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Artikel 7 | APuZ 33/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 33/1957 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Artikel 10 Verbrechen und Strafrechtsystem

Artikel 7

vorausgesetzt, daß sie mit der Konkurrenzenergie eines Privatunternehmens handeln (das Prinzip des „sozialistischen Wettbewerbs"). Somit wurde den einzelnen staatlichen Geschäftsorganen eine gewisse, wenn auch durch die allumfassende Planwirtschaft eng begrenzte Autonomie zugestanden.

§ 11. UNGÜLTIGKEIT DER VERTRÄGE Ein Vertrag ist ungültig nicht nur wenn dieser „gegen das Gesetz verstößt oder in Umgehung des Gesetzes geschlossen wurde", sondern auch „bei offenbarer Schädigung des Staates" (Artikel 30).

In solchen Fällen „kann keine der vertragschließenden Parteien die andere schadenersatzpflichtig machen, wie sie es laut Vertrag fordern könnte". „Ungerechtfertigte Bereicherung verfällt dem Staate“

(Art. 147).

Obwohl diese Rechtsnormen gleichsam als Wachttürme über private Rechtsgeschäfte (welche die Politik des sozialistischen Staates vereiteln könnten) aufgestellt waren, zeigten sie sich seit 1939 in einem neuen Lichte als Maßnahmen für eine wirksame Kontrolle über die staatlichen Unternehmungen. Das Oberste Gericht entschied nämlich am 16. VII. 1939, daß diese Rechtsnormen auch „für Rechtsgeschäfte", woran sich staatliche oder öffentliche Institutionen oder Organisationen als vertragschließende Parteien beteiligen, verbindlich sind".

So erwiesen sich Rechtsnormen, die ursprünglich diese als Kontrolle über private Verträge gedacht waren, als Kontrollmaßnahmen der zentralen Regierung über ihre eigenen Organe.

§ 12. VERTRAG GEGEN PLANWIRTSCHAFT In der Folge des Fünfjahresplanes wurden die gesamte Industrie und der gesamte Handel der Sowjetunion in die Hände des Staates gelegt und mittels einer zentralisierten Planung von der Regierung gelenkt. Doch die gegenseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Regierungsbetrieben waren durch Verträge geregelt. Zahlreiche sowjetische Juristen waren der Ansicht, es mit zwei verschiedenen Obligationenrechten zu tun zu haben: das eine auf der Grundlage des Zivilgesetzes für die einzelnen Staatsbürger, das andere für die staatlichen Unternehmungen, die sich der Verträge als Mittel zur Erfüllung des Wirtschaftsplanes bedienten.

Diese Zweiteilung wurde jedoch verurteilt, da sie die Einheit des sozialistischen Rechtssystems zerstöre. Nichtsdestoweniger bleibt diese Dualität im sowjetischen Obligationenrecht offensichtlich; die zwischen staatlichen Unternehmungen geschlossenen Verträge unterscheiden sich in vielen Punkten von den zwischen Einzelnen oder im Außenhandel eingegangenen, welche letztere beide durch das Zivilgesetzbuch geregelt sind.

Eine neuere Abhandlung über das Zivilgesetz gibt offen zu, daß der Vertrag als eine Übereinkunft über Begründung, Veränderung und Untergang von Rechtsverhältnissen „nicht die spezifischen Eigenschaften des sowjetischen Vertrags aufweist."

Die rechtliche Form eines zwischen sozialistischen Organisationen geschlossenen Vertrages zeigt wesentliche und spezifische Merkmale.

Wenn sich die Parteien bei der Vertragschließung über einzelne Punkte nicht einigen können, dann werden solche Meinungsverschiedenheiten durch staatliche Schlichtung mittels eines vorvertraglichen Streitverfahrens (vorvertragliche Schlichtung) beigelegt. In vielen Fällen hängt es nicht von der Willensäußerung der Parteien ab, ob ein Vertrag zwischen gegebenen Parteien geschlossen wird oder nicht; die Parteien sind verpflichtet, Verträge einzugehen.

Bei Abschluß von Verträgen haben die sozialistischen Organisationen besondere Disziplin und Findigkeit an den Tag zu legen, etc. . . .

Diese plangemäßen Verträge der sozialistischen Unternehmungen stellen die Verwirklichung der den Vertragsparteien zugewiesenen planmäßigen Aufgaben dar. Der sowjetische Vertrag ist eine Form Zusammenknüpfung der und einzelnen Verbindung der sozialistischen Unternehmungen zu bestmöglichen Erfüllung des allgemeinen sozialistischen Planes. Diese Aufgabe — die Ausführung des nationalen Wirtschaftsplanes — geschieht ebensogut im Interesse beider Parteien.

(Sovetskoje grazdanskojepravo, Bd. I, 1950, S. 395, 269.)

Streitfälle zwischen staatlichen handeltreibenden Unternehmungen sind nicht dem Gericht unterworfen, sondern werden von besonderen Beamten, sogenannten Schiedsrichtern, geschlichtet. Diese sind den Ministerien zugeteilt, und der Hauptschiedsrichter des staatlichen Schlichtungswesen gehört dem Ministerrat an. Die Partei, welche gewisse Waren zu verkaufen oder zu liefern verpflichtet ist, entwirft eine erste Fassung des Vertrages und übermittelt sie der anderen Partei.

Ist diese mit dem Vertrag nicht einverstanden, dann hat sie die umstrittenen Punkte schriftlich zu fixieren, die hernach vom Schiedsrichter geregelt werden. Dieses Verfahren wird vorvertraglicher Streit oder vorvertragliche Schlichtung genannt (ebd., S. 297 ff.).

Diese Unschlüssigkeiten spiegeln die Tatsache wider, daß die sowjetischen Geschäftsunternehmungen bürokratische Organe sind. Ihre Verträge sind Scheinverträge und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit ist eine fiktive.

D. Erbrecht Ehe und Ehescheidung

§ 13. DAS ERBRECHT Die sowjetische Rechtstheorie hat hinsichtlich des Erbrechtes erstaunliche Schwenkungen vollzogen. Ursprünglich war das Erbrecht abgeschafft. Hernach wurde es in beschränktem Ausmaß als eine Konzession an das kapitalistische Recht und als eine „private Form oder Ersatz für soziale Sicherung" (die jedoch mit Beginn des Sozialismus verschwinden sollte) wiedereingeführt. Aber mit dem durch die Verfassung von 1936 markierten Beginn des Sozialismus traten keine Anzeichen einer Beseitigung des Erbrechtes in Erscheinung. Im Gegenteil, die Erbfolgerechte wurde erweitert.

Jedenfalls wird in Sowjetrußland nicht mehr länger eine wirtschaftliche Nivellierung angestrebt. Hohe Gehälter, Gratifikationen und Prämien für Staatsbeamte, Direktoren, Wissenschaftler, Künstler u. a. erlauben eine beachtliche Eigentumsanhäufung. Erst die Zukunft wird zeigen, was mit diesem im Verlauf von zwei oder drei Generationen vererbten und vermehrten Kapital geschehen wird.

Seit der Zeit des Kommunistischen Manifestes von 1848 war die Abschaffung des Erwerbs von Erbschaften ein Eckpfeiler des kommunistischen Programms gewesen. Bereits am 27. IV. 1918 trat ein Dekret „Betreffend Beseitigung des Erbrechtes" in Kraft (Gesetze der RSFSR 1917— 18, Text 456). Aber schon damals wurden gewisse Ausnahmen gemacht. Flausgeräte unter 10 000 Goldrubel Wert „gingen zur unmittelbaren Verwaltung und Verfügung" an die nächsten Verwandten über. Auch von größeren Nachlässen konnten solche Verwandte eine zum Unterhalt notwendige Summe erhalten, „bis ein Dekret über eine universale soziale Sicherung ausgegeben wird". Eine weitere Ausnahme wurde am 21. V. 1919 für die Besitztümer eines Bauernhaushaltes gemacht, die im Besitz und zur Nutznießung des überlebenden Ehegatten oder anderer Mitglieder des Anwesens blieben, ungeachtet des Wertes desselben (ebd., Text 242).

Im Jahre 1926 wurde die Beseitigung der 10 000-Rubel-Beschränkung der Erbschaft offiziell mit der Absicht begründet, die kontinuierliche Existenz des privaten Unternehmens zu sichern; doch in den Jahren 1938 und 1944 wurde die Abschaffung gerade dieses privaten Unternehmens als Grund für die weitere Ausdehnung des Erbrechts als einer wohl-begründete Institution des sowjetischen sozialistischen Rechtes anqeführt. J Die heutige Beweisführung der sowjetischen Juristen geht dahin, daß das Erbrecht „den Schutz des persönlichen Besitzes der Werk tätigen iördert, die Arbeitsproduktivität fördert, die sowjetische Familie stärkt und die Beziehungen der Staatsbürger der UdSSR mit der sozialistischen Gesellschaft enger gestaltet" (Agarkov und andere, Grazdanskoj e pravo, ucebnik, II, 1944, S. 277). Die früheren Rechtstheorien betrachtet man als umstürzlerisch. Ferner folgern sie, daß das Ausbleiben eines gesetzmäßigen Zuganges zu produktiver Investierung die Möglichkeit eines Wiederauflebens des Privatunternehmens und des Kapitalismus verhindern wird.

§ 14. EHE UND EHESCHEIDUNG In den ersten Jahren wich das sowjetische Recht vom traditionellen Familienbegriff radikal ab. Nach dem „Sieg des Sozialismus" kehrte es jedoch wieder zu strengeren Auffassungen des Familienlebens und der öffentlichen Moral zurück. Vom Prinzip der Staatseinmischung in Familienangelegenheiten aber wurde nie abgegangen. Im Anfangsstadium suchte das Sowjetrecht die Familienbande zu lösen, während jetzt die staatliche Einmischung nicht weniger wirksam in die entgegengesetzte Richtung zielt.

Ehe und Ehescheidung gehörten zu jenen Institutionen, die zuerst von den frühen sowjetischen revolutionären Dekreten aufs Korn genommen wurden. Im Dezember 1917 wurde die Ehescheidung bei Einverständnis der Ehegatten oder auch schon auf einseitigen Wunsch eines Ehegatten gestattet, ohne daß hierbei Gründe angegeben werden mußten (Brandenburskij, Semejnoje, brachnoje i opekunskoje pravo, 1927, S. 19). Die Zivilehe trat an die Stelle der kirchlichen Trauung, die unter dem russischen vorsowjetischen Recht die vorherrschende Eheschließungsform war. „Eine auflösbare Ehe und nicht eine lebenslange Vereinigung war das erste Prinzip der neuen Gesetzgebung." Die nachfolgenden Staatsgesetze, Statuten und besonders das Familiengesetzbuch von 1926 zeigen ein radikales Abweichen vom traditionellen Familienbegriff. „Die Geburt allein soll die Basis der Familie sein; es darf kein Unterschied im Verwandtschaftsverhältnis zwischen ehelicher oder außerehelicher Geburt gemacht werden", erklärte das Gesetz über die Personalstandsurkunden von 1918 (S o -

branije . . . 1917 — 1918, Statja 818, Art. 133). Ein sowjetischer Professor erklärte dazu, daß „Familienverwandtschaft oder Blutsverwandtschaft nicht auf die Ehe, sondern auf die Geburt gegründet ist"

(Brandenburkskij, S. 19).

Das Gesetzbuch von 1926 schrieb vor, daß die Eheschließung beim Zivilstandsbeamten angemeldet werde; doch hatte eine solche Registrierung nur den „sicheren Beweis von der Existenz des Ehestandes zu liefern". Das Gesetzbuch wies die Gerichte an, welche „Beweise ehelichen Zusammenlebens, im Falle daß die Ehe nicht registriert war" hinlänglich waren, um eine de facto bestehende Naturehe rechtsgültig zu erklären (Art, 11; 12). Außerdem sollen „Personen, die im Zustand einer de facto nicht registrierten ehelichen 'Verbindung leben, ermächtigt werden, ihren Stand jedeizeit zu legalisieren, indem die Dauer des tatsächlichen ehelichen Zusammenlebens festgestellt wird" (Art. 3). Die de facto bestehende Naturehe war eine stillschweigende Anerkennung der kirchlichen Ehe, der aber keine rechtsverbindliche Kraft verliehen war. War mit der kirchlichen Eheschließung die tatsächliche eheliche Gemeinschaft und ein Familienleben gegeben, so erhielt sie den Charakter einer staatlicherseits de facto anerkannten Ehe mit allen RechtsWirkungen, die ersterer offiziell abgesprochen waren.

Die sowjetische Ehescheidung — laut Gesetzbuch von 1926 — wies nicht weniger auffallende Züge auf als die sowjetische Ehe. Beide Ehegatten genossen vollständige Freiheit der Ehelösung durch Scheidung, ohne hierfür Scheidungsgründe vorlegen zu müssen (Art. 18, wie er vor 1944 in Kraft war). Die Ehescheidung konnte einverständlich oder auf einseitigen Wunsch eines Ehegatten erfolgen. Der andere Ehegatte wurde vorgeladen, aber im Falle seines Nichterscheinens wurde die Beurkundung der Scheidung vollzogen, wobei er kein Recht besaß, sich der Trennung zu widersetzen. Die Ehescheidung war eine rein förmliche Bestätigung der tatsächlichen Auflösung der ehelichen Gemeinschaft. Die entgegengesetzte Richtung nahm ihren Anfang um das Jahr 1935 und erreichte den Höhepunkt im Jahre 1945 mit der vollkommenen Bejahung der Familie gemäß den traditionellen Auffassungen. Sie ging sogar weiter als in vielen Ländern, wo nur die Zivilehe anerkannt wird. Die offizielle Zeitschrift des Generalstaatsanwalts schrieb:

„Grundlegend und nach dem Geiste des sowjetischen Rechtes ist die Ehe im Prinzip wesentlich eine lebenslängliche Vereinigung (und) . . . wenn die Ehegatten das höchste Glück der Mutter-und Vaterschaft erfahren" (Bosko, Ponjatije braka v sovetskom socialisticeskom prave, Socialisticeskaja Zakonnost, 1938, Nr. 2, S. 55 f.).

Seit dem 8. VII. 1944 wurde nur einer beim Standesbeamten angemeldeten Eheschließung Rechtsgültigkeit zuerkannt. Die nach dem 8. VII. 1944 außerhalb einer solchen Zivilehe geborenen Kinder besitzen keine Erbfolgerechte auf die väterlichen Erbgüter und dürfen keinen Anspruch auf den Namen des Vaters erheben. Auch sind solche Väter für den Unterhalt von außerhalb der Zivilehe geborenen Kindern nicht verantwortlich. Die Mütter solcher Kinder erhalten eine staatliche Unterstützung in einem festen Betrag. Die rechtliche Stellung ist als Unehelichkeit (Bastardschaft) gekennzeichnet, obwohl dieser Ausdruck nicht verwendet wird.

Nicht weniger radikal war die Wendung auf dem Gebiete der Ehescheidung. Die Scheidungsgründe sind im Gesetz nicht einzeln aufgeführt, sondern dem Ermessen des Gerichtes überlassen. Und dies trotz der Tatsache, daß Lenin seinerzeit schrieb: „Es ist unmöglich, ein Demokrat und Sozialist zu sein ohne gleichzeitig die vollständige Ehescheidungsfreiheit zu fordern, weil das Fehlen einer solchen Freiheit die äußerste Unterdrückung des unterworfenen Geschlechtes, der Frau ... bedeutet" (S o c i n e n i j a , 2. A., Bd. 19, S. 232).

Die Scheidungsverfahren sind kompliziert und kostspielig. Jeder Fall wird nacheinander von einem Gericht niederer und höherer Instanz untersucht. Die Direktive des Obersten Gerichtes der UdSSR wies die Gerichte an, daß die Ehescheidung nur da ausgesprochen werden darf, wo eine „Weiterführung der ehelichen Gemeinschaft gegen die kommurdstische Moral verstößt und wo keine normalen Bedingungen für die Lebensgemeinschaft und die Erziehung der Kinder vorhanden sind". (Postanovlenije plenuma verchovnogo suda SSSR ot 16 sentjabrja 1949 goda Nr. 12/8/9, St. 1, Sudebnaja Praktika, 1949, Nr. 2, S. 1.)

E. Strafrecht

§ 15. DER ALLGEMEINE CHARAKTER DES STRAFGESETZES In Übereinstimmung mit der kommunistischen Auffassung des Rechtes als eines Instrumentes des Klassenkampfes häufen sich im sowjetischen Strafgesetzbuch unbestimmte Begriffe und elastische Klauseln und gewähren so einer freien Auslegung und der Willkür Spielraum. Diese wurden mit den aus zaristischen und westlichen Gesetzbüchern übernommenen Rechtssätzen, die dem Schutze des Einzelnen galten, in Zusammenhang gebracht, eine Tatsache, die einen oberflächlichen Leser nicht über die wirkliche Natur des sowjetischen Strafrechtes hinwegtäuschen darf.

„Die Gerichte", sagte Lenin, „sollen den Terrorismus nicht beseitigen;

so etwas zu versprechen, hieße uns selbst und die andern betrügen".

Lenin betrachtete diese Aussage „als eine freimütige und fundamentale, eine Aussage, die politisch wahr und nicht juristisch engherzig ist“

(Socinenija, 3. A., Bd. 27, S. 296). Ähnlich schrieb Krylenko, ein seinerzeit bekannter Staatsanwalt, daß „das Gericht bis zu einem gewissen Grad ein der Tscheka ähnliches Instrument des Terrorismus sein muß" (Lenin i Sud, Moskva, 1934, S. 111). Noch 1936 erklärte Andrei Vysinskij: „Die OGPU und die Gerichte stellen verschiedenartige Formen des Klassenkampfes der proletarischen Diktatur dar"

(Vysinskij und Undrevic, Kurs ugolovnogo processa, tom I, Sudoustrojstvo, 2. A., 1936, S. 28 f.)

Nachdem man eingesehen hatte, daß solche Bestimmungen keine gute Propaganda entwickelten, sprechen die neueren Gesetze von einer zusätzlichen Aufgabe des sowjetischen Strafgerichtes. Das Gerichtsverfassungsgesetz (Art. 3) vom Jahre 1938 erklärt, daß „das 'sowjetische Gericht bei der Anwendung von Strafmaßnahmen nicht nur den Vergeltungszweck, sondern auch die Besserung und Erziehung der Missetäter berücksichtigen soll". Dies ergibt sich auch aus der sowjetischen Strafterminologie, wenn z. B. das sowjetische Äquivalent zu Zwangsarbeit oder Zuchthaus „Besserungsarbeit" oder „Besserungsarbeitslager" genannt wird.

Dem Beispiel des legislativen Einteilungsschemas der modernen Gesetzbücher folgend, enthält das sowjetische Strafgesetzbuch einen allgemeinen Teil, der die prinzipiellen Bestimmungen und Rechtssätze über Verbrechen und Strafbarkeit behandelt, und einen besonderen Teil (Art. 58 und folgende), worin die Tatbestände, Einzelverbrechen und Strafmaßnahmen definiert werden. Aber hier im zweiten Teil hört die Ähnlichkeit mit den nicht-sowjetischen Gesetzbüchern auf.

a. Die sozial gefährliche Handlung Obwohl im allgemeinen der Standpunkt der sozialen Gefährlichkeit einer strafbaren Handlung nicht an die Stelle des Schuldprinzips („Keine Strafe ohne Schuld") trat, so kommt einer solchen Gefährdung doch eine große Bedeutung in der Strafzumessung zu. In den allgemeinen Bestimmungen (Art. 45) betont das Strafgesetzbuch die Notwendigkeit,'die „soziale Gefährlichkeit eines Deliktes" in Betracht zu ziehen. Auch im Zusammenhang mit den strafverschärfenden Umständen ist dieselbe ebenfalls unterstrichen. „Die in jedem Einzelfall zu entscheidende grundlegende Frage ist die nach der sozialen Gefährlichkeit des zu beurteilenden Verbrechens" (Art. 47).

Der Ausdruck „sozial gefährliche Handlung" wird abwechselnd mit dem Ausdruck „Verbrechen" gebraucht und der Ausdruck „Maßnahme der sozialen Verteidigung" mit „Strafe". Das Verbrechen wird als „eine sozial gefährliche Handlung" (Art. 1) aufgefaßt, d. h. sofern „diese gegen das Sowjetregime gerichtet ist oder die von der Arbeiter-und Bauernregierung für die Übergangsperiode zu einer kommunistischen Herrschaft aufgestellte Rechtsordnung verletzt" (Art. 6).

b. Die Analogieanwendung im Strafgesetz Entgegen dem westlichen Grundsatz, wonach nur strafbar ist, wer eine Tat begeht, die das Gesetz zur Zeit der Begehung ausdrücklich mit Strafe bedroht („Keine Strafe ohne Gesetz"), empfiehlt das sowjetische Strafgesetzbuch ausdrücklich eine weitgehende (extensive) Auslegung der Strafrechtsakte und Anwendung der Analogie (kein Analogieverbot). „Art. 16. Wenn die eine oder die andere sozialgefährliche Handlung in diesem Gesetzbuch nicht ausdrücklich vorgesehen ist, so bestimmen sich Grund und Umfang der Verantwortlichkeit dafür nach den Artikeln dieses Gesetzbuches, die ihrer Art nach am meisten ähnliche Verbrechen vorsehen." (Strafgesetzbuch der RSFSR, übers, v. Dr. W. Gallen, 1953).

Somit kann nach dem sowjetischen Strafgesetzbuch jemand gerichtlich bestraft werden für eine Handlung, die im Strafgesetz nicht ausdrücklich als Straftat bezeichnet ist, und umgekehrt jemand für eine im Gesetz eindeutig als Straftat angeführte Handlung nicht bestraft werden, wenn diese nicht weiter „sozial gefährlich" erscheint (ebd. Art. 6, Anmerkung).

Nach dem Tode Stalins wurde das Analogieprinzip sehr umstritten; doch gelangten die sowjetischen Juristen zu keiner übereinstimmenden Lehrmeinung. Es ist zu beachten, daß nicht allein der Grundsatz der Analogieanwendung die richterliche Willkür begünstigt. Schon die einzelnen Delikte sind im sowjetischen Strafgesetzbuch nicht genau definiert, sondern lose und in großen Umrissen, wodurch die Rechtsanwendung auch ohne Analogie eine willkürliche bleibt. Dies gilt fast von allen Definitionen im Strafgesetzbuch. Außerdem liegen für zwei Arten von Delikten, nämlich für konterrevolutionäre Verbrechen und Verbrechen gegen die Staatsverwaltung einheitliche Gruppendefinitionen zusätzlich zu den Definitionen der zahlreichen Einzelverbrechen vor.

c. Die Staatsverbrechen Der Begriff solcher in vierzehn Einzelparagraphen geregelter Verbrechen ist umfassender als der Begriff des „politischen Verbrechens" in anderen Ländern. Jede Definition verwendet dabei sehr weitgefaßte Ausdrücke, aber zusätzlich ist eine „Gattungs" -Definition eines konterrevolutionären Verbrechens gegeben (Art. 58). Sie umfaßt u. a. jede Handlung, die eine Schwächung „der Autorität des Sowjet-regimes" oder „der grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und nationalen Errungenschaften der proletarischen Revolution beabsichtigt". Folglich ist jede Handlung, die als eine „absichtliche Schwächung" dieser unbestimmten Dinge ausgelegt werden kann, strafbar, auch wenn sie nicht unter die Definition eines der vierzehn besonders erwähnten konterrevolutionären Verbrechen fällt. Für alle diese Verbrechen ist die Todesstrafe vorgesehen.

Es besteht eine ähnliche Gruppendefinition für besonders gefährliche Verbrechen gegen die Verwaltungsordnung, von denen zwölf mit Todesstrafe bestraft werden.

d. Die Todesstrafe Die Todesstrafe ist für 70 einzelne, in den 47 Artikeln des Strafgesetzbuches definierten Verbrechen vorgesehen, und in 32 Fällen kommt sie als regelmäßige Strafe in Betracht. Die Todesstrafe wurde in der Sowjetunion mehrmals abgeschafft, aber immer wieder nach kurzer Zwischenzeit neu eingeführt. Das letzte Mal wurde sie am 26. V. 1947 abgeschafft; am 12. I. 1950 wurde sie wieder eingeführt gegen „Landesverräter, Spione (und) umstürzlerische Aufrührer", ohne genaue Definition dieser Verbrechen, so daß es dem Gericht überlassen ist zu entscheiden, in welcher der 70 Fälle des Strafgesetz-buches diese zur Anwendung kommt.

e. Behandlung der Minderjährigen Gegenwärtig behandelt das sowjetische Strafrecht den jugendlichen Missetäter fast gleich wie den Erwachsenen.

Die erste Fassung des sowjetischen Strafgesetzbuches bestimmte, daß Jugendliche unter 16 Jahren den gesetzlich vorgesehenen Strafsanktionen nicht unterworfen waren. Straffällige Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren wurden in erster Linie mit Erziehungsmaßregeln behandelt. Doch das Gesetz vom 7. IV. 1935 änderte das Strafgesetz dahin ab, daß „Minderjährige, die das zwölfte Lebensjahr vollendet haben und des Diebstahls, Gewalttätigkeiten, der Körperverletzung, Verstümmelung, des Mordes oder Mordversuches überführt sind, von Strafgerichten verurteilt werden sollen, die über sie alle Arten von auf Erwachsene anwendbaren Strafen verhängen" können, einschließlich der Todesstrafe. Im Jahre 1946 wurde diese Gesetzesverordnung auf Minderjährige ausgedehnt, welche solche Delikte aus reiner Fahrlässigkeit ohne Vorsatz begingen. Im Jahre 1940 erstreckte sich dieselbe Verordnung auf Minderjährige, welche Handlungen verüben, die den Eisenbahnverkehr gefährden wie z. B. Lockerung von Schienen, Auflegen harter Gegenstände auf Eisenbahnschienen. Für all diese Straftaten verordnete das Gesetz von 1941, daß Minderjährige von 14 und mehr Jahren den ordentlichen Strafverfahren, Verfolgungszwang etc. unterworfen sind.

Die Errichtung besonderer Erziehungsanstalten für Minderjährige von 11 bis 16 Jahren wurde am 15. VI. 1943 angeordnet, für verwahrloste Jugendliche, die Diebstähle oder andere kleinere Vergehen verübt hatten. Ihre Einweisung in Anstalten erfolgte auf Anordnung der Organe des Innenministeriums ohne gerichtliches Verfahren. (U g o 1 o vn o j e pravo. Obscaja cast. Moskva 1943, S. 137.)

f. Bestrafung unschuldiger Personen (Geiseln)

Das sowjetische Strafrecht sieht ausdrücklich die Bestrafung von gänzlich unschuldigen Personen — Geiseln — vor. Wenn z. B. jemand der beim Militär dient, ins Ausland flüchtet, so werden —sogar in Friedenszeiten — die erwachsenen Angehörigen seiner Familie oder Leute, die von ihm unterstützt werden mit fünf Jahren Verbannung nach den entlegensten Gebieten Sibiriens bestraft, selbst wenn diese von den Plänen des Fahnenflüchtigen nichts wußten.

§ 16. WIRTSCHAFTSVERBRECHEN Der sowjetische Staat ist der ausschließliche Herr aller Produktiv-kräfte und somit der gesamten Wirtschaft des Landes — oder wenigstens will er es sein. Dies bewirkt, daß die privaten Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich in ein öffentliches Verhältnis von Souverän zu Untergebenem umänderten. Die gesamte Wirtschaft stellt ein öffentliches Unternehmen dar, das mit der Vollmacht offizieller Staatsautorität betrieben wird. Das sowjetische Recht ver-bietet unter schwerer Strafandrohung zahlreiche Rechtsgeschäfte und Handlungen, die in nicht-sowjetischen Staaten als ganz rechtmäßig betrachtet werden. Daraus ergibt sich eine Reihe Verbrechen, die im fachtechnischen Sinne unpolitische Vergehen sind, denen das nach unserem Standpunkt notwendige Element der Rechtswidrigkeit fehlt, die aber nach kommunistischer Auffassung die sozialistische Ordnung gefährden.

Das sowjetische Strafgesetzbuch sieht schwere Strafen vor für „Herstellung, Aufspeicherung, Ankauf zum Wiederverkauf, sowie auch Umsatz“ von Gütern, deren Handel eingeschränkt ist (Art. 99, Strafgesetzbuch der RSFSR). Ebenso verbietet es Privatpersonen gewinnabwersenden (mag dieser noch so gering sein) Aufkauf und Wiederverkauf von praktisch allen Arten von Gütern (gemäß den neuesten Auslegungen; Art. 107).

Zu diesen sogenannten Wirtschaftsverbrechen sind auch folgende zu rechnen: Nichterfüllung der mit dem Staate geschlossenen Verträge (Art. 130, 131); Verletzung des Staatsmonopols für Außenhandel (Art. 59); Versagen in den Dienstleistungen oder Ablieferungen von Erzeugnissen an den Staat (Art. 61); Private Rechtsgeschäfte betreffend Grund und Boden (Art. 87 a); Nachlässige Betriebsführung (Art. 128, 129); Verwendung falscher Gewichte und Maße (Art. 128b); Versuche eines privaten Geschäftsbetriebes unter der Tarnung eines genossenschaftlichen Unternehmens (Art. 129 a). In Fällen von Veruntreuung und Diebstahl ist die Verantwortung größer, wenn es sich um Staats-eigentum handelt, als bei gleichen Vergehen an Privatbesitz (Verordnung vom 4. VI. 1947, Vedomosti, 1947, Nr. 19).

Zur selben Gruppe wirtschaftlicher Verbrechen gehören ferner: Ab-schlachtung eigener Pferde oder anderen Viehstandes, nachlässige Behandlung von Maschinen und Tieren in Kollektivwirtschaften, Sowjet-wirtschaften und Maschinen-Traktoren-Stationen (Art. 79 1, 792 und 79 4).

Eine Änderung in dieser Hinsicht wurde nach Stalins Tod nicht versprochen. Diesbezügliche Gerichtsprozesse, soweit sie überhaupt öffentlich bekannt geworden sind, zeigten unerbittliche Strenge in den Urteilen.

In Sowjetrußland sind die Strafen für die meisten Verbrechen viel strenger als in den USA. Ein sowjetisches Gericht verurteilte kürzlich einen Mann wegen rücksichtslosen Fahrens in betrunkenem Zustands zu zehn Jahren Gefängnis. Ein anderer, der einen Radioapparat gekauft und mit Gewinn wiederverkauft hatte, erhielt acht Jahre Gefängnis. Eine Frau, die hundert Kilo Zucker kaufte und zum doppelten Preise wieder verkaufte, erhielt fünf Jahre, und ihr Gatte, der ihr bei diesem Geschäft behilflich war, zwei Jahre Gefängnis. Der Buchhalter und Betriebsleiter einer Genossenschaft, der sich aus deren Kasse kleine Geldbeträge aneignete, wurde zu zwölf Jahren verurteilt und zur staatlichen Konfiszierung seines ganzen Besitzes. Ein anderer Veruntreuer von Staatsgeldern erhielt zehn Jahre Gefängnis, und sein gesamter Besitz wurde vom Staate konfisziert. Uber einen Arbeiter in einem staatlichen Geschäftshaus, der sich 51, 700 Rubel aus dem Staatsgeld aneignete, wurden zwanzig Jahre „Besserungsarbeitslager" verhängt. Zwei Betrunkene, die eine Theatervorstellung unterbrachen, erhielten vier Jahre bzw. drei Jahre Gefängnis. (Für Fälle von liederlichem Benehmen sind Strafen bis zu fünf Jahren üblich.) Zwei Männer, die einem Bauern eine Kuh stahlen und diese zu verkaufen suchten, wurden zu zehn Jahren „Besserungsarbeitslager"

verurteilt. Der Direktor einer Fabrikanlage, welcher Material verschleuderte und Gelder im Gesamtbeträge von 40 000 Rubel (3200 Dollar) unterschlug, wurde zu zehn Jahren Gefängnis und zur Schaden-ersatzleistung verurteilt. (Justice William O. Douglas, R u s s i a n J o u r n e y , 1956, S. 145.)

Russische Zeitungen berichten fortwährend über ähnliche und sogar strengere Strafmaßnahmen für strafbare Handlungen, welche Gerichte anderer Länder niemals als Verbrechen betrachten würden, sondern als Vergehen, für die geringere Strafarten vorgesehen sind. Beispielsweise wid für Veruntreuung oder Diebstahl an staatlichen Warenlagern eine Gefängnisstrafe von 25 Jahren angedroht; acht bis zehn Jahre sind üblich für Veruntreuung oder Diebstahl landwirtschaftlicher Produkte durch Mitglieder von Kollektivfarmen. Gewinnbringender Wiederverkauf von Autos, Kühlschränken und anderer Handelswaren, für welche keine festen Preise vorgeschrieben sind, hat Gefängnisstrafen von acht bis zehn Jahren zur Folge. (Kazachstanskaja Prawda, 13. X. 1935; 1. III„ 17. IV. und 24. VIII. 1956; Prawda, 4. III. 1956;

Izvestija, 25. XL 1954; Bakinskij Rabocij 3. II. und 27. III. 1956.)

F. Die Gerichte d ihr Verfahren

§ 17. DIE SOWJETISCHEN GERICHTE Die Funktion der Gerichtshöfe in Sowjetrußland dient mehr dem Schutz des Staates als dem Rechtsschutz des Individums oder der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Die Gerichte sind in wohlerwogener Absicht als politische Instrumente eingesetzt.

a. Der Oberste Gerichtshof (Privatpersonen nicht zugänglich)

Es ist Aufgabe des Obersten Gerichtshofes der Sowjetunion „die Justizverwaltung aller gerichtlichen Organe der UdSSR und der Bundesrepubliken zu beaufsichtigen" (Gerichtsverfassungsgesetz vom Jahre 1938, Art. 64).

Zu diesem höchsten Gerichtshof haben jedoch private Parteien keinen Zugang. Einer privaten Partei steht kein direktes Rechtsmittel zur Verfügung, einen Streitfall vor das Oberste Gericht zu bringen. In Berufung auf die zustehenden Apellationsrechte können Beschuldigte nur bis zu den obersten Gerichten der Bundesrepubliken (Sowjetstaaten) gelangen, aber nicht höher. Als allgemeine Regel gilt, daß eine Streitsache nur dann vor das Oberste Bundesgericht (der UdSSR) gebracht werden darf, wenn vom Staatsanwalt der UdSSR oder den Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der UdSSR „Protest gegen endgültige Urteile und Entscheide in Straf-und Zivil-Sachen" erhoben worden ist. (edd., Klausel a). b. Dr Richter sind weder in Theorie noch in Wirklichkeit unabhängig Die Stellung eines sowjetischen Richters entbehrt der Voraussetzungen, die seine Unabhängigkeit garantieren. Die Richter eines Gerichtes niederer Instanz, des sogenannten Volksgerichtes sind die einzigen Richter, welche direkt von der Wählerschaft des Wahlbezirkes gewählt werden. Ihre Amtsdauer ist jedoch sehr kurz, nur drei Jahre; und das Recht, Richterkandidaten zur Wahl vorzuschlagen, ist der Kommunistischen Partei und den von diesen kontrollierten Organisationen vorbehalten. Das Wahlgesetz trat zum erstenmal am 25. September 1948 in Kraft.

Außerdem kann jeder Richter von der Wahlkörperschaft seines Amtes enthoben werden. Ein solcher Widerruf kommt nicht einer Anklage gleich; es brauchen keine besonderen Anschuldigungsgründe vorzuliegen. Widerruf heißt einfach Enthebung vom Amte durch ein Mißtrauensvotum der Wahlkörperschaft, die dem gewählten Richter das Vertrauen entzieht.

Die Richter der höheren Gerichte werden „gewählt", d. h. sie werden von den höheren Räten (Sowjets), von den Lokalräten, den Sowjets der Republiken und vom Obersten Sowjet für die Dauer von fünf Jahren ernannt und sind ebenfalls einer möglichen Absetzung durch die Vollzugsausschüsse der Sowjets unterworfen.

Der sowjetische Richter ist Berufsrichter in dem Sinne, daß das Richteramt während der kurzen Amtszeit eine vollamtkche Stelle mit festem Gehalt bedeutet. Eine Ausbildung in der Rechtswissenschaft ist nicht erforderlich. Weder ist eine solche Ausbildung von ihm durch ein Gesetz verlangt, noch besitzen die Mehrzahl der Richter eine solche Befähigung. Fast ausnahmslos sind alle Kommunisten (95, 5 Prozent im Jahre 1935; die letzten zugänglichen Ziffern); aber im Jahre 1947 genossen nicht mehr als 14, 6 Prozent ein hochschulmäßiges Rechts-studium und 21, 8 Prozent erhielten eine Rechtsausbildung. Somit scheint der Mehrheit (64 Prozent) überhaupt jegliche Rechtsausbildung zu fehlen. (SocialisticeskajaZakonnost, 1947 Nr. 2 S. 11.)

c. Die Richter sind nicht unparteiisch Die Richter gelten nicht für unparteiisch. Vysinskij stellte nachdrücklich selbst die Möglichkeit einer Unparteilichkeit des Richters gemäß sowjetischer Theorie in Abrede:

„Die kapitalistischen Theoretiker ... wollen das Gericht als eine Institution hinstellen, welche über den Gesellschaftsklassen und jenseits von Politik steht ... und den allgemein-menschlichen Normen des Rechts und der Gerechtigkeit unterstellt ist. Ein solches Verstehen des Wesens der Gerichtsbarkeit ist von Grund auf trügerisch. Die Gerichte sind immer Instrumente in den Händen der herrschenden Klasse gewesen, die dieser ihre Herrschaft sicherte und ihre Interessen in Schutz nahm." (Sovetskoje gosudazstrennoje pravo, 1938, S. 449.)

Somit war der sowjetischen Gerichtsbarkeit eine vorbehaltlose politische Aufgabe von den sowjetischen Theoretikern zugewiesen. Sie wurde von Vysinskij im Jahre 1941 mit folgenden Worten umrissen:

„Weder die Gerichtsbarkeit noch das gerichtliche Verfahren stehen oder können jenseits der Politik stehen. Dies besagt, daß Inhalt und Form der gesamten den Gerichten zugewiesenen Tätigkeit einer Unterordnung unter politische Klassenziele und Klassenbestrebungen nicht entrinnen können." (Vysinskij, Teorija sudebnych dokazatelstv v sovetskom prave, 1941, S. 31.)

Der Justizminister wandte sich im Jahre 1947 an die sowjetischen Richter mit folgenden Worten über die Art und Weise gerichtlichen Vorgehens:

„Der Richter muß wissen, wie man Prozeßverfahren leitet und wie man Urteile abfaßt in einer Weise, die mit äußerster Klarheit die politische Bedeutung des Streitfalles aufzeigt, so daß sowohl dem Angeklagten wie auch allen anderen im Gerichtssaal Anwesenden die Regierungspolitik in der Gerichtsbarkeit ersichtig wird.“ (S o c i a 1 i -

s ticeska j a Zakonnost, 1947, Nr. 2, S. 5.)

§ 18. DAS GERICHTLICHE VORVERFAHREN Der Schutz des Unschuldigen, der nach anglo-amerikanischem Recht durch das „habeas corpus" und durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft (indictment by grand jury) zugesichert ist, war im Vorkommunistischen Recht Rußlands und in den Satellitenländern durch die gerichtliche Untersuchung (instruction, predvazitelnoje sledstvie) in allen größeren Fällen gewährt.

Diese wurde von einem Untersuchungsrichter (Sudebnyi sledovatel, Juge d'instruction) geführt, der die Stellung eines Richters innehatte und mit allen Garantien gerichtlichen Verfahrens vorging.

Unter den Sowjets wurde das Amt des Untersuchungsrichters zusammen mit allen Gerichtshöfen im Jahre 1917 abgeschafft. Der „Volksuntersuchungsbeamte" nahm dessen Stelle ein. Während der nachfolgenden Jahre gingen diesen . Untersuchungsbeamten'alle richterlichen Eigenschaften in ihrer Amtstätigkeit und Stellung mehr und mehr verloren; ihre Untersuchungen unterschieden sich kaum mehr von polizeilichen Ermittlungen, und deren Ergebnisse wurden als Beweismittel angeführt.

Wir zitieren eine sowjetische Abhandlung über das Strafverfahren:

„Im sowjetischen Strafverfahren besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen polizeilichen Ermittlungen und der Voruntersuchung, obwohl beide Begriffe in der jetzigen Strafprozeßordnung sich behaupten. Polizeiliche Ermittlungen und die Voruntersuchung sind von gleicher gerichtlicher Bedeutung. Die Akten über die Ermittlungen sowie auch das Protokoll der Voruntersuchung sind Beweismittel und werden vom Gericht als Beweismittel zur Schöpfung des Urteils benützt. Der Unterschied zwischen Vernehmung und Voruntersuchung ist auf die Zuständigkeit der Ermittlungs-und Vernehmungsorgane zurückgeführt, woraus sich ergibt, daß die komplexeren und wichtigeren Straffälle der Gerichtsbarkeit der Voruntersuchungsorgane (Untersuchungsbeamten) zugewiesen werden und alle anderen Fälle den polizeilichen Ermittlungsorganen übertragen werden." (Strogovic U c e b n i k ugolovnogo processa, 1938, S. 118.)

Es sei auch darauf hingewiesen, daß die Anklage (obvinitelnoje zaklucenije) in der Regel vom Untersuchungsbeamten verfaßt wird. Hernach wird die Anklageschrifft nur noch vom Staatsanwalt geprüft und dient als automatisch zugelassene Anklage ohne nochmalige Überprüfung durch das Gericht. Somit steht der Angeklagte vor Gericht in einem öffentlichen Prozeß, nachdem er vorerst der harten Probe der Untersuchung im Stil der Geheimpolizei unterworfen wurde.

§ 19. DIE REVISION RECHTSKRÄFTIGER ENTSCHEIDE VON AMTS WEGEN Es ist bezeichnend für das sowjetische Appellationsverfahren, daß für die Revision eines rechtskräftigen Urteils den privaten Parteien (die streitenden Parteien in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und der Angeklagte und sein Anwalt) einerseits und den Regierungsanwälten und Gerichtspräsidenten andererseits ungleiche Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Regierungsanwälten steht nicht nur das Appellationsrecht zu, sondern auch das Recht, die Revision eines rechtskräftigen Urteils von Amts wegen zu beantragen. Dieses Recht besitzen auch die Präsidenten der Regionalgerichte und der obersten Gerichte. Die Revision muß nicht innerhalb einer bestimmten Frist nachgesucht werden.

Die Revisionen rechtskräftiger Entscheide werden in regioialen Gerichten von einem besonderen Richterkollegium, dem sogenannten Präsidium und von den Obersten Gerichten unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorgenommen. Eine einmal vorgenommene Revision kann nochmals wiederaufgenommen werden. Eine Strafsache kann wiederaufgenommen werden selbst wenn das Urteil des Strafgerichtes oder des Appellationsgerichtes auf Freispruch lautete. Die gesetzlichen Gründe für eine Revision sind sehr weit gefaßt: Die Revision kann nachgesucht werden, wenn, in einer Zivilsache, der Entscheid eine besonders wesentliche Verletzung der Interessen des Staates oder derjenigen der werktätigen Masse in sich schließt. In Strafsachen sind die Gründe nicht ausdrücklich angeführt. Parteien haben kein Recht Revisionsgesuche einzureichen. Doch können sie (was tatsächlich auch unternommen wird) eine Wiederaufnahme des Verfahrens veranlassen, indem sie Regierungsbeamte, die zur Beantragung ermächtigt sind, mit ihren Beschwerden betrauen. Somit nimmt das sowjetische Appellationsverfahren seinen Anfang in einer öffentlichen Gerichtssitzung, unter Mitwirkung der Parteien, aber nachher kann es sich hinter geschlossenen Türen als eine rein interne Angelegenheit der Staatsanwälte und der Gerichte in die Länge ziehen.

Die Wiederaufnahme von Sachen von Amts wegen macht das gesamte sowjetische Gerichtsverfahren mehr einem administrativen Verfahren als einem Gerichtsprozeß ähnlich.

Fussnoten

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