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Antifaschistische Arbeit | APuZ 18/1980 | bpb.de

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APuZ 18/1980 Artikel 1 Die Widerstandskämpfer im Zuchthaus Brandenburg-Görden 1933— 1945 Antifaschistische Arbeit Der lange Weg nach Brandenburg-Görden Der gläserne Sarg Erinnerungen an das Zuchthaus Brandenburg in den Jahren 1938— 1940 Schulalltag im Dritten Reich Fallstudie über ein Göttinger Gymnasium

Antifaschistische Arbeit

Walter Uhlmann

/ 26 Minuten zu lesen

Wegen Opposition gegen die ultralinke, antigewerkschaftliche Politik der KPD wurde ich 1928 ausgeschlossen und gehörte seitdem der KP (Opposition), der sogenannten Brandlergruppe, an. Im Jahr 1920, als 16jähriger, war ich Mitglied des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) geworden und hatte mich seitdem um eine aktive Gewerkschaftspolitik bemüht. Dafür ein Beispiel: Aufgrund meines im Jahre 1930 vor der erweiterten Ortsverwaltung des DMV Berlin begründeten Antrages gegen die Einführung einer Arbeitsdienst-pflicht für die Jugend lehnte auch die General-versammlung der Berliner Metallarbeiter derartige Pläne mit aller Entschiedenheit ab. Am Februar 1933 — ich war damals Vertreter der Kommunistischen Jugendopposition in der Reichsleitung der KPO — forderte unsere Organisation zu sofortigen gemeinsamen außerparlamentarischen Aktionen von SPD, Gewerkschaften und KPD auf, mit dem Ziel: Sturz der faschistischen Diktatur. Das war zwei Tage nach der Bildung der Hitler-Regierung. Ein Flugblatt hatte ich als Verantwortlicher gezeichnet, weil die Druckerei es sonst abgelehnt hätte, den Auftrag zu übernehmen. Bereits wenige Tage später fahndete die Polizei nach mir. Mehrere Male mußte ich daraufhin in Berlin den Wohnsitz wechseln. Ich wurde steckbrieflich gesucht. Auch dem Arbeitsamt in Berlin-Schöneberg lag die Fahndungsmeldung vor, so daß ich nicht einmal meine Arbeitslosenunterstützung abheben konnte.

Von 1933 bis zu meiner Verhaftung am 22. Februar 1937 lebte ich illegal in einem Hinter-

haus in Berlin-Spandau. Unsere Organisation stand finanziell auf schwachen Füßen — eine Unterstützung war demnach unmöglich. Mit falschen Angaben gelang es mir, im Jahre 1934 als Mechaniker Arbeit bei der „Kreiselgeräte GmbH" zu finden. Die Firma lag in der Goerz-

Allee in Berlin-Zehlendorf, nur wenige hundert Meter von der Stadtgrenze nach Teltow entfernt. Hier, in einem Rüstungsbetrieb mit einer Belegschaft von etwa 500 Mann, ent-

Stand auf meine Initiative hin im Jahre 1934 eine illegale gewerkschaftliche Widerstandsgruppe. ^er Betrieb wurde von Woche zu Woche gröberi in der neuen Belegschaft „beroch" man sch gegenseitig und entdeckte bald, wer beim etreten des Werks mit betonter Überzeugung die Hand zum Hitlergruß erhob. Denn im Pförtnerhäuschen nahm allmorgendlich der Leiter der „Nationalsozialistischen Betriebs-zellen-Organisation" (NSBO) sehr kritisch seine Parade ab. In der Dreherei, der mechanischen Fertigung, der Montage und im Materiallager hatte er einige uniformierte Nazis untergebracht. Hauptsächlich handelte es sich um Hilfsarbeiter, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der SA (Sturmabteilung) oder der NSDAP in den Betrieb geschleust worden waren. Die Facharbeiter (Dreher, Mechaniker, Werkzeugmacher) waren zum großen Teil ehemalige Mitglieder des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, jetzt aber gewerkschaftlich „heimatlos".

Der 1. Mai 1934 kam heran. Wenige alte Gewerkschaftler waren, wie sich in Gesprächen herausstellte, im Vorjahr auf dem Tempelhofer Feld gewesen. In jenem Jahr hatte Hitler den 1. Mai zum „Tag der nationalen Arbeit" erklärt. Anstatt nun aber klare Grenzen zu ziehen, forderte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), die Spitzenorganisation der freien Gewerkschaften, zur Teilnahme an dieser Nazi-Maikundgebung auf. Man gab sich der verhängnisvollen Illusion hin, der Nazi-staat sei nur von kurzer Dauer und auf die großen gewerkschaftlichen Organisationen könne man nicht verzichten. Die Führung glaubte, daß es möglich sei, mit den neuen Machthabern Abmachungen zu treffen, die eine Existenz der Gewerkschaften auch im „Dritten Reich" sichern würden. Hans Gott-furcht, ehemals stellvertretender Generalsekretär des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG), kennzeichnet diese Situation in seinem Buch „Die internationale Gewerkschaftsbewegung im Weltgeschehen": „Im Internationalen Gewerkschaftsbund bestand Enttäuschung über das Verhalten der deutschen Gewerkschaftsführung. Ihre Bereitschaft, in den Naziführern Verhandlungspartner zu sehen, war unverständlich." 1) Am 2. Mai 1933 gab es die Quittung für diese Verhandlungsbereitschaft: Alle Gewerkschaftshäuser in Deutschland wurden besetzt und die Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Be-amten „gleichgeschaltet". Es gab aber auch einzelne Beispiele für Widerstandshaltungen: so zum Beispiel verhinderte der DMV-Bevollmächtigte persönlich das Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Gewerkschaftshaus in Eisenach. Die Zeichen der Kapitulation vor den Nazis wirkten auch 1934 unter den Kollegen der Firma „Kreiselgeräte" noch deprimierend nach und immer wieder gab es Diskussionen unter vier Augen am Arbeitsplatz oder auf dem Heimweg. Inzwischen kannten sich eine ganze Anzahl von Kollegen; sie vertrauten sich gegenseitig. „Uns bekommt niemand zur Nazi-Partei oder gar zur Nazi-Maiparade. Wir gehen zwar zum Sammelplatz, aber dann verduften wir", war die Parole, die bald von Mund zu Mund ging. An jenem 1. Mai 1934 konnten wir erneut prüfen, auf wen Verlaß war. Wir lernten wiederum eine Menge: Dem einen konnte man mehr anvertrauen als dem anderen, und die „Schlappen“, wie wir sie nannten, entpuppten sich bei diesen Anlässen bald. Kurzum: unsere Gruppe formierte sich im Untergrund des Betriebs — freilich ohne Uniform und Abzeichen. Ein Ereignis, bei dem sich die heimlichen Fronten im Betrieb abzeichneten, war die so-genannte Röhm-Revolte im Juni 1934. Wenige Tage danach kam es zu einem Wortwechsel zwischen einem SA-Mann und dem Mechaniker Bruno Kurze, einem kompromißlosen Gegner der Nazis. Der SA-Mann lief zum Obmann der NSBO und denunzierte unseren Kollegen. Bruno wurde daraufhin zum Betriebsführer, einem ehemaligen Kapitän, gerufen. In der Werkstatt bildeten sich Gruppen. Es gab böse Blicke und erregte Diskussionen. Der erste Zusammenstoß zwischen den Nazis und ihren Gegnern im Betrieb offenbarte, auf wen wir rechnen konnten. Die NSBO hatte die sofortige Entlassung des Kollegen und die Benachrichtigung der Polizei über den Vorfall verlangt. Die Erfüllung dieser Forderung aber wurde von der Betriebsleitung, die offenbar keine Spannung im Betrieb wollte und — wie sich später herausstellte — auch kein Freund der Nazis war, verhindert. Bruno kam nach zwei Stunden, gegen elf Uhr, vom Betriebsführer zurück und teilte uns kurz mit, was sich zugetragen hatte.

Nun mußte etwas unternommen werden. „Heute in der Mittagspause sammeln wir uns draußen auf dem Hof um Bruno!" Unsere Brote verzehrend, saßen wir dann um ihn herum. Jeder sollte sehen: Bruno hat Freunde. Er steht nicht allein!

Heute erscheint das alles recht harmlos und kaum erwähnenswert. Damals aber, in einer Zeit des rücksichtslosen Terrors, waren selbst die Nazis von dieser Solidaritätsaktion im Betrieb überrascht. Die stille, doch sichtbare Schutzaktion stärkte das gegenseitige Vertrauen unter den Kollegen weiter. Sie zeigte den Nazis und der Betriebsführung, wie die Stimmung in der Belegschaft war und schützte bis zu einem gewissen Grade unseren denunzierten Kollegen. Die uniformierten Nazis aber wurden noch stärker ignoriert und verachtet. Nach sechsmonatiger Arbeit — von Januar bis Juni 1934 — war es soweit, daß wir eine fest geschlossene gewerkschaftliche Widerstandsgruppe organisieren konnten. Ähnliches hatte sich auch in anderen Berliner Metallbetrieben abgespielt. Alte Bekanntschaften aus der Vertreterversammlung des DMV, den einzelnen Branchen-und Stadtteilversammlungen wurden wieder angeknüpft. Schon unmittelbar nach der Zerschlagung der freien Gewerkschaften am 2. Mai 1933 fanden sich hier und da die Kollegen in kleinem Kreis wieder zusammen. Jeder von ihnen spürte: „Es muß weitergehen, wir dürfen nicht aufgeben." Die Verbindungen liefen bald quer durch Berlin, von den Arbeitsämtern — es gab noch viele Arbeitslose — bis in die Klein-und Großbetriebe von Spandau, Moabit, Neukölln und Siemensstadt. Da gab es den Dreher Willi Bölke (SPD), bis 1933 Mitglied der erweiterten Ortsverwaltung des DMV. Seit Jahren schon besaß er freundschaftliche Beziehungen zu Kollegen der KPO. Sie hatten seit 1928 den antigewerkschaftlichen Kurs der KPD abgelehnt und bekämpft-Zum gleichen Kreis zählten ferner mehrere Mitglieder der KPD, die der Parteilinie entgegen bis zum Schluß im Deutschen Metallarbeiter-Verband geblieben waren, anstatt sich dem Aufruf in der Roten Fahne vom 30. März 1930 zur Gründung eines „Roten Metallarbeiter-Verbandes" anzuschließen. Alle empfanden den Zusammenbruch der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung nicht als ein unabwendbares Schicksal. Seit Jahren hatten sie die Katastrophe kommen sehen. Bei ihnen gab es jetzt keine Verwirrung. Dringlichste Verpflichtungen waren für sie:

— kein freiwilliger Übertritt zur nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF) — Zusammenschluß von Kollegen, um den Grundstock zur Bildung unabhängiger Klassengewerkschaften zu legen. Das konnten keine Massenorganisationen, sondern nur kleine Kadergruppen sein, — keine Teilnahme an Veranstaltungen der DAF, — keine Übernahme von Funktionen in der DAF.

Gerade diese letzte Verpflichtung war von besonderer Bedeutung, denn nicht wenig trug nach 1933 die Parole der KPD zur Verwirrung der Arbeiterschaft bei, die revolutionären Arbeiter müßten Funktionen in der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront übernehmen, um diese Organisation „von innen her zu erobern". Eine solche Strategie hatte uns nach dem Zusammenbruch der einst so mächtigen deutschen Arbeiterorganisationen gerade noch gefehlt. Vor 1933 hatte die gleiche KPD-Führung die Arbeiter aufgefordert, den freien Gewerkschaften den Rücken zu kehren und sich den „roten Verbänden" anzuschließen; nun sollten sie die von den Nazis beherrschten faschistischen Gewerkschaften „erobern“. Nicht allein bei der Firma „Kreiselgeräte" hatten sich gewerkschaftliche Widerstandsgruppen gebildet, sondern auch bei Goerz-Zeiss-Ikon in Zehlendorf, bei der Auto-Union in Spandau, bei Siemens in Marienfelde, bei der AEG und bei der Firma Lorenz AG, Schöne-berg. Nun wurde als gemeinsamer organisatorischer Rahmen ein Aktionskomitee als zentrale Leitung für die bestehenden Widerstandsgruppen der Berliner Metallindustrie gegründet und die Herausgabe des illegalen.

Organs „Der Metallarbeiter" beschlossen. Das Aktionskomitee, dem auch ich angehörte, konstituierte sich aus fünf Kollegen des ehemaligen DMV. Politisch gehörten sie zur SPD, KPO und KPD. Im Hintergrund stand keine große und finanzkräftige Organisation; alles wurde aus eigenen Mitteln geschaffen, so auch „Der Metallarbeiter, Organ des Aktionsausschusses der Gruppe Metall". Wie aus dem Untertitel, ersichtlich, waren auch in anderen Industriezweigen Aktionsausschüsse entstanden, so zum Beispiel im graphischen Gewerbe.

Die Herstellung des „Metallarbeiters" war mit vielerlei Schwierigkeiten und Risiken für die daran Beteiligten verbunden; das Material Mußte gesammelt, die Wachsplatten geschrieben und das Abzugspapier für den Vervielfältigungsapparat beschafft werden. Aber wer War schon bereit, in seiner Wohnung solche hochverräterischen und verbrecherischen Handlungen" zu gestatten? Schon das Klappern elner Schreibmaschine konnte verhängnisvoll sein. Schließlich mußte nach der Herstellung der Zeitung alles sicher, aber auch schnell verfügbar, versteckt werden. Wenn die Zeitung technich fertiggestellt war, begann die Konspiration erst richtig. Zuverlässige Kollegen, oft deren Frauen, brachten das Material, in einem Tuch um den Leib gewickelt, in die einzelnen Berliner Stadtteile. Dort nahmen es die Vertrauensleute der betrieblichen Gewerkschaftsgruppen in Empfang und sorgten für die Weiterverbreitung in ihren Betrieben. Dies aber erforderte ein ganz besonderes Maß an Menschenkenntnis, Geschicklichkeit, vor allem aber einen großen, auf Überzeugung basierenden Mut, gepaart mit den strengsten Regeln für illegales Arbeiten.

Jeder mußte sich immer wieder vor Augen halten: Werde ich bei der Weitergabe des „Metallarbeiters" geschnappt oder auch nur beobachtet, dann gefährde ich nicht nur mich, sondern auch viele andere. Am Ende stehen KZ, Gefängnis, Zuchthaus. Einmal konnte aus Sicherheitsgründen für den Wohnungsinhaber der Vervielfältigungsapparat längere Zeit nicht benutzt werden. Was war zu tun? In kleinerem Kreis wurde das Problem besprochen. Unsere Freunde in einem Wilmersdorfer Radiobetrieb fanden einen wahrhaft ungewöhnlichen Ausweg: eines Tages war der Vervielfältigungsapparat der Nazi-Betriebsgruppe verschwunden — er hatte den Besitzer gewechselt. Von nun an diente er einem besseren Zweck: wir stellten damit den „Metallarbeiter" her. Unsere Freude währte aber leider nicht lange.

Die Beschaffung des Abzugspapiers sowie der Transport und die Verteilung des illegalen gewerkschaftlichen Materials wurden immer schwieriger. Ohne besondere Genehmigung wagte es kein Geschäftsmann, Vervielfältigungsapparate oder Abzugspapier zu verkaufen. Die Gestapo hatte begriffen, wie man die Untergrundarbeit — wenn schon nicht völlig unterbinden, so doch bis zu einem gewissen Grade — hemmen und lähmen konnte. Auch hier fand sich ein Ausweg, der unsere Arbeit in mancher Hinsicht sogar erleichterte. Wir stellten uns auf die fotomechanische Vervielfältigung um. Von nun an paßte der „Metallarbeiter" in die damals übliche Zwanziger-Zigaretten-Packung. Wenn Freunde von uns in Gefahr gerieten — es gab oft Razzien in den Straßen —, war es leichter, eine solche Zigaretten-packung verschwinden zu lassen als ein Bündel abgezogener Zeitungen. Für das Weiterreichen am Arbeitsplatz oder die Hinterlegung in Garderobenschränken oder auf den Toiletten war das kleine Format von unschätzbarem Vorteil.

Ein Teil der überzeugungstreuen Berliner Metallarbeiter hatte mit dem Aktionsausschuß und der regelmäßigen Herausgabe ihres Organs einen Mittelpunkt des organisierten Kampfes geschaffen. Das Ziel hieß: Bildung weiterer gewerkschaftlicher Widerstandsgruppen. Dies war eine — wenn auch bescheidene — Antwort auf das Versagen der großen Arbeiterorganisationen. Meßbar wurden die Ergebnisse der illegalen Tätigkeit besonders nach den „Vertrauensrätewahlen 1935“. Frei gewählte Betriebsräte waren von den Nazis verboten worden. Als Ersatz propagierte die Deutsche Arbeitsfront betriebliche „Vertrauensräte"; die Kandidaten stellte die NSBO auf.

Für Arbeiter mit einer gewerkschaftlichen Vergangenheit war es selbstverständlich, kein von den Nazis abhängiges Amt anzunehmen.

Wer auf den Listen der Nazis kandidierte, der bejahte das Dritte Reich und wurde von uns als Überläufer betrachtet. Die Arbeiter in den Betrieben gaben denn auch die richtige Antwort anläßlich dieser Vertrauensräte-Wahlen.

Wir zitieren aus einem illegalen Flugblatt des Aktionsausschusses der „Gruppe Metall''aus dem Jahre 1935:

„Die Wahlen zu den . Vertrauensräten'liegen hinter uns. Die gleichgeschaltete Presse meldet 83 Prozent Ja-Stimmen. Dabei passiert ihr das Malheur, nur etwas über sieben Millionen Abstimmungsberechtigte zu registrieren. Der Schwindel ist so dick aufgetragen, daß selbst , Nazi-Anhänger in den Betrieben das amtliche Siegesgeschrei belächeln. Die Resultate bewiesen im einzelnen, daß der Propagandaapparat der Nazis weiter nichts produzierte als lauter Bluff.

Bei der Knorrbremse in Berlin z. B. ist die Liste von der Mehrheit der Belegschaft abgelehnt worden; daraufhin hat ein Beauftragter des . Treuhänders'die abgelehnten Vertrauensräte trotzdem eingesetzt.

Bei AEG-Telefunken und einer Reihe anderer Großbetriebe ist ein Teil der Kandidaten mit knapper Mehrheit gewählt worden, ein anderer Teil durchgefallen.

Die gleichen Erscheinungen wie in Berlin zeigten sich im Reich. An der Wasserkante, im Ruhrgebiet, in Stuttgart, Breslau und Dresden, in den Gebieten, wo die Kollegen die illegale Gewerkschaftsarbeit aufgenommen hatten, überall dasselbe Bild der Ablehnung des Dritten Reiches und seiner Lakaien."

Nie wieder versuchten die Nazis, die Arbeiter in den Betrieben in geheimer Abstimmung um ihre Meinung zu befragen. Die Vertrauensrätewahlen 1935 haben ihnen für immer gereicht. Wir bei „Kreiselgeräte" waren besonders stolz auf das Wahlergebnis, denn noch 1934 gab es nur neun ungültige beziehungsweise Nein-Stimmen. Diesmal aber hatten wir insgesamt 220 von 500 Beschäftigten erreicht. Erst hieß es, die Wahl werde wegen der vielen Enthaltungen und Nein-Stimmen wiederholt Aber auch das ließen die Nazis dann sein. Unsere Arbeit ging weiter. Erst im Dezember 1936 traten die letzten fünf Kollegen in die Deutsche Arbeitsfront, die Zwangsorganisation der Nazis, ein. So lange hatten wir uns widersetzt. „Der Metallarbeiter" drang in weitere Betriebe ein. Dennoch wußten wir: Das NaziRegime werden wir allein nicht aus den Angeln heben. Aber die Arbeit trug dennoch Früchte. Unser Beispiel machte Schule, das Verbreitungsgebiet ging über Berlin hinaus.

Im Februar 1937 war für mich die illegale Tätigkeit zu Ende. Im Betrieb wurde ich von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet. Daß die Gruppe weiterarbeitete, hörte ich später: Die Kosten für meinen Wahlverteidiger im Prozeß vor dem Volksgericht hatten die Kollegen der gewerkschaftlichen Widerstandsgruppen bei „Kreiselgeräte" und „Goerz” aufgebracht.

Das Urteil lautete: 8 Jahre Zuchthaus. Im Februar 1945 wäre die Zeit umgewesen. Jedoch erst Ende April 1945 wurden die Gefangenen im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch den Vormarsch der Sowjetarmee befreit.

Das letzte Jahr im Zuchthaus Brandenburg Im Juni 1944 fuhr der LKW des Zuchthauses Brandenburg, ein auf Holzgas umgestellter Drei-Tonnen-Diesel, wieder einmal von Brandenburg nach Berlin. Wir brachten Möbel hin und holten Leder und andere Rohmaterialien zur Weiterverarbeitung für die Schumacherei, Schneiderei und die anderen Werkstätten der Anstalt. Mein „Schien“ (Bezeichnung für den Anstaltsbeamten durch die Häftlinge) war der Hilfswachtmeister und Chauffeur des LKW, Willi Donath; als sein Mitfahrer war ich verantwortlich für Pflege und Instandhaltung des Wagens einschließlich der Beladung mit „Treibstoff". Das war in unserem Falle kleingeschnittenes Buchenholz, gemischt mit Kiefer, beides aus der Anstaltstischlerei. Mit Willi Donath verband mich seit Ende 1943, als ich vom technischen Büro der Tischlerei als Mitfahrer für den LKW abgestellt wurde, bald ein Vertrauensverhältnis. Mein Vorgänger auf dem Wagen war ein Krimineller. Bei den Fahrten außerhalb Brandenburgs betrieb er kleine und größere Schiebereien, die Donath oft in Schwierigkeiten brachten. Bei mir als „Politischen" setzte er wohl voraus, daß ich ihm nicht derartiges Herzklopfen bereiten würde. Zigarettenschmuggel war denn auch nicht meine Passion.

Bald hatten wir uns gegenseitig beschnuppert. Es gab offene Aussprachen über den Krieg, die Nazis und die täglichen Ereignisse. Ich „schob" natürlich auch, nahm in den Holzsäcken, als gutem Versteck oben auf dem Dach des Fahrerhauses, Briefe und Päckchen meiner politischen Kumpels mit nach draußen. Unsere Fahrten führten uns fast in jeder Woche einen, nicht selten auch mehrere Tage nach Berlin-Moabit, Plötzensee, Lichtenberg oder ins Frauengefängnis Barnimstraße. Eine beliebte Tour war auch die nach Werdau, einer Indrustriestadt bei Zwickau. Dort holten wir Garne für die Zuchthausweberei. Andere Aufträge führten etwa nach Prenzlau oder nach Thüringen. Bei einer der ersten Berlin-Fahrten, etwa Ende 1943, willigte Donath ein, daß wir kurz bei Grete (meiner Verlobten) in der Ziegelstraße zum Kaffeetrinken gingen. Für ihn war das natürlich ein Risiko; ging etwas schief, riskierte er Kopf und Kragen. Aber dieser erste Versuch vertiefte das Vertrauensverhältnis zwischen uns und auch das zu Grete. Er mußte wohl den Eindruck gewonnen haben: Mit denen kann es nicht schief gehen. Und so war es auch. Wir brachten meinen Hilfsschien nicht in Verlegenheit. Unser Verhältnis zueinander wurde mit der Zeit unbelastet und offen. Besorgte ich z. B. unterwegs Kartoffeln und andere rare Dinge, konnte ich das alles in Berlin bei Grete abladen. Willi Donath war natürlich nie unmittelbar dabei, obwohl er zuweilen wußte, was geschah. In solchen Fällen stieg er an einer bestimmten Stelle vom LKW ab und Heß mich mit meiner Fracht allein weiterfahren. Danach trafen wir uns wieder. Vorher wurde für den Fall einer Kontrolle genau verabredet, was gesagt werden sollte. So vereinbarten wir z. B. zu sagen, daß ein neuer Anlasser für den Motor beschafft werden müsse.

Willi ging in bestimmte Geschäfte, während ich auf einen Schrottplatz fuhr und bei dieser Fahrerei meine Anliegen besorgte. Die Briefe aus dem Zuchthaus brachte ich zu Grete.

Diese leitete sie dann — oft persönlich — an die Adressaten weiter und nahm auch später die Antworten wieder in Empfang. Bei unserer nächsten Berlinfahrt lagen dann die Sachen zur Beförderung ins Zuchthaus bereit.

Auf diese Weise erfuhr ich eines Tages von Grete, daß mein früherer Kollege und enger Freund Fritz Nitzschke, geboren 1905 in Braunschweig, sich selbständig gemacht hatte. In der Prinzenstraße, unmittelbar am Moritzplatz, betrieb er mit einem Lehrling eine kleine optisch-feinmechanische Werkstatt. Wichtiger und interessanter war für mich jedoch, daß er mit Anton Saefkow (einem früheren Mitglied einer KJV-Jugendgruppe, der auch Grete angehört hatte) illegal zusammenarbeitete. Mein Vorsatz, Fritz Nitzschke bei nächster Gelegenheit aufzusuchen, war bald gefaßt.

Das also war die Situation als ich im Juni 1944 mal wieder in Berlin zu Fuß bzw. per U-Bahn angeblich auf , die Suche nach dringend gebrauchten Teilen für unseren LKW ging. Donath setzte mich am frühen Nachmittag am Anhalter Bahnhof ab ud fuhr mit Synek (einem Politischen aus der Tschechoslowakei) weiter. Zuvor hatten wir vereinbart, uns wieder um 17. 00 Uhr in Moabit gegenüber der Untersuchungshaftanstalt Ecke Wilsnacker-und Turmstraße zur Rückfahrt nach Brandenburg zu treffen. In Wirklichkeit führte mein Weg mit der U-Bahn zu Fritz Nitzschke. Mit der Zuchthauskleidung konnte man sich natürlich nicht in Berlin bewegen. Am sogenannten Potsdamer Berg, kurz vor Wannsee, mußte der Holzkocher neu aufgefüllt werden. Bei der Gelegenheit verschwand ich unter der LKW-Plane und wechselte die Kleidung. Die schwarze Hose mit den langen gelben Streifen sowie das schwarze Jackett mit dem eingenähten gelben Querstreifen am linken Ärmel wurden in einen leeren Sack gestopft. In wenigen Minuten erschien der Beifahrer mit blauer Hose und Jacke, wie in einer Monteurkluft. Damit fiel ich nun nicht mehr auf.

Angemeldet war ich bei Fritz Nitzschke nicht. Am Hauseingang wies ein kleines Schild den Weg zur Werkstatt. Im Hinterhof stieg ich bis zum zweiten Stock und betrat voll innerer Spannung die Werkstatt. Fritz riß freudig die Augen auf. Sofort hatte er mich erkannt. Wir waren allein. Der Lehrling war zu meinem Glück in der Schule.

Ich stand in einem relativ kleinen Raum, in dem eine Mechaniker-Drehmaschine und eine Werkbank mit zwei Schraubstöcken stand. Es kam zu einer herzlichen Begrüßung. Fritz sprach nicht nur von seiner Zugehörigkeit, sondern von seiner direkten und aktiven Mitarbeit in der Saefkow-Gruppe. Die Verbindung dazu war von Werner Jurr hergestellt worden. Dieser hatte bereits 1937 drei Jahre Zuchthaus wegen Hochverrats in Brandenburg „abgesessen". Schon seit 1928 waren wir drei eng befreundet. Werner war damals Reichsleiter der Roten Jungfront und Mitglied des KJVD und der KPD, aber wegen „rechter Abweichungen" ausgeschlossen und dann Mitglied der KPD (Opposition) — Gruppe Brandler-Thalheimer — geworden. Etwa 1932 trennte er sich wieder von dieser Gruppe und arbeitete in der Roten Hilfe. Fritz Nitzschke selbst gehörte keiner politischen Gruppierung an. Er sympathisierte jedoch ganz allgemein mit der kommunistischen Bewegung. Sein Hobby und Beruf zugleich war die Feinmechanik und Konstruktionsarbeit. Das brachte ihm auch schon damals viele interessante Aufträge.

Das tägliche Leben und die Erfahrungen seiner Freunde machten auch Fritz Nitzschke zu einem entschiedenen Gegner des NS-Regimes. Er wollte nicht abseits stehen. Werner Jurr vermittelte ihm den Weg zur illegalen Bewegung. Sein Charakter und seine unbedingte Hilfsbereitschaft schafften die Voraussetzungen dafür, daß er ohne Bedenken seine Wohnung, besonders aber seine kleine Werkstatt der Untergrundorganisation zur Verfügung stellte. Daß er aktiv mitwirkte, hatte ich schon von Grete gehört. Als er aber, sozusagen aus Freude über den Besuch seines Freundes aus dem Zuchthaus, nun erzählte, was er alles machte, war ich doch erstaunt, welche Verantwortung er übernommen hatte. Von der Werk statt führte eine Tür zum Materiallager; dort setzten wir uns. „Hier werden die Abzüge der illegalen Flugblätter hergestellt und vervielfältigt“, sagte Fritz. Er öffnete einige Kisten und zeigte mir Apparate und Flugschriften. Einige trugen die Unterschrift „Nationalkomitee Freies Deutschland, Berliner Ausschuß". „Das ist unsere Arbeit", meinte Fritz. Auch von Attentatsversuchen und Attentatsvorbereitungen auf Hitler erzählte er. Innerlich glaubte ich in diesem Moment, er übertreibe, zumindest was die Attentate betraf. Ich erklärte mir das damit, daß er nie einer politischen Organisation angehört hatte. Auch war ich über das Maß des Vertrauens erstaunt, das er mir sogleich entgegenbrachte. Aus der eigenen illegalen Tätigkeit wußte ich, daß man so offen eigentlich auch gegenüber Freunden nicht sein sollte. Ich erfuhr von seiner Verbindung zu den führenden Leuten der Gruppe, den Kontakten zu Zellen der Wehrmacht. Andererseits war das alles für mich gerade angesichts des militärischen und politischen Niedergangs der Nazi-Diktatur besonders beeindruckend und auch anspornend. Im Zuchthaus diskutierten wir zwar bei jeder möglichen Gelegenheit über die Probleme, hier aber hatte ich nun unmittelbaren Kontakt zu einer offenbar weitreichenden Widerstandsbewegung; davon mußten die politischen Freunde in Brandenburg Kenntnis erhalten. Fritz gab mir ohne Zögern einige Exemplare der illegalen Flugschriften mit. Ich verstaute sie in meiner zivilen Zuchthauskluft und wollte nun gehen. Die Zeit drängte, denn ich mußte zum vereinbarten Treffpunkt mit unserem LKW.

. Jetzt will ich Dir nur noch einen Freund vorstellen", meinte Fritz und holte aus dem oberen Stockwerk einen Mann mittleren Alters. „Bei ihm hören wir immer die ausländischen Sender", sagte er voller Stolz. Und — mir stockte beinahe der Atem — fügte noch hinzu: „Das hier" — wobei er auf mich zeigte — „ist mein alter Freund Uhle." Wir begrüßten uns kurz, wechselten einige Sätze, dann verließ ich die Werkstatt.

In Moabit mußte ich voller Unruhe fast eine Viertelstunde warten. Der Zuchthaus-LKW hatte Verspätung. Die Rückfahrt begann. Beim nächsten Tanken verbuddelte ich das Material wieder in einem leeren Sack, und so gelangte es am Abend ins Zuchthaus Brandenburg. Den engeren politischen Freunden berichtete ich einzeln in den nächsten Tagen von einigen Erlebnissen in Berlin, und das mitgebrachte illegale Material machte so die Runde im Kreis der Vertrauten. Nach meiner Erinnerung waren es Walter Mickin, Zeichner in der Tischlerei, Thomas Mrochen, Schlosser in der Tischlerei, Edu Wald und Robert Dewey vom Büro der Tischlerei, Max Frenzel, Kalfaktor in der Schuhmacherei Haus 1, und Herbert Kratzsch, Außenkolonne

Einige Tage später stand ich mit dem LKW vor der Garage, als die Außenkolonne einrückte und in der Nähe des Wagens hielt. Herbert Kratzsch drängt sich unauffällig zu mir. Leise und bewegt berichtete er mir vom heutigen, nicht angemeldeten Besuch seiner Frau. Sie hatte einen Weg gefunden, um Herbert auf seinen Außen-Arbeitsstellen zu sprechen. Das wiederum war nur möglich durch die Toleranz des diensthabenden Wachtmeisters. Außerdem galt Herbert als eine Art Vorarbeiter in seiner Kolonne. Frau Kratzsch brachte eine Hiobsbotschaft aus Berlin; sie hatte alles unternommen, um Herbert schnellstens zu benachrichtigen: Fritz Nitzschke sei verhaftet worden. Die Gestapo habe erfahren, daß ein gewisser „Uhle" kürzlich in der Werkstatt gewesen sei und fahnde nun nach ihm.

Herberts Frau wohnte in der Nähe des Moritzplatzes in Berlin und gehörte ebenfalls zur Saefkow-Gruppe. Ich war also gewarnt und reagierte nicht wenig aufgeregt. Würden Fritz und der Mann, dem ich in der Werkstatt vorgestellt worden war, „dichthalten" können? Ich mußte jedenfalls täglich mit dem Schlimmsten rechnen. Doch es blieb still um mich.

Die Tage im Zuchthaus verliefen wie üblich. Eines Abends im Spätsommer 1944, wir waren erst nach der Essensausgabe von einer Fahrt zurückgekehrt, ging ich mit meinem Essenskrug von der Garage zur Küche. Als ich bei der Schlosserei um die Ecke bog — gegenüber lag das Haus 4 — rief plötzlich jemand leise, dann halblaut: „Uhle, Uhle .... Ich traute meinen Ohren kaum, denn wer kannte hier schon meinen Berliner Namen? Vorsichtig blickte ich um mich und in Richtung der Zellenfenster im 1. Stock des Sicherungsbaus. Von dort kam eine Stimme: „Hier ist Fritze, Fritze aus Berlin ...“. Mir war sofort klar, das dies nur Fritz Nitzschke sein konnte. Zugleich aber kam auch ein furchtbarer Gedanke, denn uns war bekannt, daß dort oben die Zellen der Todeskandidaten lagen. nächsten Morgen kam Arbeitsinspektor Am Dahms zur Garage. Er gab Anweisungen für die nächste Fahrt. Ich benutzte die Gelegenheit, ihn anzusprechen. Von Willi Donath ich, daß Dahms kein Nazi war und den wußte Politischen zuweilen mit einem gewissen Verständnis gegenüberstand. Ich schilderte, wie ich erfahren hatte, daß mein ehemaliger Be-

Nitzschke in einer Todeszelle rufskollege saß.

Aus dem Fall Robert Havemann war mir be-kannt, daß in seltenen Fällen die Vollstrekkung der Todesstrafe hinausgeschoben werden konnte, nämlich dann, wenn der Betreffende für wichtige berufliche Arbeiten im Zuchthaus gebraucht würde. Und Fritz war ein hochbegabter Konstrukteur. Dies alles unterbreitete ich dem Amtmann und hatte sogar ein wenig Hoffnung; denn seit dem 20. Juli 1944 schien den politischen Gefangenen das Ende der Nazidiktatur nicht mehr in allzu weiter Ferne. Jetzt trug unter Umständen jeder Monat zur Lebensrettung bei.

Anfang Juli 1944 war die Saefkow-Jacob-Bästlin-Gruppe in Berlin „hochgegangen". Der Prozeß im September endete mit Todesurteilen. Auch Anton Saefkow hatte man nach Brandenburg transportiert. Er kam in der Gewißheit, daß die Naziherrschaft im Herbst zu Ende gehen würde. So jedenfalls hatte er Max Frenzel versichert, der ihn kurz sprechen konnte. Indessen lief die Hinrichtungsmaschinerie in der Garage des Hauses 1 mehrere Male wöchentlich auf vollen Touren. Frühmorgens, vor dem Ausrücken zur Arbeit, hörten wir in der Unterkunft in kurzen Abständen den dumpfen Klang des Fallbeiles. Alle zählten schweigend mit. Jeder Fall ein Opfer ...

über Nitzschke erfuhr ich zunächst nichts mehr. Ihn in seiner Zelle zu sprechen, war unmöglich. Eines Abends wusch ich im kleinen Hof, neben der Unterkunft des Hauses 2, den LKW. Wieder rief einer: „Uhle" und wieder war es Fritz. Man hatte ihn also verlegt. Ich hoffte, daß man ihn beruflich eingesetzt hatte, aber statt dessen war er nur näher an die Hinrichtungsstätte gebracht worden.

Durch den Wachtmeister erfuhr ich, daß die Henkersknechte bereits übermorgen ihr blutiges Handwerk wieder betreiben würden. Am Abend davor hatte dieser Wachtmeister auf dem A-Flügel, Haus 2, Nachtdienst Wir waren ziemlich spät an diesem Tage mit dem LKW in die Anstalt zurückgekommen. Beim Aufschließen des Waschraumes sagte mir der Beamte, daß morgen in aller Frühe die Henker kommen würden. Mein Bekannter sei bereits nach unten auf den A-Flügel verlegt worden. Auf meine Bitte hin, mir doch die Möglichkeit zu geben, ihn noch einmal zu sehen, blickte der Wachtmeister nach oben; dort hatte der Hauptwachtmeister vom Dienst normalerweise seinen Platz, doch er war nicht zu sehen. Wir überquerten rasch den Flur und vor einer 3-Mann-Zelle schob der Beamte zunächst die Klappe vom Spion zur Seite und blickte in die Zelle. Dann schloß er leise auf und schob mich mit einem sanften Druck hinein. Fritz kam einen Schritt auf mich zu. Wir umarmten uns. Wir waren nicht allein; am Fenster saß ein gebeugter, völlig in sich zusammen gesunkener zweiter Mann, auch er ein Todeskandidat.

Fritz stellte ihn mir vor. Aber der andere ant13 wortete nur mit wenigen Silben, fassungslos, Tränen in den Augen. Mir selbst stockte der Atem. In acht Stunden, morgen früh gegen 6. 00 Uhr, würden die Todesurteile vollstreckt sein. So sah ich meinen langjährigen Freund zum letzten Mal wieder. Er war der Alte, so wie ich ihn seit 1928 kannte: aufrecht und in keiner Weise von den zermarternden Ereignissen der Verhaftung, der Vernehmung und den Quälereien, den Tagen des Prozesses mit der Verkündung des Todesurteils verändert. Immer wieder unterbrach Fritz unser Gespräch, um seinem Kumpel Kraft für die noch verbleibenden Stunden zu vermitteln. Die Justiz des Hitlerstaates hatte ihn bereits vor seinem leiblichen Tod ermordet. Im Gegensatz zu ihm war aus dem früheren, mehr gefühlsmäßig zur Arbeiterbewegung stehenden Fritz Nitzschke ein unbeugsamer Gegner des Faschismus geworden. Als wir endgültig Abschied voneinander nahmen, drückte er mir einen Brief an seine Frau in die Hand. Die letzten Sätze lauteten: „Sei nicht traurig. Ich sterbe für ein Ideal. Und es ist der schönste Tod, für den ein Mann und Vater sterben kann." Draußen näherten sich Schritte. Das Schloß der Zellentür wurde entriegelt. Zum letzten Mal blickten wir uns in die Augen.

Der „MM“ mußte das Fallbeil selbst schleifen „MM" (Maschinenmeister) hieß im Jargon der Häftlinge der 1. Hauptwachtmeister, zuständig für die große Zentralheizung und alle sonstigen technischen Anlagen. Eines Tages betrat er mit einem fast elegant wirkenden, schmalen, dunkelbraunen Holzköfferchen die Tischlerei. Geradewegs ging er in den Maschinen-raum. Dort hinten, in der rechten Ecke, war die kleine Schlosserei installiert: Eine Werkbank mit Schraubstock, eine Schleifvorrichtung für die langen Stahlbänder der Bandsäge und eine ebensolche für die breiten Messer der Hobel-maschine. Thomas Mrochen, ein politischer Häftling aus Oberschlesien mit sehr langer Strafzeit, fachlich ein Allerweltskerl, arbeitete dort als Schlosser. Seit Jahren schon sorgte er dafür, daß alles im maschinellen Bereich der Tischlerei mit seinem Maschinenpark ohne technische Störungen ablief.

Zu ihm ging „MM". Auf die Werkbank legte er das Köfferchen und öffnete es. Alle Maschinenarbeiter, etwa zehn an der Zahl, außer einem alles politische Gefangene, blickten neugierig in die Ecke. Was wollte der „MM“ denn von Mrochen? Sie sahen, wie sich ein kurzer, aber gespannter Disput zwischen den beiden entwickelte. „MM" zeigte wiederholt auf den geöffneten Kasten und die an der Wand stehende Schleifmaschine für die Hobelmesser. Thomas aber schüttelte immer wieder entschieden den Kopf. Wir merkten: da stimmt etwas nicht. Das Gesicht des hochgewachsenen „MM" wurde immer finsterer. Energisch redete er noch immer auf Mrochen ein, unterstützt durch entsprechende Handbewegungen. Thomas aber verließ nun demonstrativ seinen Arbeitsplatz und ging hin zur Bandsäge, etwa acht Meter von seiner Schlosserecke entfernt. Andere Kameraden kamen von ihren Maschinen hinzu. Es bildete sich ein kleiner Kreis und wir erfuhren jetzt, was geschehen war. In dem kleinen Holzköfferchen lag das Messer des Fallbeils, etwa 50 cm lang. Es hatte die Form eines Trapezes. Am nächsten Morgen sollten neue Hinrichtungen stattfinden. Der „MM" war auch für das reibungslose Funktionieren der Mordapparatur verantwortlich. Darum sollte das Messer geschliffen werden, und das mutete er Thomas Mrochen zu. Vergebens! Thomas Mrochen hatte sich geweigert, dafür Helfershelfer zu sein.

Was also blieb dem 1. Hauptwachtmeister übrig? Er selbst stellte sich an die Maschine und schliff das Henkerbeil. Er mußte wohl spüren, in welche Lage er sich gegenüber den Häftlingen gebracht hatte. Immer wieder senkte er den Kopf und blickte über seine starken Brillengläser hinweg zu uns in den Maschinen-saal. Von dort aber trafen ihn nur feindliche, oft ironische Blicke. Bei uns kam der nicht an. Wir waren keine Mordgehilfen. Das bekam „MM" deutlich zu spüren. Fast wie durch Spießruten laufend verließ er nach etwa 20 Minuten mit seinem Henkerskoffer die Tischlerei. Die Henker-Garage Es war 1943/1944, an einem Donnerstag gegen zehn Uhr. Die Sonne schien, aber der Tag hatte furchtbar begonnen: am frühen Morgen hatten 22 Menschen unter dem Fallbeil ihr Leben gelassen. Ich hatte seit acht Uhr in der LKW-Garage des Hauses 2 mit kleinen Reparaturen zu tun, als der Hilfswachtmeister Schulz aus der Schlosserei erschien und sagte, ich solle ihm doch für kurze Zeit behilflich sein. „Warum nicht“, erwiderte ich ahnungslos. Wir verließen die Garage, überquerten den Vorplatz zum Hauptportal des Verwaltungsbaus. Vor der Garage des Hauses 1 blieb Schulz stehen. Hinter dieser Tür, dies wußte ich, stand das Fallbeil; hier fanden die Hinrichtungen statt. Darüber lag die Unterkunft mit den Betten der Außenkolonnen. Mindestens einmal in der Woche hörten wir morgens gegen sechs Uhr das dumpfe Fallen des Fallbeils. So war es auch heute gewesen. Etwa alle drei Minuten drang das Aufschlagen zu uns, den noch Lebenden. Um diese Zeit lagen die Frühstückskuhlen (die Brote) auf dem Tisch, daneben die braunen Töpfe mit dem Kaffee. Alle schwiegen. Gegenseitig blickten wir uns an, jeder in Gedanken versunken. Dieses Erleben ging mir gerade jetzt durch den Kopf. Wachtmeister Schulz öffnete die Garagentür. Zum ersten Mal wurde ich mit dem Grauen konfrontiert. Vorne links, unmittelbar am Garagentor, stand das Fallbeil. Hinten links lag der Zugang zum Flur, durch den die Todeskandidaten hereingeführt wurden. Rechts gegenüber in der Ecke stand ein kleiner Tisch mit den Plätzen für Staatsanwalt und Pfarrer.

Wachtmeister Schulz erläuterte: „Den Verurteilten wird dort noch einmal das Todesurteil verlesen. Der Pfarrer darf dann Trost spenden."

Das Schafott selbst war für die Todeskandidaten beim Betreten der Mordzelle zunächst nicht sichtbar. Ein dunkler Vorhang verdeckte es. Dahinter lauerten die Henker auf ihre Opfer. Bevor der letzte Gang von der Todeszelle, meist einem sogenannten Kammkasten, (besonders enge Zelle), zum Schafott angetreten wurde, gab der diensttuende Hauptwachtmeister auf der Station folgende Anordnungen: •Anzuziehen ist nur die Hose ohne Hosenträger. Strümpfe, Unterhose, Hemd müssen fein säuberlich auf den Hocker gepackt werden. Das Jackett darf nicht angezogen, sondern lediglich über die Schulter gehängt werden."

Die Hände vor dem Bauch, damit die Hose nicht wegrutschte, so wurden die Häftlinge zum letzten Gang in die Mordgarage geführt. War der Urteilsspruch verlesen, schoben die Henker den Vorhang zurück, griffen den Häft-ling, rissen ihm das Jackett ab und drückten seine beiden Arme auf den Rücken, er mußte seinen Hals in die halbrunde Öffnung unter dem Fallbeil legen. Ein Hebeldruck ließ das Fallbeil niedersausen und der Kopf rollte in eine Blechschale. Unten rann das Blut in ein Gefäß. Zum Schluß wurde dem Toten noch die Hose heruntergerissen und der nackte, leblose Körper in die Holzkiste geworfen, den Kopf zwischen den Beinen. In wenigen Minuten war alles vorbei und schon das nächste Opfer an der Reihe.

Anfangs wurden die mit dem Fallbeil Hingerichteten in primitive Särge gepackt und auf einem mit Pferden bespannten Tafelwagen zum Krematorium nach Brandenburg transportiert. Damit die Ladung auf dem Weg von Görden zur Stadt kein Aufsehen erregte, hatte man eine graue Plane fest über den Wagen gespannt. Doch die Zahl der Hinrichtungen stieg von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Offenbar war den Juristen des Dritten Reiches ein Sarg für jeden Ermordeten zu kostspielig, denn kurzerhand änderte man das Verfahren. Die Anstaltstischlerei erhielt den Auftrag, einfache Holzkisten zu liefern. Diese bestanden aus rohem Holz, waren etwa 1, 60 Meter lang, 40 cm breit und 30 cm hoch. Die Gefangenen gaben ihnen den Namen „Nasenquetscher". Wegen der Kürze der Kisten packten die Henker den abgeschlagenen Kopf zwischen die Beine des Ermordeten. Aber selbst eine solche Kiste war der Obrigkeit noch zu teuer. Eine neue Verfügung schrieb vor, auf den Boden des „Nasenquetschers" einen Lattenrost zu legen; im Krematorium kippte man den Toten dann einfach aus der Kiste. Den leeren, blutverschmierten Sarg brachte das Pferdefuhrwerk zurück ins Zuchthaus.

Alles war „perfekt" geregelt. Am Tage vor der Hinrichtung wurde jedem Todeskandidaten Blut zur Feststellung der Blutgruppe entnommen. Unmittelbar nach jeder Hinrichtung — zwei Ärzte des Städtischen Krankenhauses saßen bereits mit einer Batterie von Gefäßen an der Garagentür — füllten sie das Blut in entsprechend gekennzeichnete Flaschen.

Als Wachtmeister Schulz die Tür öffnete, verschlug es mir den Atem. Dicke, verbrauchte Luft und Schweißgeruch strömten mir aus dem Halbdunkel entgegen. Schulz betrat die Garage — und erst jetzt erfuhr ich, was er von mir wollte. Ich sollte ihm beim Abmontieren des Fallbeils helfen.

Er winkte, damit ich nähertreten sollte, aber ich konnte keinen Schritt tun, sondern blieb wie gebannt vor der Tür stehen: „Das können Sie von mir nicht erwarten", sagte ich, machte kehrt und ging kurzerhand, fast laufend, zurück zu meiner LKW-Garage. Dort versuchte ich, das Erlebte zu überwinden. Ich war wie gelähmt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans Gottfurcht: „Die internationale Gewerkschaftsbewegung im Weltgeschehen“. Bund-Verlag, Köln, 1962, Seite 115.

  2. Max Frenzel, Hauptautor des DDR-Berichtes über das Zuchthaus Brandenburg: „Gesprengte Fesseln“, Militär-Verlag der DDR, verschweigt dies alles aus Gründen der Parteidoktrin; denn Uhlmann verließ 1953 die DDR. Siehe auch: Walter Uhlmann, Blick hinter Gitter: Gesprengte Fesseln, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung (IWK), Juni 1977.

Weitere Inhalte

Walter Uhlmann, geb. 1904 in Leipzig; erlernter Beruf Feinmechaniker; 1919 Eintritt in die Freie Sozialistische Jugend, Vorläufer des KJVD; seit 1920 Mitglied des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes; 1937— 1945 Zuchthaus; 1945— 1953 Leiter der Fahrbereitschaft der Berliner Verkehrsbetriebe; 1953 Flucht in die Bundesrepublik; 1955— 1969 Redakteur bei der IG Metall.