlüsse" des Ministerrates; die gemeinsamen Beschlüsse des Ministerrates und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der UdSSR und die Eilässe und Anordnungen der einzelnen Minister und des Zentralrates der Gewerkschaften.

§ 5. KURZER GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK a. Anfangsstadium: der Kriegskommunismus (1917— 1921)

. Während dieser Periode wurde durch das sowjetische Recht praktisch jegliche Privatinitiative aufgehoben, die Privateigentumsrechte wurden abgeschafft und deren Erwerb für die Zukunft unmöglich gemacht. Als aber ein vollständiger wirtschaftlicher Zusammenbruch erfolgte, wurde zusammen mit der „Neuen Ökonomischen Politik" (NEP, s. X § 7a—b) eine Anzahl neuer Gesetze verkündet.

Das Anfangsstadium des Sowjetregimes (Kriegskommunismus) stand im Zeichen der unterschiedslosen Verwerfung der alten Gesetze im November 1918. Bereits vor diesem Ereignis waren alle Privatrechte tatsächlich abgeschafft und es blieb auch dabei. Eine Reihe sowjetischer Dekrete verfügte die Verstaatlichung zahlreicher Grundbesitze und Betriebe ohne Entschädigung, mit dem Bestreben, alles Privateigentum, das nicht gerade der Befriedigung der täglichen Bedürfnisse diente, abzuschaffen.

Das Privateigentumsrecht an den Grundstücken wurde am 19. Januar 1918 abgeschafft. Der größte Teil der Gebäude in städtischen Siedlungen wurde ebenfalls vom Ortssowjet übernommen (munizipalisiert). Das Dekret vom Januar 1918 über die Trennung von Kirche und Staat verordnete insbesondere die Beschlagnahme alles kirchlichen Vermögens einschließlich dessen, das für die Kultausübung benötigt wurde und verbot den Kirchen in Zukunft jegliches Eigentum. Diese Verordnung ist auch heute noch in Kraft.

Das Bankwesen, das Versicherungswesen und der Außenhandel wurden zu Regierungsmonopolen erklärt und alle privaten Unternehmen auf diesen Gebieten beschlagnahmt.

Das Erbrecht wurde aufgehoben, Aktien und Obligationen annulliert und Ersparnisse praktisch konfisziert, Verlagsrecht und Patente dem staatlichen Monopol unterworfen. Eisenbahnen, Handelsmarine sowie private Flußschiffahrt wurden zu Regierungseigentum erklärt.

Schließlich wurde die Privatindustrie verstaatlicht mit Ausnahme der industriellen Kleinunternehmen, die bei handwerksmäßigem Betrieb nicht mehr als zehn Arbeiter beschäftigten oder bei maschinellem Betrieb nicht mehr als fünf; aber auch solche wurden manchmal verstaatlicht. An Stelle des unterdrückten Privathandels wurden Kommissariate zur Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln eingesetzt.

Der Staat beanspruchte das Monopol des gesamten Korn-und Getreidehandels. Ende des Jahres 1920 wurde die Abschaffung jeglicher Bezahlung für rationierte Lebensmittel, Konsumgüter, Brennstoff, Wohnung, Viehfutter, Drucksachen, Post-und Telegraphenbenutzung angeordnet. Weiter wurden alle Gerichte abgeschafft. Die Gerichtsbarkeit, insbesondere die Strafgerichtsbarkeit, wurde von verschiedenen Ausschüssen, die sich spontan gebildet hatten, von außerordentlichen Kommissionen (Tsche-kas) und „revolutionären Gerichtshöfen" ausgeübt. Keine war an verbindliche Rechtsnormen oder -verfahren gebunden.

b. Die „Neue ökonomische Politik" — NEP (1922— 1929)

Die sogenannte „Neue ökonomische Politik" (NEP), 1922— 1929, enthielt Zugeständnisse an das private Handelsunternehmertum. Die alten Rechte der Einzelpersonen wurden zwar nicht widerhergestellt, aber ihr Erwerb war für die Zukunft erlaubt und gesetzlich geschützt.

Einige bisher dem Staat reservierte Wirtschaftsgebiete wurden dem privaten Unternehmertum freigegeben und somit wurde auch das Privateigentum hier möglich: der Kleinhandel und die industriellen Kleinbetriebe, die nicht mehr als zwanzig Arbeiter beschäftigten. Auf den immer noch der Regierung vorbehaltenen Gebieten wurden z. B.den industriellen Großbetrieben Konzessionen besonders zur Aufnahme ausländischen Kapitals gegeben. In den der Privatwirtschaft freigegebenen Zweigen machte der Staat den Privatunternehmen Konkurrenz.

Kurzum, die Neue Ökonomische Politik bedeutete ein Zugeständnis an die Privatinitiative im Handel und an die Rechte von Einzelpersonen. Die vereinzelten Beschlagnahmungsdekrete wichen den systematischen und umfassenden Gesetzeskodifikationen: Zivilgesetzbuch, Zivilprozeßordnung, Strafrecht, Strafprozeßordnung, Agrargesetzbuch, Arbeitsgesetzbuch u. a. Auf den Universitäten wurde das Rechtsstudium wieder ausgenommen. Die sowjetische Rechtswissenschaft blühte wieder auf, wissenschaftliche Arbeiten über rechtliche Fragen erschienen, und die Gerichte wurden im Jahre 1923 endgültig wieder eingeführt. Das Zivilgesetzbuch stellte in vielfacher Hinsicht einen schlechten Auszug aus den westeuropäischen Gesetzbüchern dar, an die es sich eng anlehnte; nur wenige Paragraphen rechtfertigten weiterhin die Einmischung des Staates in die Ausübung der Privatrechte und der Rechtsgeschäfte. Das Agrargesetzbuch garantierte der Bauernschaft den zukünftigen Besitz („ohne zeitliche Beschränkungen") von Grund und Boden, in dessen Besitz sie im Jahre 1922 waren. Es anerkannte alle vor der Revolution bestehenden Formen bäuerlichen Besitzes; nur die Großgrundbesitzer blieben weiterhin enteignet.

Das Strafgesetzbuch suchte in systematischer Weise die strengen Strafmaßnahmen der vorangegangenen Periode aufzuzeichnen. Es enthielt Strafrechtssätze, welche die Willkür der neuen Gerichtshöfe etwas einschränkten.

Die Prozeßordnungen, wenngleich sie auch zahlreiche Abweichungen von den westlichen Vorbildern aufwiesen, umrissen doch eine Gerichtsverfahrensordnung. Versuche wurden gemacht, die Macht der Tsche-ka einzudämmen, die jetzt zur GPU (OGPU) umgeformt wurde.

Das Arbeitsgesetzbuch suchte nach dem Muster der fortschrittlichen kapitalistischen Länder Arbeitsvertrag und Arbeitspflicht zu regeln, wobei dem Schiedsgericht, Schlichtungswesen und kollektiven Arbeitsvertrag Raum gelassen wurde. Es ist größtenteils von der Bundes-gesetzgebung ersetzt worden, welche die Arbeiterschaft unter die feste Kontrolle des Staates stellt.

Diese Gesetzbücher traten in jeder Sowjetrepublik separat in Kraft, aber sie alle paßten sich dem Muster der R. S. F. S. R. -Gesetzbücher an;

später wurden sie einheitlich durch die Bundesgesetzgebung geändert.

Somit sind die Rechtsnormen der sowjetischen Gesetzbücher ziemlich einheitlich und föderalistisch, obschon sie in den Gesetzbüchern der einzelnen Sowjetrepubliken (Staaten) enthalten sind.

Gegenwärtig sind die Rechtsordnungen der Gesetzbücher großenteils von Sondergesetzen und Einzeldekreten, welche nicht unbedingt in den Gesetzbüchern enthalten sind, aufgehoben.

c. Rückkehr zum Sozialismus (seit 1929)

Die NEP war von kurzer Dauer. Mit Beginn des Ersten (1929) Fünfjahresplanes betrat die Sowjetregierung den Weg der totalen Sozialisierung der Wirtschaft und Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Sphäre der unter der NEP anerkannten Privatrechte wurde in drastischer Weise geschmälert. Die Verfassung von 1936, welche heute noch in Kraft ist, bezeichnete die bis zu dieser Zeit erreichte soziale Ordnung als Sozialismus, als erste Phase des Kommunismus.

Unter dem sozialistischen Wirtschaftssystem gehören alle wichtigen ökonomischen Produktionsmittel dem Staate. In der Verfassung von 1936 (Art. 4) heißt es:

„Die ökonomische Grundlage der UdSSR bilden das sozialistische Wirtschaftssystem und das sozialistische Eigentum an den Produktionsinstrumenten und -mitteln ... (und die) Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsinstrumenten und -mitteln ..

Nach Stalins eigenen Worten „eliminierte" die Sowjetregierung „die Privathändler, die Großhändler und die Zwischenhändler jeder Art" zusammen mit den Großindustriellen.

§ 6. DER KLASSENCHARAKTER DES SOWJETISCHEN RECHTES Nach kommunistischer Auffassung ist das Recht nicht nach den Forderungen der Gerechtigkeit ausgerichtet, sondern nach den Bedürfnissen des Klassenkampfes (III § 2— 4). Auf Grund politischer Kategorien entwertet das sowjetische Recht den Einzelmenschen (s. auch II § 8). Ursprünglich wurden zwei Hauptkategorien von Menschen unterschieden: Werktätige und Nicht-Werktätige, Angehörige der Proletarierklasse oder der feindlichen Klasse.

Das heißt nicht, daß in der Anfangsphase des Sowjetregimes nur die Angehörigen der früher begüterten Klasse strengen Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Zur Zeit, da die alten Klassen noch bestanden und die „Klassengerechtigkeit" in vollem Gange war, beklagte sich der Oberste Gerichtshof der RSFSR:

„Die neueste Statistik für das Jahr 1921 zeigt, daß der größere Prozentsatz der von den revolutionären Tribunalen Verurteilten den Bauern-und Arbeiterklassen angehörten und nur ein kleiner Teil der Bourgeoisie (im weiten Sinne). Dieses Verhältnis bezieht sich auf alle Arten von Strafen, einschließlich Hinrichtung durch Erschießen" (Oberster Gerichtshof der RSFSR, Militärgerichtsdirektive, 2. III. 1922, in VerchovnyTribunal, circularN. 26[povojennojkolI e g i i], in: Sbornik cirkuljarow Verchovnogo Tribunala pri Vcike za 1921, 1922 gg.; Verchovnogo Suda RSFSR za 1923; predislovije Stucki, 1924, S. 6).

Die vom Obersten Gericht der RSFSR veröffentlichten Statistiken ergaben, daß von den zur Todesstrafe durch Erschießen gerichtlich Verurteilten die Arbeiter und Bauern 70, 8 Prozent ausmachten (23, 6 Prozent Arbeiter; 47, 2 Prozent Bauern), Intellektuelle und Büroangestellte 20, 7 Prozent, und andere (einschließlich der bourgeoisen Schicht) 8, 5 Prozent. (Verchovny Sud RSFSR za 1923 g o d , o t c e t n y doklad predsedatelja P. Stucki. 1924, S. 26 und Tabelle am Schluß.)

Die Ächtung nach dem Maßstab des sozialen Ranges und wirtschaftlichen Standes war bis 1936 sehr deutlich in der Sowjetunion. So waren Staatsbürger, die Handel trieben oder Lohnarbeiter zu eigenem Profit beschäftigten, sowie auch Priester und Mönche aller Konfessionen, Aktionäre, und gewisse vorrevolutionäre Beamte (einschließlich der früheren Staatsanwälte) von der Wählerschaft ausgeschlossen, während man den in der Sowjetunion wohnenden und als Werktätige qualifizierten Ausländern alle politischen Rechte eines sowjetischen Werktätigen zuerkannte (z. B. Instrukcija o Vyborach s o v e t o v R. S. F. S. R., 1929, §§ 15, 16; Gsovski, SovietCivilLaw, Ann Arbor, I, 1948, S. 50.)

Somit genoß ein ausländischer Werktätiger Rechte, die dem als Nicht-Werktätigen betrachteten Einheimischen abgesprochen wurden.

Die des Wahlrechts Beraubten wurden auch bei Steuern, rationierten Lebensmitteln, Logis, Kindererziehung und in anderer Hinsicht benachteiligt.

Die Verfassung von 1936 verwarf den Entzug politischer Rechte auf Grund der sozialen Herkunft. Trotzdem breiteten sich mit der Zeit Meinungsverschiedenheiten und sogar Opposition nicht nur unter den früheren Besitzerklassen, gegen die Regierungspolitik aus, son.dem auch in den Reihen der unverdächtigten Werktätigen und Arbeiter, der armen Bauern und der Mitglieder der Kommunistischen Partei.

So wurden der Reihe nach die „unbeständigen Elemente der eigenen Klasse", die „Achselträger", die „Müßiggänger", die „Verräter", die „Volksfeinde" liquidiert.

Jetzt ist es nicht mehr der soziale Rang, sondern die geistige Einstellung, die Haltung einer Person gegenüber der Tagespolitik der sowjetischen Regierung, welche deren Klassenzugehörigkeit in den Augen der Sowjetbehörden bestimmt.

Während der gewaltsamen Farmkollektivierung Anfang der 30er Jahre wurden Gesetze erlassen, welche die Gerichte ermächtigten, über Kulaken (wohlhabende Bauern) Strafen zu verhängen für Handlungen, die, von Angehörigen anderer Bevölkerungsklassen begangen, nicht als Vergehen betrachtet wurden. Auch wurden für Kulaken, welche übliche Verbrechen begangen hatten, höhere Bußen und Strafen angesetzt. Die Anwendung dieser Gesetze bereitete den Gerichten nicht geringe Schwierigkeiten. Das Oberste Gericht der RSFSR beschrieb die Lage mit folgenden Worten:

„. . . Es fehlt eine übereinstimmende Meinung in der Anlegung des Maßstabes zur Beurteilung der Klassenzugehörigkeit, und es herrscht Unklaiheit in der eigentlichen Begriffsbestimmung des Klassenstandes des Angeklagten. Oft wird der nämliche Angeklagte zu Beginn der Gerichtsverhandlungen als Mittelbauer betrachtet und trotzdem als ein Kulak verurteilt."

„In Fällen, die mit wirtschaftlichen Kampagnen inZusammenhang stehen, oder wo es sich um Ergreifung von Maßnahmen der sowjetischen Regierung zum Wiederaufbau der Landwirtschaft handelt, ist es eine der fundamentalen Aufgaben des Gerichtes, sich über die Klassenzugehörigkeit des Angeklagten zu vergewissern. In dieser Hinsicht ist das Gericht nicht an formale Kriterien gebunden. Es muß sich in jedem Einzelfall darüber klar sein, ob der Angeklagte immer noch der Bauernschaft der Mittelklasse angehört und gemäß seinen K 1 a s s e n i n t e r e s s e n keine feindliche Haltung gegenüber den Maßnahmen der Sowjetregierung einnimmt, oder ob er kein Mittelklassen-Bauer mehr ist, das heißt, diese Klasse verlassen hat und der wohlhabenden Kulaken-Klasse beigetreten ist. Die Gerichte müssen bedenken, daß gemäß dem Beschluß des VI. Rätekongresses der „arme Bauer oder der unabhängige Mittelklassen-Bauer, welcher die Kulaken in ihrem Kampf gegen die Kollektivfarmen und in der Umstürzung der Organisation solcher Farmen unterstützt, nicht unser Verbündeter und noch weniger ein Freund und Helfer der Arbeiterklasse genannt werden kann; er ist in der Tat ein Bundesgenosse der Kulaken. . . . Inzwischen hat der seiner Besitztümer, seiner früheren wirtschaftlichen Grundlage enteignete Kulak seine feindliche Haltung gegenüber der Sowjetregierung nicht aufgegeben und ist sozial nicht weniger gefährlich denn früher. Aus diesen Gründen beauftragt das Oberste Gericht die einzelnen Gerichte, sich der sozialen und wirtschaftlichen Stellung des Angeklagten zu vergewissern, diese Tatsachen und Angaben in der gerichtlichen Untersuchung genau zu überprüfen und im Strafurteil anzugeben, auf Grund welcher Kriterien oder Tätigkeiten der Angeklagte zu den Kulaken, der höchsten Klasse, gerechnet wurde und aus welchen Ermittlungen sein^ Gegnerschaft oder sein Widerstand gegen die Maßnahmen der Sowjetregierung in der Landwirtschaft etc. sich erwiesen hat.“ (Sperrung vom Verfasser.) (Entscheidungen des Obersten Gerichtes der RSFSR vom 16. III. 1931, in: Sbornik de j stvu j uscich razjasnenii Verchovnogo Suda RSFSR, 1931, S. 372 f., 3. A. 1932, S. 250 f.)

§. 7. DIE NACHSTALINSCHE POLITIK Was die oben erwähnte sowjetische Intoleranz betrifft, so war nach dem Tode Stalins keine Änderung zu erwarten.

Nach dem Tode Stalins wurden zwar einige Aspekte seiner Führerschaft von der gegenwärtigen „kollektiven Führung" streng verurteilt. Als Chruev die Behandlung gewisser Rassenminderheiten in Ruß-land verurteilte, vermied er es, ähnliche Behandlungsmethoden anderer Minoritäten z. B. die der Kalmücken zu erwähnen. In ähnlicherWeise wurde von Chruscev die Willkür in der Verfolgung und im Terrorismus nur dann kritisiert, wenn diese gegen jene gerichtet waren, die er als gute Leninisten betrachtete. Es gibt in Chruevs Rede Stellen, welche Stalins Maßnahmen gegen die Opposition aus den Reihen der Kommunisten (Nachfolger von Trotzkij, Ziriovjev, Bucharin) und gegen jene, welche Chruscev als „wirkliche Klassen-Feinde, Nationalisten, Kulaken" usw. bezeichnete, eindeutig billigte. Nicht das Prinzip der Verfolgung wurde verdammt, sondern nur seine Anwendung auf gewisse Kreise von Kommunisten. Wie zitieren:

„Wir müssen bestätigen, daß die Partei einen ernsten Kampf gegen die trotzkistische Rechtsoppositionsgruppe und die bourgeoisen Nationalisten gefochten und daß sie alle Gegner des Leninismus ideologisch entwaffnet hat. . . . Hierin spielte der Stalinismus eine positive Rolle. . . . Es war dies ein hartnäckiger und schwieriger Kampf, aber ein notwendiger, weil die politische Linie sowohl des trotzkistischen-zinovjevistischen Blockes wie auch des bucharinistischen tatsächlich zu einem Wiederaufleben des Kapitalismus und zu einer Kapitulation an die Weltbourgeoisie geführt hat. Erwägen wir für einen Augenblick, was geschehen wäre, wenn in den Jahren 1928 bis 1929 die politische Linie der Rechtsopposition unter uns die Ober-hand gewonnen hätte, oder die Tendenz zur , Baumwoll-Kleiderindustrialisierung'oder zum Kulaken System usw. Wir würden keine mächtige Schwerindustrie besitzen; wir würden keine Kollektivfarmen haben; wir fänden uns entwaffnet und schwach in einer kapUalistischen Lfmgebung . .

„Wären die leninistischen Prinzipien eingehalten worden, so hätte man zu außerordentlichen Maßnahmen (milde Bezeichnung für Terrorismus) nur gegen jene Leute greifen müssen, die vrirklich verbrecherische Handlungen gegen das sowjetische System begangen hatten." (Sperrung vom Verfasser.)

Es handelt sich hier also nicht um eine Verurteilung der „außerordentlichen Maßnahmen", sondern ihre Anwendung wird nur einer anderen Bevölkerungsschicht angedroht. Chruev machte klar, daß der Leninismus sich nicht der Gewalttätigkeit und der Willkür enthielt, sondern sie nur gegen den „wahren Feind" richtete.

Chruscev fuhr fort:

„Wladimir Ilic (Lenin) forderte ein unnachgiebiges Verfahren mit den Feinden der Revolution und der Arbeiterklasse, und wenn nötig, nahm er erbarmungslos Zuflucht zu solchen Methoden."

„Sie werden sich Lenins Kampf gegen die Sozialrevolutionären Organisatoren der antisowjetischen Aufstände, gegen die konterrevolutionären Kulaken im Jahre 1918 und gegen andere ins Gedächtnis zurückrufen, als Lenin ohne Zögern die äußersten Methoden gegen die Feinde anwandte."

B. Überblick über einige Rechte der Sowjetstaatsbürger

Die Änderung in der Rechtstheorie nach dem Fall Pasukanis bedeutete weder die prinzipielle Oberherrschaft des Rechtes noch besagte sie die bedingungslose Anerkennung der Sonderrechte.

Eine Prüfung der dem Sowjetstaatsbürger zuerkannten individuellen Rechte zeigt, daß zur Zeit, da die sowjetische Rechtstheorie zur Anerkennung der Autorität des Gesetzes gelangte, die sowjetische Praxis seit 1930 die in der vorangegangenen Periode der sogenannten Neuen ökonomischen Politik (NEP) zugestandenen Privatrechte beträchtlich schmälerte.

§ 8. DAS EIGENTUMSRECHT Es ist bezeichnend, daß, obwohl die sowjetische Verfassung ein Kapitel mit dem Titel „Grundrechte und Grundpflichten der Staatsbürger" enthält, das Eigentumsrecht unter diesen fundamentalen Rechten nicht angeführt ist (z. B. Lepesin, Osnorngje prava i. Objazaunosti grazdan, 1954, passim.), überdies anerkennt das sowjetische Recht nicht gleiches Eigentumsrecht für alle Sowjet-staatsbürger. Im Gegenteil, das Eigentumsrecht auf dieses oder jenes Sachgut hängt von der Klassenzugehörigkeit des Einzelnen ab.

a. Staatseigentum Zunächst sind sehr viele Besitzgüter dem Sondereigentum der Staatsbürger verwehrt und dem ausschließlichen Eigentum des Staates vorbehalten.

Dies gilt für alle Arten von Grundbesitz und anderen Güter, wie „Grund und Boden, Wasser, Wälder, Mühlen, Fabriken, Eisenbahnen, Wasser-und Luftverkehr, Banken, Kommunikationsmittel (Post, Telegraph, Telefon, Radio), vom Staate organisierte Farmverbände (Staats-farmen, Maschinen-Traktoren-Stationen und ähnliche), öffentliche Anstalten, wichtige Gebäulichkeifen in Städten und Industriezentren." Privatindustrie ist nur gestattet in Form von handwerksmäßigen Kleinbetrieben, kleinbäuerlichen Betrieben, die ohne Anstellung von Lohn-arbeitern geführt werden und direkt für den Kunden produzieren.

Jegliche produktive Geldinvestierung ist somit verhindert.

b. Privateigentum gegen persönliches Eigentum Was bleibt somit dem Privateigentum vorbehalten? Die Verfassung von 1936 gibt darauf keine direkte Anwort. „Privateigentum" wird nur einmal, in Artikel 4, erwähnt, wo es heißt, daß das Privateigentum an Produktionswerkzeugen und Produktionsmitteln in der UdSSR abgeschafft worden ist. Jedoch Artikel 10 spricht von etwas dem Privateigentum Ähnlichem, aber mit ihm nicht Identischem, nämlich vom „persönlichen Eigentum". Es heißt dort:

„Das persönliche Eigentumsrecht der Bürger . . . (wird) durch das Gesetz geschützt."

Es werden auch einzelne persönliche Eigentumsrechte ausdrücklich genannt, und zwar:

„. . . an ihren (d. h.der Bürger) Arbeitseinkünften und Ersparnissen, am Wohnhaus und an der häuslichen Nebenwirtschaft, an den Hauswirtschafts-und Haushaltungsgegenständen, an den Gegenständen des persönlichen Bedarfs und Komforts."

Die sowjetischen Juristen erklären: „in der sozialistischen Gesellschaft ist das Gemeinschaftseigentum an den Produktionswerkzeugen und Produktionsmitteln mit dem persönlichen Eigentumsrecht der Staatsbürger an Verbrauchsgütern verbunden."

Eine neuere wissenschaftliche Abhandlung über diesen Gegenstand argumentiert folgendermaßen:

„Das sowjetische Recht bestimmt in seinen Verordnungen die Verbrauchsnatur des persönlichen Eigentums, es sieht seinen Zweck in der Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Staatsbürger." „Das persönliche Eigentum, dessen Quelle die Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft ist, hebt sich prinzipiell vom bourgeoisen Privateigentum ab. Persönliches Eigentum, so groß es auch immer sein mag, darf nie zur Grundlage einer Arbeitsausbeutung des Mitmenschen werden. . . . Das erarbeitete Einkommen und die Ersparnisse des sowjetischen Volkes dürfen nur zum Zwecke der Befriedigung seiner materiellen und kulturellen Bedürfnisse benutzt werden." (Genkin, Pravo 1 i c n o j sobstvennosti v SSSR, 1953, S. 13.)

Solche Formulierungen entsprechen aber weder dem tatsächlichen sowjetischen Eigentumsrecht noch werden sie in der Verfassung konsequent ausgeführt. Die Ausarbeiter der Verfassung suchten offensichtlich den Besitz eines sowjetischen Staatsbürgers auf das einzuschränken, was er für seinen persönlichen Verbrauch und Gebrauch nötig hat. Andererseits gibt es Ausnahmen zur „Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln". Artikel 7, Paragraph 2 gestattet einem Bauernhaushalt auf einer Kollektivwirtschaft „. . . persönliches Eigentum eine Nebenwirtschaft auf dem Hofland, ein Wohnhaus, Nutzvieh, Geflügel und landwirtschaftliches Kleininventar — gemäß dem Statut des landwirtschaftlichen Artels (Kollektivwirtschaft)".

Ebenso ist es den Bauern, die nicht Mitglieder von Kollektivwirtschaften sind, und den Handwerkern gestattet, „eine kleine Privatlandwirtschaft auf der Grundlage ihrer persönlichen Arbeit und ohne Anstellung von Lohnarbeitern" zu betreiben. Alle diese kleinen Wirtschaftswesen der Bauern und Handwerker können aber nicht ohne gewisse Produktionsmittel existieren.

c. Vier Arten des persönlichen Eigentums Folglich sind gemäß der Verfassung und anderen Gesetzen vier Arten von persönlichem Eigentum an die Stelle des Privateigentums getreten.

(i) Die erste Art von Eigentum ist allen Staatsbürgern zugänglich; und was immer man als „Produktionsmittel" betrachten kann, ist dieser Art von Eigentum vorenthalten.

Dies besagt nicht, daß an den Gebrauchsgütern ein solches Eigentum ohne Beschränkungen besteht. Jeder Erwerb solcher Güter, der über den persönlichen Bedarf hinausgeht, und besonders jede Aneignung mit der Absicht eines mit noch so mäßigem Profit verbundenen Wiederverkaufes, werden als Spekulationen bezeichnet und haben Gefängnisstrafen von wenigstens fünf Jahren und Beschlagnahme des Besitzes gemäß Artikel 107 des Strafgesetzbuches zur Folge.

(ii) Die zweite Art von persönlichem Eigentum ist jene, die den Mitgliedern einer Kollektivwirtschaft vorbehalten ist.

Diese dürfen kleinere . Produktionswerkzeuge'besitzen, nämlich die zur Bewirtschaftung der jeder Familie zu persönlichem Gebrauch zugeteilten Hof-und Gartenplätze. Doch dürfen Mitglieder der Kollektivwirtschaft in den wichtigsten Ackerbaugegenden keine Pferde besitzen noch irgendwelche anderen Zugtiere; die Anzahl der anderen Tiere darf das vom Statut einer Kollektivwirtschaft vorgeschriebene Maß nicht überschreiten.

(iii) Die dritte Art von Eigentum ist Bauern zugänglich, die nicht Mitglieder von Kollektivwirtschaften sind.

Diese dürfen Pferde besitzen, haben dafür aber hohe Steuern zu bezahlen und sind auch anderen Einschränkungen unterworfen, z. B.

dürfen sie nicht mehr als 100 Ar pro Familie bebauen, und haben höhere Steuern in Geld und Naturalien zu bezahlen als die Kollektiv-bauern. (iv) Die vierte Art persönlichen Eigentums ist diejenige der Handwerker, die gewisse . Produktionsmittel 1 besitzen dürfen, nämlich die zur Ausübung ihres Gewerbes oder Handwerkes benötigten Werkzeuge. Sie dürfen aber keine Lohnarbeiter beschäftigen; die Ausübung zahlreicher Gewerbe ist ihnen untersagt. In der Regel dürfen sie nicht für den allgemeinen Markthandel produzieren, sondern nur für die einzelnen Kunden.

d. Die Unsicherheit des Eigentumsrechts Die Bestimmungen über den Schutz des „persönlichen Eigentums" im Artikel 10 der Verfassung sind unklar und wurden von den Gerichten zum Nachteil des rechtmäßigen Gebrauches und der Verfügung des vom Einzelnen rechtlich erworbenen Besitzes ausgelegt.

Im Jahre 1937 wurde einem gewissen Poljakov der Besitz eines Autos als Prämie für seine Arbeit gewährt. Da dieser es aber später nicht unmittelbar brauchte, vermietete er es im Jahre 1939 für ein Jahr an eine Regierungsagentur bei einer monatlichen Vergütung von 1200 Rubel. Im Jahre 1940 belangte Poljakov diese Agentur gerichtlich wegen Zahlungsrückstand und der Kosten für die üblichen Reparaturen. Die Gerichte niederer Instanz gaben dem Kläger Recht, doch das Oberste Gericht der UdSSR beschloß von Amts wegen die Wiederaufnahme des Falles und beanstandete, daß der Kläger seinen Wagen zum Erwerb eines „unverdienten Einkommens" verwendet hatte, was eindeutig gegen Artikel 10 der Verfassung verstößt. Deshalb verwarf das Oberste Gericht den Entscheid, der zu Gunsten des Klägers lautete, und erklärte den Vertrag des Klägers mit der Agentur für ungültig gemäß Artikel 30 des Zivilgesetzbuches, welcher alle Rechtsgeschäfte, die gegen das Recht verstoßen, das Gesetz umgehen oder zum offenen Nachteil des Staates gereichen, als nichtig erklärt.

Der Artikel 10 der Verfassung, worauf sich das Gericht stützte, verbietet „unverdientes Einkommen" nicht, es zählt bloß Sachgüter auf, deren Besitz durch Privatpersonen vom Gesetz in Schutz genommen ist. Unter diese fallen das „Recht auf persönliches Eigentum der Staatsbürger an verdientem Einkommen und Ersparnissen." Nun sind aber Gewinne aus Regierungsprämien Beispiele unverdienten Einkommens.

In Anwendung von Artikel 147 des Zivilgesetzbuches entschied daher das Oberste Gericht, daß der Erlös aus einem widerrechtlichen Vertrag dem Staate verfällt. Dieser Fall zeigt, daß rechtlich erworbenes Eigentum von seinem Eigentümer nicht nach freiem Ermessen gebraucht werden darf. Der prekäre Schutz des Eigentums ist bei einer solchen Handhabung der Gesetze offensichtlich.

Ein anderes Beispiel jüngeren Datums von der willkürlich verschiebbaren Grenzlinie zwischen erlaubten und verbotenen Rechtsgeschäften ist der Fall eines gewissen Soskin gewesen, der im November 1954 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er ein Auto im Jahre 1951 und ein zweites im Jahre 1952 zu höheren Preisen als die der staatlichen Vertriebagenturen verkauft hatte, obwohl kein Gesetz besteht, das die Automobilpreise festsetzt.

Nur staatlicher Besitz genießt eine Rechtsstellung ähnlich jener, die wir unbeschränktes Eigentum nennen. Alle anderen Arten von Eigentum sind, vom Standpunkt eines nicht-sowjetischen Juristen aus als verschiedene Stufen oder Arten von beschränktem Privateigentum zu betrachten. Die Grenzlinie zwischen diesen beschränkten Eigentumsarten ist verschwommen und willkürlicher Auslegung preisgegeben. Was ist z. B. eine Kuh? Ist sie ein Verbrauchsartikel oder ein Produktionsmittel? Begriffe wie Verbrauchsgüter und Produktionsmittel sind wirtschaftliche Kategorien, die zur Rechtsausübung untauglich sind. Außerdem umfassen sie nicht in erschöpfender Weise alle Arten von wirtschaftlichen Gütern. Als eine Sondergruppe sind die Transportmittel zu betrachten; doch gibt das sowjetische Recht keine Bestimmungen darüber, wozu diese zu rechnen sind (z. B. ein Fahrrad, Auto etc.). Die Verwendung wirtschaftlicher Kategorien im Sowjet-recht wirft nur zahlreiche Fragen auf, auf die keine juristische Antwort gegeben werden kann.

Die Vorzugsstellung des staatlichen Eigentums kommt auch in den Strafgesetzen vom 4. VI. 1947 zum Ausdruck.

Während Diebstahl an Privateigentum mit Freiheitsstrafe in einem Zwangsarbeitslager von fünf bis sechs Jahren und bei einer Wiederholung zu sechs bis zehn Jahren bestraft wird, werden nicht nur Diebstahl, sondern auch „Unterschlagung, Veruntreuung und jede Art von Diebstahl" von Staatseigentum mit sieben bis zehn und von zehn bis zu fünfundzwanzig Jahren bestraft.

§ 9. ANDERE RECHTE Die Verfassung von 1936 enthält ein Kapitel über die „Grundrechte und Grundpflichten der Bürger"; aber sie ist weit davon entfernt eine Grundrechte-Erklärung (Bill of Rights) zu sein. Jeder Rechtssatz ist mit einer einschränkenden Klausel verkoppelt, welche die Rechtswirksamkeit des Rechtssatzes vereitelt.

Zum Beispiel beginnt Artikel 127 mit einer sehr weitherzig gefaßten Rechtsnorm; „Niemand kann anders als auf Gerichtsbeschluß . . . verhaftet werden". Aber der Nachsatz erlaubt eine Verhaftung, sofern nur die Genehmigung des Staatsanwaltes vorliegt. Der erste Teil der Formulierung kann somit ebensogut wegfallen, da es ja nur der Billigung des Staatsanwaltes bedarf, um zur Verhaftung zu schreiten.

„Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Freiheit von Straßenumzügen und Demonstrationen" sind als gesichert betrachtet, indem „. . . die Druckereien, Papiervorräte, öffentlichen Gebäude, Straßen, das Post-und Fernmeldewesen und andere materielle Bedingungen, die zu ihrer Ausübung notwendig sind, zur Verfügung gestellt werden". (Art. 125.) Da aber die Sowjetregierung und die Kommunistische Partei als die maßgebenden Repräsentanten der Werktätigen und als der leitende Kern ihrer Organisationen in den Augen der Sowjetbürger zu gelten haben, legt der Rechtssatz dieser Freiheiten die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung tatsächlich in die Hände der Regierung und einer einzigen ausschließlichen Gruppe. Das sowjetische Gesetz von 1932 über die Druckereien, welches immer noch in Kraft ist, bestimmt noch deutlicher, daß Druckereien’ (einschließlich Vervielfältigungsgeräte) wie auch der Handel mit Druckereieinrichtungen „nur von Regierungsorganen, Genossenschaften und öffentlichen Organisationen eröffnet werden dürfen". Selbst ein Regierungsorgan bedarf für die Anschaffung einer Vervielfältigungs-oder Drukkereieinrichtung einer besonderen polizeilichen Bewilligung.

Werke, die im Druck erscheinen, werden zweimal der Zensur unterworfen, nämlich vor und nach der Drucklegung. Der Zweck der Zensur besteht in der Verwirklichung der „ideologischen Führung", d. h. nicht nur antisowjetisches Gedankengut auszumerzen, sondern in erster Linie nur jenen Werken die Veröffentlichung zu gestatten, die zur Regierungspolitik des Tages unmittelbar beitragen. Die Hauptrichtlinien der Politik sind größtenteils in den Beschlüssen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gegeben.

Das Recht auf Arbeit ist ebenfalls festgelegt; aber es wird offensichtlich eher in einem wirtschaftlichen denn in einem rechtlichen Zusammenhang aufgefaßt; seine Garantie wird in der allgemeinen wirtschaftlichen Organisation der Sowjetunion gesehen (Art. 118). Das Recht auf Ruhe und Muße wird durch die Verkürzung des Arbeitstages auf sieben Stunden und durch die alljährlichen Ferien bei vollem Arbeitslohn für besoldete Arbeitnehmer und Lohnempfänger als gesichert betrachtet (Art. 119). Doch durch den Beschluß des Präsidiums vom 26. VI. 1940 wurde der Normalarbeitstag auf acht Stunden abgeändert; und der großen Masse der Kollektivfarmer, die nicht Arbeitnehmer sind, kommt die Wohltat der Ferien nicht zu. Ebenso bezieht sich das „Recht auf Altersunterstützung und im Falle von Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit" auf Kosten des Staates nur auf Arbeitnehmer (Art. 120). Die soziale Sicherung der Kollektivfarmer, welche den Großteil der Bevölkerung ausmachen, ist den Farmen selbst überlassen. Dies gilt auch vom neuen Pensionsgesetz, das im Jahre 1956 in Kraft trat.

C Das Obligationenrecht

§ 10. DER VERTRAG IN DER SOZIALISTISCHEN WIRTSCHAFT In den nichtsowjetischen Ländern ist das Obligationenrecht der rechtliche Ausdruck der wirtschaftlichen Freiheit und Rechtsgleichheit der Vertragsparteien. Diese Prinzipien durchdringen das gesamte System von Bestimmungen, die unter dem Namen Obligationenrecht bekannt sind.

Für das sowjetische Obligationenrecht sind zwei sich widersprechende Tendenzen bezeichnend. Einerseits bestehen die staatliche Kontrolle über die privaten Rechtsgeschäfte und die fast unbegrenzten Möglichkeiten der Regierung einer direkten Einmischung in dieselben. Andererseits besteht der Sinn des Vertrages als eines Über-einkommens, das die Beziehungen zwischen Geschäftseinheiten regelt, in der Stimulierung der Initiative und der Konkurrenzkraft der staatlichen Unternehmungen, und dies ungeachtet der Tatsache, daß die Regierung dabei der alleinige Herr über alle vertragschließenden Parteien ist.

In der Frühepoche des Sowjetregimes galt dies noch nicht. Erst mit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) räumte man in der sowjetischen Wirtschaft der Privatinitiative einen beschränkten Spielraum ein; ein sowjetisches Obligationenrecht wurde eingeführt und zwei Teile der sowjetischen Gesetzbücher waren diesem gewidmet.

Im großen und ganzen stellt es einen Auszug aus den westeuropäischen Vorbildern dar, jedoch wurden mehrere Bestimmungen eingeführt, welche die privaten Rechtsgeschäfte zwischen Einzelnen unter die staatliche Kontrolle brachten und für eine direkte oder indirekte Einmischung der Regierung in dieselben Gewähr leisteten.

Die Verfasser des Gesetzbuches wurden von Lenin angewiesen, die „Einflußsphäre des Staates in die , privatrechtlichen'Beziehungen sowie das Recht der Regierung, Privatverträge nötigenfalls zu annullieren, auszudehnen." (Lenin, Socinenija, 2. A., Bd. 29, S. 419.)

Dieses Element der staatlichen Kontrolle kam noch stärker zur Geltung, als das Land mit dem Fünfjahresplan und der Verfassung von 1936 angeblich den Weg des Sozialismus beschritten hatte.

Die staatlichen handeltreibenden Unternehmungen bewegen sich auf einer „kommerziellen Basis" (chozjajstvennyj r a z s c e t); sie haben dabei Profite zu erzielen oder autark zu sein (sofern so geplant) und genießen eine formelle Unabhängigkeit. Unter sich und mit privaten Parteien treten sie in Vertragsverhältnisse, und es wird vorausgesetzt, daß sie mit der Konkurrenzenergie eines Privatunternehmens handeln (das Prinzip des „sozialistischen Wettbewerbs"). Somit wurde den einzelnen staatlichen Geschäftsorganen eine gewisse, wenn auch durch die allumfassende Planwirtschaft eng begrenzte Autonomie zugestanden.

§ 11. UNGÜLTIGKEIT DER VERTRÄGE Ein Vertrag ist ungültig nicht nur wenn dieser „gegen das Gesetz verstößt oder in Umgehung des Gesetzes geschlossen wurde", sondern auch „bei offenbarer Schädigung des Staates" (Artikel 30).

In solchen Fällen „kann keine der vertragschließenden Parteien die andere schadenersatzpflichtig machen, wie sie es laut Vertrag fordern könnte". „Ungerechtfertigte Bereicherung verfällt dem Staate“

(Art. 147).

Obwohl diese Rechtsnormen gleichsam als Wachttürme über private Rechtsgeschäfte (welche die Politik des sozialistischen Staates vereiteln könnten) aufgestellt waren, zeigten sie sich seit 1939 in einem neuen Lichte als Maßnahmen für eine wirksame Kontrolle über die staatlichen Unternehmungen. Das Oberste Gericht entschied nämlich am 16. VII. 1939, daß diese Rechtsnormen auch „für Rechtsgeschäfte", woran sich staatliche oder öffentliche Institutionen oder Organisationen als vertragschließende Parteien beteiligen, verbindlich sind".

So erwiesen sich Rechtsnormen, die ursprünglich diese als Kontrolle über private Verträge gedacht waren, als Kontrollmaßnahmen der zentralen Regierung über ihre eigenen Organe.

§ 12. VERTRAG GEGEN PLANWIRTSCHAFT In der Folge des Fünfjahresplanes wurden die gesamte Industrie und der gesamte Handel der Sowjetunion in die Hände des Staates gelegt und mittels einer zentralisierten Planung von der Regierung gelenkt. Doch die gegenseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Regierungsbetrieben waren durch Verträge geregelt. Zahlreiche sowjetische Juristen waren der Ansicht, es mit zwei verschiedenen Obligationenrechten zu tun zu haben: das eine auf der Grundlage des Zivilgesetzes für die einzelnen Staatsbürger, das andere für die staatlichen Unternehmungen, die sich der Verträge als Mittel zur Erfüllung des Wirtschaftsplanes bedienten.

Diese Zweiteilung wurde jedoch verurteilt, da sie die Einheit des sozialistischen Rechtssystems zerstöre. Nichtsdestoweniger bleibt diese Dualität im sowjetischen Obligationenrecht offensichtlich; die zwischen staatlichen Unternehmungen geschlossenen Verträge unterscheiden sich in vielen Punkten von den zwischen Einzelnen oder im Außenhandel eingegangenen, welche letztere beide durch das Zivilgesetzbuch geregelt sind.

Eine neuere Abhandlung über das Zivilgesetz gibt offen zu, daß der Vertrag als eine Übereinkunft über Begründung, Veränderung und Untergang von Rechtsverhältnissen „nicht die spezifischen Eigenschaften des sowjetischen Vertrags aufweist."

Die rechtliche Form eines zwischen sozialistischen Organisationen geschlossenen Vertrages zeigt wesentliche und spezifische Merkmale.

Wenn sich die Parteien bei der Vertragschließung über einzelne Punkte nicht einigen können, dann werden solche Meinungsverschiedenheiten durch staatliche Schlichtung mittels eines vorvertraglichen Streitverfahrens (vorvertragliche Schlichtung) beigelegt. In vielen Fällen hängt es nicht von der Willensäußerung der Parteien ab, ob ein Vertrag zwischen gegebenen Parteien geschlossen wird oder nicht; die Parteien sind verpflichtet, Verträge einzugehen.

Bei Abschluß von Verträgen haben die sozialistischen Organisationen besondere Disziplin und Findigkeit an den Tag zu legen, etc. . . .

Diese plangemäßen Verträge der sozialistischen Unternehmungen stellen die Verwirklichung der den Vertragsparteien zugewiesenen planmäßigen Aufgaben dar. Der sowjetische Vertrag ist eine Form Zusammenknüpfung der und einzelnen Verbindung der sozialistischen Unternehmungen zu bestmöglichen Erfüllung des allgemeinen sozialistischen Planes. Diese Aufgabe — die Ausführung des nationalen Wirtschaftsplanes — geschieht ebensogut im Interesse beider Parteien.

(Sovetskoje grazdanskojepravo, Bd. I, 1950, S. 395, 269.)

Streitfälle zwischen staatlichen handeltreibenden Unternehmungen sind nicht dem Gericht unterworfen, sondern werden von besonderen Beamten, sogenannten Schiedsrichtern, geschlichtet. Diese sind den Ministerien zugeteilt, und der Hauptschiedsrichter des staatlichen Schlichtungswesen gehört dem Ministerrat an. Die Partei, welche gewisse Waren zu verkaufen oder zu liefern verpflichtet ist, entwirft eine erste Fassung des Vertrages und übermittelt sie der anderen Partei.

Ist diese mit dem Vertrag nicht einverstanden, dann hat sie die umstrittenen Punkte schriftlich zu fixieren, die hernach vom Schiedsrichter geregelt werden. Dieses Verfahren wird vorvertraglicher Streit oder vorvertragliche Schlichtung genannt (ebd., S. 297 ff.).

Diese Unschlüssigkeiten spiegeln die Tatsache wider, daß die sowjetischen Geschäftsunternehmungen bürokratische Organe sind. Ihre Verträge sind Scheinverträge und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit ist eine fiktive.

D. Erbrecht Ehe und Ehescheidung

§ 13. DAS ERBRECHT Die sowjetische Rechtstheorie hat hinsichtlich des Erbrechtes erstaunliche Schwenkungen vollzogen. Ursprünglich war das Erbrecht abgeschafft. Hernach wurde es in beschränktem Ausmaß als eine Konzession an das kapitalistische Recht und als eine „private Form oder Ersatz für soziale Sicherung" (die jedoch mit Beginn des Sozialismus verschwinden sollte) wiedereingeführt. Aber mit dem durch die Verfassung von 1936 markierten Beginn des Sozialismus traten keine Anzeichen einer Beseitigung des Erbrechtes in Erscheinung. Im Gegenteil, die Erbfolgerechte wurde erweitert.

Jedenfalls wird in Sowjetrußland nicht mehr länger eine wirtschaftliche Nivellierung angestrebt. Hohe Gehälter, Gratifikationen und Prämien für Staatsbeamte, Direktoren, Wissenschaftler, Künstler u. a. erlauben eine beachtliche Eigentumsanhäufung. Erst die Zukunft wird zeigen, was mit diesem im Verlauf von zwei oder drei Generationen vererbten und vermehrten Kapital geschehen wird.

Seit der Zeit des Kommunistischen Manifestes von 1848 war die Abschaffung des Erwerbs von Erbschaften ein Eckpfeiler des kommunistischen Programms gewesen. Bereits am 27. IV. 1918 trat ein Dekret „Betreffend Beseitigung des Erbrechtes" in Kraft (Gesetze der RSFSR 1917— 18, Text 456). Aber schon damals wurden gewisse Ausnahmen gemacht. Flausgeräte unter 10 000 Goldrubel Wert „gingen zur unmittelbaren Verwaltung und Verfügung" an die nächsten Verwandten über. Auch von größeren Nachlässen konnten solche Verwandte eine zum Unterhalt notwendige Summe erhalten, „bis ein Dekret über eine universale soziale Sicherung ausgegeben wird". Eine weitere Ausnahme wurde am 21. V. 1919 für die Besitztümer eines Bauernhaushaltes gemacht, die im Besitz und zur Nutznießung des überlebenden Ehegatten oder anderer Mitglieder des Anwesens blieben, ungeachtet des Wertes desselben (ebd., Text 242).

Im Jahre 1926 wurde die Beseitigung der 10 000-Rubel-Beschränkung der Erbschaft offiziell mit der Absicht begründet, die kontinuierliche Existenz des privaten Unternehmens zu sichern; doch in den Jahren 1938 und 1944 wurde die Abschaffung gerade dieses privaten Unternehmens als Grund für die weitere Ausdehnung des Erbrechts als einer wohl-begründete Institution des sowjetischen sozialistischen Rechtes anqeführt. J Die heutige Beweisführung der sowjetischen Juristen geht dahin, daß das Erbrecht „den Schutz des persönlichen Besitzes der Werk tätigen iördert, die Arbeitsproduktivität fördert, die sowjetische Familie stärkt und die Beziehungen der Staatsbürger der UdSSR mit der sozialistischen Gesellschaft enger gestaltet" (Agarkov und andere, Grazdanskoj e pravo, ucebnik, II, 1944, S. 277). Die früheren Rechtstheorien betrachtet man als umstürzlerisch. Ferner folgern sie, daß das Ausbleiben eines gesetzmäßigen Zuganges zu produktiver Investierung die Möglichkeit eines Wiederauflebens des Privatunternehmens und des Kapitalismus verhindern wird.

§ 14. EHE UND EHESCHEIDUNG In den ersten Jahren wich das sowjetische Recht vom traditionellen Familienbegriff radikal ab. Nach dem „Sieg des Sozialismus" kehrte es jedoch wieder zu strengeren Auffassungen des Familienlebens und der öffentlichen Moral zurück. Vom Prinzip der Staatseinmischung in Familienangelegenheiten aber wurde nie abgegangen. Im Anfangsstadium suchte das Sowjetrecht die Familienbande zu lösen, während jetzt die staatliche Einmischung nicht weniger wirksam in die entgegengesetzte Richtung zielt.

Ehe und Ehescheidung gehörten zu jenen Institutionen, die zuerst von den frühen sowjetischen revolutionären Dekreten aufs Korn genommen wurden. Im Dezember 1917 wurde die Ehescheidung bei Einverständnis der Ehegatten oder auch schon auf einseitigen Wunsch eines Ehegatten gestattet, ohne daß hierbei Gründe angegeben werden mußten (Brandenburskij, Semejnoje, brachnoje i opekunskoje pravo, 1927, S. 19). Die Zivilehe trat an die Stelle der kirchlichen Trauung, die unter dem russischen vorsowjetischen Recht die vorherrschende Eheschließungsform war. „Eine auflösbare Ehe und nicht eine lebenslange Vereinigung war das erste Prinzip der neuen Gesetzgebung." Die nachfolgenden Staatsgesetze, Statuten und besonders das Familiengesetzbuch von 1926 zeigen ein radikales Abweichen vom traditionellen Familienbegriff. „Die Geburt allein soll die Basis der Familie sein; es darf kein Unterschied im Verwandtschaftsverhältnis zwischen ehelicher oder außerehelicher Geburt gemacht werden", erklärte das Gesetz über die Personalstandsurkunden von 1918 (S o -

branije . . . 1917 — 1918, Statja 818, Art. 133). Ein sowjetischer Professor erklärte dazu, daß „Familienverwandtschaft oder Blutsverwandtschaft nicht auf die Ehe, sondern auf die Geburt gegründet ist"

(Brandenburkskij, S. 19).

Das Gesetzbuch von 1926 schrieb vor, daß die Eheschließung beim Zivilstandsbeamten angemeldet werde; doch hatte eine solche Registrierung nur den „sicheren Beweis von der Existenz des Ehestandes zu liefern". Das Gesetzbuch wies die Gerichte an, welche „Beweise ehelichen Zusammenlebens, im Falle daß die Ehe nicht registriert war" hinlänglich waren, um eine de facto bestehende Naturehe rechtsgültig zu erklären (Art, 11; 12). Außerdem sollen „Personen, die im Zustand einer de facto nicht registrierten ehelichen 'Verbindung leben, ermächtigt werden, ihren Stand jedeizeit zu legalisieren, indem die Dauer des tatsächlichen ehelichen Zusammenlebens festgestellt wird" (Art. 3). Die de facto bestehende Naturehe war eine stillschweigende Anerkennung der kirchlichen Ehe, der aber keine rechtsverbindliche Kraft verliehen war. War mit der kirchlichen Eheschließung die tatsächliche eheliche Gemeinschaft und ein Familienleben gegeben, so erhielt sie den Charakter einer staatlicherseits de facto anerkannten Ehe mit allen RechtsWirkungen, die ersterer offiziell abgesprochen waren.

Die sowjetische Ehescheidung — laut Gesetzbuch von 1926 — wies nicht weniger auffallende Züge auf als die sowjetische Ehe. Beide Ehegatten genossen vollständige Freiheit der Ehelösung durch Scheidung, ohne hierfür Scheidungsgründe vorlegen zu müssen (Art. 18, wie er vor 1944 in Kraft war). Die Ehescheidung konnte einverständlich oder auf einseitigen Wunsch eines Ehegatten erfolgen. Der andere Ehegatte wurde vorgeladen, aber im Falle seines Nichterscheinens wurde die Beurkundung der Scheidung vollzogen, wobei er kein Recht besaß, sich der Trennung zu widersetzen. Die Ehescheidung war eine rein förmliche Bestätigung der tatsächlichen Auflösung der ehelichen Gemeinschaft. Die entgegengesetzte Richtung nahm ihren Anfang um das Jahr 1935 und erreichte den Höhepunkt im Jahre 1945 mit der vollkommenen Bejahung der Familie gemäß den traditionellen Auffassungen. Sie ging sogar weiter als in vielen Ländern, wo nur die Zivilehe anerkannt wird. Die offizielle Zeitschrift des Generalstaatsanwalts schrieb:

„Grundlegend und nach dem Geiste des sowjetischen Rechtes ist die Ehe im Prinzip wesentlich eine lebenslängliche Vereinigung (und) . . . wenn die Ehegatten das höchste Glück der Mutter-und Vaterschaft erfahren" (Bosko, Ponjatije braka v sovetskom socialisticeskom prave, Socialisticeskaja Zakonnost, 1938, Nr. 2, S. 55 f.).

Seit dem 8. VII. 1944 wurde nur einer beim Standesbeamten angemeldeten Eheschließung Rechtsgültigkeit zuerkannt. Die nach dem 8. VII. 1944 außerhalb einer solchen Zivilehe geborenen Kinder besitzen keine Erbfolgerechte auf die väterlichen Erbgüter und dürfen keinen Anspruch auf den Namen des Vaters erheben. Auch sind solche Väter für den Unterhalt von außerhalb der Zivilehe geborenen Kindern nicht verantwortlich. Die Mütter solcher Kinder erhalten eine staatliche Unterstützung in einem festen Betrag. Die rechtliche Stellung ist als Unehelichkeit (Bastardschaft) gekennzeichnet, obwohl dieser Ausdruck nicht verwendet wird.

Nicht weniger radikal war die Wendung auf dem Gebiete der Ehescheidung. Die Scheidungsgründe sind im Gesetz nicht einzeln aufgeführt, sondern dem Ermessen des Gerichtes überlassen. Und dies trotz der Tatsache, daß Lenin seinerzeit schrieb: „Es ist unmöglich, ein Demokrat und Sozialist zu sein ohne gleichzeitig die vollständige Ehescheidungsfreiheit zu fordern, weil das Fehlen einer solchen Freiheit die äußerste Unterdrückung des unterworfenen Geschlechtes, der Frau ... bedeutet" (S o c i n e n i j a , 2. A., Bd. 19, S. 232).

Die Scheidungsverfahren sind kompliziert und kostspielig. Jeder Fall wird nacheinander von einem Gericht niederer und höherer Instanz untersucht. Die Direktive des Obersten Gerichtes der UdSSR wies die Gerichte an, daß die Ehescheidung nur da ausgesprochen werden darf, wo eine „Weiterführung der ehelichen Gemeinschaft gegen die kommurdstische Moral verstößt und wo keine normalen Bedingungen für die Lebensgemeinschaft und die Erziehung der Kinder vorhanden sind". (Postanovlenije plenuma verchovnogo suda SSSR ot 16 sentjabrja 1949 goda Nr. 12/8/9, St. 1, Sudebnaja Praktika, 1949, Nr. 2, S. 1.)

E. Strafrecht

§ 15. DER ALLGEMEINE CHARAKTER DES STRAFGESETZES In Übereinstimmung mit der kommunistischen Auffassung des Rechtes als eines Instrumentes des Klassenkampfes häufen sich im sowjetischen Strafgesetzbuch unbestimmte Begriffe und elastische Klauseln und gewähren so einer freien Auslegung und der Willkür Spielraum. Diese wurden mit den aus zaristischen und westlichen Gesetzbüchern übernommenen Rechtssätzen, die dem Schutze des Einzelnen galten, in Zusammenhang gebracht, eine Tatsache, die einen oberflächlichen Leser nicht über die wirkliche Natur des sowjetischen Strafrechtes hinwegtäuschen darf.

„Die Gerichte", sagte Lenin, „sollen den Terrorismus nicht beseitigen;

so etwas zu versprechen, hieße uns selbst und die andern betrügen".

Lenin betrachtete diese Aussage „als eine freimütige und fundamentale, eine Aussage, die politisch wahr und nicht juristisch engherzig ist“

(Socinenija, 3. A., Bd. 27, S. 296). Ähnlich schrieb Krylenko, ein seinerzeit bekannter Staatsanwalt, daß „das Gericht bis zu einem gewissen Grad ein der Tscheka ähnliches Instrument des Terrorismus sein muß" (Lenin i Sud, Moskva, 1934, S. 111). Noch 1936 erklärte Andrei Vysinskij: „Die OGPU und die Gerichte stellen verschiedenartige Formen des Klassenkampfes der proletarischen Diktatur dar"

(Vysinskij und Undrevic, Kurs ugolovnogo processa, tom I, Sudoustrojstvo, 2. A., 1936, S. 28 f.)

Nachdem man eingesehen hatte, daß solche Bestimmungen keine gute Propaganda entwickelten, sprechen die neueren Gesetze von einer zusätzlichen Aufgabe des sowjetischen Strafgerichtes. Das Gerichtsverfassungsgesetz (Art. 3) vom Jahre 1938 erklärt, daß „das 'sowjetische Gericht bei der Anwendung von Strafmaßnahmen nicht nur den Vergeltungszweck, sondern auch die Besserung und Erziehung der Missetäter berücksichtigen soll". Dies ergibt sich auch aus der sowjetischen Strafterminologie, wenn z. B. das sowjetische Äquivalent zu Zwangsarbeit oder Zuchthaus „Besserungsarbeit" oder „Besserungsarbeitslager" genannt wird.

Dem Beispiel des legislativen Einteilungsschemas der modernen Gesetzbücher folgend, enthält das sowjetische Strafgesetzbuch einen allgemeinen Teil, der die prinzipiellen Bestimmungen und Rechtssätze über Verbrechen und Strafbarkeit behandelt, und einen besonderen Teil (Art. 58 und folgende), worin die Tatbestände, Einzelverbrechen und Strafmaßnahmen definiert werden. Aber hier im zweiten Teil hört die Ähnlichkeit mit den nicht-sowjetischen Gesetzbüchern auf.

a. Die sozial gefährliche Handlung Obwohl im allgemeinen der Standpunkt der sozialen Gefährlichkeit einer strafbaren Handlung nicht an die Stelle des Schuldprinzips („Keine Strafe ohne Schuld") trat, so kommt einer solchen Gefährdung doch eine große Bedeutung in der Strafzumessung zu. In den allgemeinen Bestimmungen (Art. 45) betont das Strafgesetzbuch die Notwendigkeit,'die „soziale Gefährlichkeit eines Deliktes" in Betracht zu ziehen. Auch im Zusammenhang mit den strafverschärfenden Umständen ist dieselbe ebenfalls unterstrichen. „Die in jedem Einzelfall zu entscheidende grundlegende Frage ist die nach der sozialen Gefährlichkeit des zu beurteilenden Verbrechens" (Art. 47).

Der Ausdruck „sozial gefährliche Handlung" wird abwechselnd mit dem Ausdruck „Verbrechen" gebraucht und der Ausdruck „Maßnahme der sozialen Verteidigung" mit „Strafe". Das Verbrechen wird als „eine sozial gefährliche Handlung" (Art. 1) aufgefaßt, d. h. sofern „diese gegen das Sowjetregime gerichtet ist oder die von der Arbeiter-und Bauernregierung für die Übergangsperiode zu einer kommunistischen Herrschaft aufgestellte Rechtsordnung verletzt" (Art. 6).

b. Die Analogieanwendung im Strafgesetz Entgegen dem westlichen Grundsatz, wonach nur strafbar ist, wer eine Tat begeht, die das Gesetz zur Zeit der Begehung ausdrücklich mit Strafe bedroht („Keine Strafe ohne Gesetz"), empfiehlt das sowjetische Strafgesetzbuch ausdrücklich eine weitgehende (extensive) Auslegung der Strafrechtsakte und Anwendung der Analogie (kein Analogieverbot). „Art. 16. Wenn die eine oder die andere sozialgefährliche Handlung in diesem Gesetzbuch nicht ausdrücklich vorgesehen ist, so bestimmen sich Grund und Umfang der Verantwortlichkeit dafür nach den Artikeln dieses Gesetzbuches, die ihrer Art nach am meisten ähnliche Verbrechen vorsehen." (Strafgesetzbuch der RSFSR, übers, v. Dr. W. Gallen, 1953).

Somit kann nach dem sowjetischen Strafgesetzbuch jemand gerichtlich bestraft werden für eine Handlung, die im Strafgesetz nicht ausdrücklich als Straftat bezeichnet ist, und umgekehrt jemand für eine im Gesetz eindeutig als Straftat angeführte Handlung nicht bestraft werden, wenn diese nicht weiter „sozial gefährlich" erscheint (ebd. Art. 6, Anmerkung).

Nach dem Tode Stalins wurde das Analogieprinzip sehr umstritten; doch gelangten die sowjetischen Juristen zu keiner übereinstimmenden Lehrmeinung. Es ist zu beachten, daß nicht allein der Grundsatz der Analogieanwendung die richterliche Willkür begünstigt. Schon die einzelnen Delikte sind im sowjetischen Strafgesetzbuch nicht genau definiert, sondern lose und in großen Umrissen, wodurch die Rechtsanwendung auch ohne Analogie eine willkürliche bleibt. Dies gilt fast von allen Definitionen im Strafgesetzbuch. Außerdem liegen für zwei Arten von Delikten, nämlich für konterrevolutionäre Verbrechen und Verbrechen gegen die Staatsverwaltung einheitliche Gruppendefinitionen zusätzlich zu den Definitionen der zahlreichen Einzelverbrechen vor.

c. Die Staatsverbrechen Der Begriff solcher in vierzehn Einzelparagraphen geregelter Verbrechen ist umfassender als der Begriff des „politischen Verbrechens" in anderen Ländern. Jede Definition verwendet dabei sehr weitgefaßte Ausdrücke, aber zusätzlich ist eine „Gattungs" -Definition eines konterrevolutionären Verbrechens gegeben (Art. 58). Sie umfaßt u. a. jede Handlung, die eine Schwächung „der Autorität des Sowjet-regimes" oder „der grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und nationalen Errungenschaften der proletarischen Revolution beabsichtigt". Folglich ist jede Handlung, die als eine „absichtliche Schwächung" dieser unbestimmten Dinge ausgelegt werden kann, strafbar, auch wenn sie nicht unter die Definition eines der vierzehn besonders erwähnten konterrevolutionären Verbrechen fällt. Für alle diese Verbrechen ist die Todesstrafe vorgesehen.

Es besteht eine ähnliche Gruppendefinition für besonders gefährliche Verbrechen gegen die Verwaltungsordnung, von denen zwölf mit Todesstrafe bestraft werden.

d. Die Todesstrafe Die Todesstrafe ist für 70 einzelne, in den 47 Artikeln des Strafgesetzbuches definierten Verbrechen vorgesehen, und in 32 Fällen kommt sie als regelmäßige Strafe in Betracht. Die Todesstrafe wurde in der Sowjetunion mehrmals abgeschafft, aber immer wieder nach kurzer Zwischenzeit neu eingeführt. Das letzte Mal wurde sie am 26. V. 1947 abgeschafft; am 12. I. 1950 wurde sie wieder eingeführt gegen „Landesverräter, Spione (und) umstürzlerische Aufrührer", ohne genaue Definition dieser Verbrechen, so daß es dem Gericht überlassen ist zu entscheiden, in welcher der 70 Fälle des Strafgesetz-buches diese zur Anwendung kommt.

e. Behandlung der Minderjährigen Gegenwärtig behandelt das sowjetische Strafrecht den jugendlichen Missetäter fast gleich wie den Erwachsenen.

Die erste Fassung des sowjetischen Strafgesetzbuches bestimmte, daß Jugendliche unter 16 Jahren den gesetzlich vorgesehenen Strafsanktionen nicht unterworfen waren. Straffällige Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren wurden in erster Linie mit Erziehungsmaßregeln behandelt. Doch das Gesetz vom 7. IV. 1935 änderte das Strafgesetz dahin ab, daß „Minderjährige, die das zwölfte Lebensjahr vollendet haben und des Diebstahls, Gewalttätigkeiten, der Körperverletzung, Verstümmelung, des Mordes oder Mordversuches überführt sind, von Strafgerichten verurteilt werden sollen, die über sie alle Arten von auf Erwachsene anwendbaren Strafen verhängen" können, einschließlich der Todesstrafe. Im Jahre 1946 wurde diese Gesetzesverordnung auf Minderjährige ausgedehnt, welche solche Delikte aus reiner Fahrlässigkeit ohne Vorsatz begingen. Im Jahre 1940 erstreckte sich dieselbe Verordnung auf Minderjährige, welche Handlungen verüben, die den Eisenbahnverkehr gefährden wie z. B. Lockerung von Schienen, Auflegen harter Gegenstände auf Eisenbahnschienen. Für all diese Straftaten verordnete das Gesetz von 1941, daß Minderjährige von 14 und mehr Jahren den ordentlichen Strafverfahren, Verfolgungszwang etc. unterworfen sind.

Die Errichtung besonderer Erziehungsanstalten für Minderjährige von 11 bis 16 Jahren wurde am 15. VI. 1943 angeordnet, für verwahrloste Jugendliche, die Diebstähle oder andere kleinere Vergehen verübt hatten. Ihre Einweisung in Anstalten erfolgte auf Anordnung der Organe des Innenministeriums ohne gerichtliches Verfahren. (U g o 1 o vn o j e pravo. Obscaja cast. Moskva 1943, S. 137.)

f. Bestrafung unschuldiger Personen (Geiseln)

Das sowjetische Strafrecht sieht ausdrücklich die Bestrafung von gänzlich unschuldigen Personen — Geiseln — vor. Wenn z. B. jemand der beim Militär dient, ins Ausland flüchtet, so werden —sogar in Friedenszeiten — die erwachsenen Angehörigen seiner Familie oder Leute, die von ihm unterstützt werden mit fünf Jahren Verbannung nach den entlegensten Gebieten Sibiriens bestraft, selbst wenn diese von den Plänen des Fahnenflüchtigen nichts wußten.

§ 16. WIRTSCHAFTSVERBRECHEN Der sowjetische Staat ist der ausschließliche Herr aller Produktiv-kräfte und somit der gesamten Wirtschaft des Landes — oder wenigstens will er es sein. Dies bewirkt, daß die privaten Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich in ein öffentliches Verhältnis von Souverän zu Untergebenem umänderten. Die gesamte Wirtschaft stellt ein öffentliches Unternehmen dar, das mit der Vollmacht offizieller Staatsautorität betrieben wird. Das sowjetische Recht ver-bietet unter schwerer Strafandrohung zahlreiche Rechtsgeschäfte und Handlungen, die in nicht-sowjetischen Staaten als ganz rechtmäßig betrachtet werden. Daraus ergibt sich eine Reihe Verbrechen, die im fachtechnischen Sinne unpolitische Vergehen sind, denen das nach unserem Standpunkt notwendige Element der Rechtswidrigkeit fehlt, die aber nach kommunistischer Auffassung die sozialistische Ordnung gefährden.

Das sowjetische Strafgesetzbuch sieht schwere Strafen vor für „Herstellung, Aufspeicherung, Ankauf zum Wiederverkauf, sowie auch Umsatz“ von Gütern, deren Handel eingeschränkt ist (Art. 99, Strafgesetzbuch der RSFSR). Ebenso verbietet es Privatpersonen gewinnabwersenden (mag dieser noch so gering sein) Aufkauf und Wiederverkauf von praktisch allen Arten von Gütern (gemäß den neuesten Auslegungen; Art. 107).

Zu diesen sogenannten Wirtschaftsverbrechen sind auch folgende zu rechnen: Nichterfüllung der mit dem Staate geschlossenen Verträge (Art. 130, 131); Verletzung des Staatsmonopols für Außenhandel (Art. 59); Versagen in den Dienstleistungen oder Ablieferungen von Erzeugnissen an den Staat (Art. 61); Private Rechtsgeschäfte betreffend Grund und Boden (Art. 87 a); Nachlässige Betriebsführung (Art. 128, 129); Verwendung falscher Gewichte und Maße (Art. 128b); Versuche eines privaten Geschäftsbetriebes unter der Tarnung eines genossenschaftlichen Unternehmens (Art. 129 a). In Fällen von Veruntreuung und Diebstahl ist die Verantwortung größer, wenn es sich um Staats-eigentum handelt, als bei gleichen Vergehen an Privatbesitz (Verordnung vom 4. VI. 1947, Vedomosti, 1947, Nr. 19).

Zur selben Gruppe wirtschaftlicher Verbrechen gehören ferner: Ab-schlachtung eigener Pferde oder anderen Viehstandes, nachlässige Behandlung von Maschinen und Tieren in Kollektivwirtschaften, Sowjet-wirtschaften und Maschinen-Traktoren-Stationen (Art. 79 1, 792 und 79 4).

Eine Änderung in dieser Hinsicht wurde nach Stalins Tod nicht versprochen. Diesbezügliche Gerichtsprozesse, soweit sie überhaupt öffentlich bekannt geworden sind, zeigten unerbittliche Strenge in den Urteilen.

In Sowjetrußland sind die Strafen für die meisten Verbrechen viel strenger als in den USA. Ein sowjetisches Gericht verurteilte kürzlich einen Mann wegen rücksichtslosen Fahrens in betrunkenem Zustands zu zehn Jahren Gefängnis. Ein anderer, der einen Radioapparat gekauft und mit Gewinn wiederverkauft hatte, erhielt acht Jahre Gefängnis. Eine Frau, die hundert Kilo Zucker kaufte und zum doppelten Preise wieder verkaufte, erhielt fünf Jahre, und ihr Gatte, der ihr bei diesem Geschäft behilflich war, zwei Jahre Gefängnis. Der Buchhalter und Betriebsleiter einer Genossenschaft, der sich aus deren Kasse kleine Geldbeträge aneignete, wurde zu zwölf Jahren verurteilt und zur staatlichen Konfiszierung seines ganzen Besitzes. Ein anderer Veruntreuer von Staatsgeldern erhielt zehn Jahre Gefängnis, und sein gesamter Besitz wurde vom Staate konfisziert. Uber einen Arbeiter in einem staatlichen Geschäftshaus, der sich 51, 700 Rubel aus dem Staatsgeld aneignete, wurden zwanzig Jahre „Besserungsarbeitslager" verhängt. Zwei Betrunkene, die eine Theatervorstellung unterbrachen, erhielten vier Jahre bzw. drei Jahre Gefängnis. (Für Fälle von liederlichem Benehmen sind Strafen bis zu fünf Jahren üblich.) Zwei Männer, die einem Bauern eine Kuh stahlen und diese zu verkaufen suchten, wurden zu zehn Jahren „Besserungsarbeitslager"

verurteilt. Der Direktor einer Fabrikanlage, welcher Material verschleuderte und Gelder im Gesamtbeträge von 40 000 Rubel (3200 Dollar) unterschlug, wurde zu zehn Jahren Gefängnis und zur Schaden-ersatzleistung verurteilt. (Justice William O. Douglas, R u s s i a n J o u r n e y , 1956, S. 145.)

Russische Zeitungen berichten fortwährend über ähnliche und sogar strengere Strafmaßnahmen für strafbare Handlungen, welche Gerichte anderer Länder niemals als Verbrechen betrachten würden, sondern als Vergehen, für die geringere Strafarten vorgesehen sind. Beispielsweise wid für Veruntreuung oder Diebstahl an staatlichen Warenlagern eine Gefängnisstrafe von 25 Jahren angedroht; acht bis zehn Jahre sind üblich für Veruntreuung oder Diebstahl landwirtschaftlicher Produkte durch Mitglieder von Kollektivfarmen. Gewinnbringender Wiederverkauf von Autos, Kühlschränken und anderer Handelswaren, für welche keine festen Preise vorgeschrieben sind, hat Gefängnisstrafen von acht bis zehn Jahren zur Folge. (Kazachstanskaja Prawda, 13. X. 1935; 1. III„ 17. IV. und 24. VIII. 1956; Prawda, 4. III. 1956;

Izvestija, 25. XL 1954; Bakinskij Rabocij 3. II. und 27. III. 1956.)

F. Die Gerichte d ihr Verfahren

§ 17. DIE SOWJETISCHEN GERICHTE Die Funktion der Gerichtshöfe in Sowjetrußland dient mehr dem Schutz des Staates als dem Rechtsschutz des Individums oder der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Die Gerichte sind in wohlerwogener Absicht als politische Instrumente eingesetzt.

a. Der Oberste Gerichtshof (Privatpersonen nicht zugänglich)

Es ist Aufgabe des Obersten Gerichtshofes der Sowjetunion „die Justizverwaltung aller gerichtlichen Organe der UdSSR und der Bundesrepubliken zu beaufsichtigen" (Gerichtsverfassungsgesetz vom Jahre 1938, Art. 64).

Zu diesem höchsten Gerichtshof haben jedoch private Parteien keinen Zugang. Einer privaten Partei steht kein direktes Rechtsmittel zur Verfügung, einen Streitfall vor das Oberste Gericht zu bringen. In Berufung auf die zustehenden Apellationsrechte können Beschuldigte nur bis zu den obersten Gerichten der Bundesrepubliken (Sowjetstaaten) gelangen, aber nicht höher. Als allgemeine Regel gilt, daß eine Streitsache nur dann vor das Oberste Bundesgericht (der UdSSR) gebracht werden darf, wenn vom Staatsanwalt der UdSSR oder den Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der UdSSR „Protest gegen endgültige Urteile und Entscheide in Straf-und Zivil-Sachen" erhoben worden ist. (edd., Klausel a). b. Dr Richter sind weder in Theorie noch in Wirklichkeit unabhängig Die Stellung eines sowjetischen Richters entbehrt der Voraussetzungen, die seine Unabhängigkeit garantieren. Die Richter eines Gerichtes niederer Instanz, des sogenannten Volksgerichtes sind die einzigen Richter, welche direkt von der Wählerschaft des Wahlbezirkes gewählt werden. Ihre Amtsdauer ist jedoch sehr kurz, nur drei Jahre; und das Recht, Richterkandidaten zur Wahl vorzuschlagen, ist der Kommunistischen Partei und den von diesen kontrollierten Organisationen vorbehalten. Das Wahlgesetz trat zum erstenmal am 25. September 1948 in Kraft.

Außerdem kann jeder Richter von der Wahlkörperschaft seines Amtes enthoben werden. Ein solcher Widerruf kommt nicht einer Anklage gleich; es brauchen keine besonderen Anschuldigungsgründe vorzuliegen. Widerruf heißt einfach Enthebung vom Amte durch ein Mißtrauensvotum der Wahlkörperschaft, die dem gewählten Richter das Vertrauen entzieht.

Die Richter der höheren Gerichte werden „gewählt", d. h. sie werden von den höheren Räten (Sowjets), von den Lokalräten, den Sowjets der Republiken und vom Obersten Sowjet für die Dauer von fünf Jahren ernannt und sind ebenfalls einer möglichen Absetzung durch die Vollzugsausschüsse der Sowjets unterworfen.

Der sowjetische Richter ist Berufsrichter in dem Sinne, daß das Richteramt während der kurzen Amtszeit eine vollamtkche Stelle mit festem Gehalt bedeutet. Eine Ausbildung in der Rechtswissenschaft ist nicht erforderlich. Weder ist eine solche Ausbildung von ihm durch ein Gesetz verlangt, noch besitzen die Mehrzahl der Richter eine solche Befähigung. Fast ausnahmslos sind alle Kommunisten (95, 5 Prozent im Jahre 1935; die letzten zugänglichen Ziffern); aber im Jahre 1947 genossen nicht mehr als 14, 6 Prozent ein hochschulmäßiges Rechts-studium und 21, 8 Prozent erhielten eine Rechtsausbildung. Somit scheint der Mehrheit (64 Prozent) überhaupt jegliche Rechtsausbildung zu fehlen. (SocialisticeskajaZakonnost, 1947 Nr. 2 S. 11.)

c. Die Richter sind nicht unparteiisch Die Richter gelten nicht für unparteiisch. Vysinskij stellte nachdrücklich selbst die Möglichkeit einer Unparteilichkeit des Richters gemäß sowjetischer Theorie in Abrede:

„Die kapitalistischen Theoretiker ... wollen das Gericht als eine Institution hinstellen, welche über den Gesellschaftsklassen und jenseits von Politik steht ... und den allgemein-menschlichen Normen des Rechts und der Gerechtigkeit unterstellt ist. Ein solches Verstehen des Wesens der Gerichtsbarkeit ist von Grund auf trügerisch. Die Gerichte sind immer Instrumente in den Händen der herrschenden Klasse gewesen, die dieser ihre Herrschaft sicherte und ihre Interessen in Schutz nahm." (Sovetskoje gosudazstrennoje pravo, 1938, S. 449.)

Somit war der sowjetischen Gerichtsbarkeit eine vorbehaltlose politische Aufgabe von den sowjetischen Theoretikern zugewiesen. Sie wurde von Vysinskij im Jahre 1941 mit folgenden Worten umrissen:

„Weder die Gerichtsbarkeit noch das gerichtliche Verfahren stehen oder können jenseits der Politik stehen. Dies besagt, daß Inhalt und Form der gesamten den Gerichten zugewiesenen Tätigkeit einer Unterordnung unter politische Klassenziele und Klassenbestrebungen nicht entrinnen können." (Vysinskij, Teorija sudebnych dokazatelstv v sovetskom prave, 1941, S. 31.)

Der Justizminister wandte sich im Jahre 1947 an die sowjetischen Richter mit folgenden Worten über die Art und Weise gerichtlichen Vorgehens:

„Der Richter muß wissen, wie man Prozeßverfahren leitet und wie man Urteile abfaßt in einer Weise, die mit äußerster Klarheit die politische Bedeutung des Streitfalles aufzeigt, so daß sowohl dem Angeklagten wie auch allen anderen im Gerichtssaal Anwesenden die Regierungspolitik in der Gerichtsbarkeit ersichtig wird.“ (S o c i a 1 i -

s ticeska j a Zakonnost, 1947, Nr. 2, S. 5.)

§ 18. DAS GERICHTLICHE VORVERFAHREN Der Schutz des Unschuldigen, der nach anglo-amerikanischem Recht durch das „habeas corpus" und durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft (indictment by grand jury) zugesichert ist, war im Vorkommunistischen Recht Rußlands und in den Satellitenländern durch die gerichtliche Untersuchung (instruction, predvazitelnoje sledstvie) in allen größeren Fällen gewährt.

Diese wurde von einem Untersuchungsrichter (Sudebnyi sledovatel, Juge d'instruction) geführt, der die Stellung eines Richters innehatte und mit allen Garantien gerichtlichen Verfahrens vorging.

Unter den Sowjets wurde das Amt des Untersuchungsrichters zusammen mit allen Gerichtshöfen im Jahre 1917 abgeschafft. Der „Volksuntersuchungsbeamte" nahm dessen Stelle ein. Während der nachfolgenden Jahre gingen diesen . Untersuchungsbeamten'alle richterlichen Eigenschaften in ihrer Amtstätigkeit und Stellung mehr und mehr verloren; ihre Untersuchungen unterschieden sich kaum mehr von polizeilichen Ermittlungen, und deren Ergebnisse wurden als Beweismittel angeführt.

Wir zitieren eine sowjetische Abhandlung über das Strafverfahren:

„Im sowjetischen Strafverfahren besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen polizeilichen Ermittlungen und der Voruntersuchung, obwohl beide Begriffe in der jetzigen Strafprozeßordnung sich behaupten. Polizeiliche Ermittlungen und die Voruntersuchung sind von gleicher gerichtlicher Bedeutung. Die Akten über die Ermittlungen sowie auch das Protokoll der Voruntersuchung sind Beweismittel und werden vom Gericht als Beweismittel zur Schöpfung des Urteils benützt. Der Unterschied zwischen Vernehmung und Voruntersuchung ist auf die Zuständigkeit der Ermittlungs-und Vernehmungsorgane zurückgeführt, woraus sich ergibt, daß die komplexeren und wichtigeren Straffälle der Gerichtsbarkeit der Voruntersuchungsorgane (Untersuchungsbeamten) zugewiesen werden und alle anderen Fälle den polizeilichen Ermittlungsorganen übertragen werden." (Strogovic U c e b n i k ugolovnogo processa, 1938, S. 118.)

Es sei auch darauf hingewiesen, daß die Anklage (obvinitelnoje zaklucenije) in der Regel vom Untersuchungsbeamten verfaßt wird. Hernach wird die Anklageschrifft nur noch vom Staatsanwalt geprüft und dient als automatisch zugelassene Anklage ohne nochmalige Überprüfung durch das Gericht. Somit steht der Angeklagte vor Gericht in einem öffentlichen Prozeß, nachdem er vorerst der harten Probe der Untersuchung im Stil der Geheimpolizei unterworfen wurde.

§ 19. DIE REVISION RECHTSKRÄFTIGER ENTSCHEIDE VON AMTS WEGEN Es ist bezeichnend für das sowjetische Appellationsverfahren, daß für die Revision eines rechtskräftigen Urteils den privaten Parteien (die streitenden Parteien in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und der Angeklagte und sein Anwalt) einerseits und den Regierungsanwälten und Gerichtspräsidenten andererseits ungleiche Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Regierungsanwälten steht nicht nur das Appellationsrecht zu, sondern auch das Recht, die Revision eines rechtskräftigen Urteils von Amts wegen zu beantragen. Dieses Recht besitzen auch die Präsidenten der Regionalgerichte und der obersten Gerichte. Die Revision muß nicht innerhalb einer bestimmten Frist nachgesucht werden.

Die Revisionen rechtskräftiger Entscheide werden in regioialen Gerichten von einem besonderen Richterkollegium, dem sogenannten Präsidium und von den Obersten Gerichten unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorgenommen. Eine einmal vorgenommene Revision kann nochmals wiederaufgenommen werden. Eine Strafsache kann wiederaufgenommen werden selbst wenn das Urteil des Strafgerichtes oder des Appellationsgerichtes auf Freispruch lautete. Die gesetzlichen Gründe für eine Revision sind sehr weit gefaßt: Die Revision kann nachgesucht werden, wenn, in einer Zivilsache, der Entscheid eine besonders wesentliche Verletzung der Interessen des Staates oder derjenigen der werktätigen Masse in sich schließt. In Strafsachen sind die Gründe nicht ausdrücklich angeführt. Parteien haben kein Recht Revisionsgesuche einzureichen. Doch können sie (was tatsächlich auch unternommen wird) eine Wiederaufnahme des Verfahrens veranlassen, indem sie Regierungsbeamte, die zur Beantragung ermächtigt sind, mit ihren Beschwerden betrauen. Somit nimmt das sowjetische Appellationsverfahren seinen Anfang in einer öffentlichen Gerichtssitzung, unter Mitwirkung der Parteien, aber nachher kann es sich hinter geschlossenen Türen als eine rein interne Angelegenheit der Staatsanwälte und der Gerichte in die Länge ziehen.

Die Wiederaufnahme von Sachen von Amts wegen macht das gesamte sowjetische Gerichtsverfahren mehr einem administrativen Verfahren als einem Gerichtsprozeß ähnlich.

Fussnoten

Weitere Inhalte