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Der gläserne Sarg Erinnerungen an das Zuchthaus Brandenburg in den Jahren 1938— 1940 | APuZ 18/1980 | bpb.de

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APuZ 18/1980 Artikel 1 Die Widerstandskämpfer im Zuchthaus Brandenburg-Görden 1933— 1945 Antifaschistische Arbeit Der lange Weg nach Brandenburg-Görden Der gläserne Sarg Erinnerungen an das Zuchthaus Brandenburg in den Jahren 1938— 1940 Schulalltag im Dritten Reich Fallstudie über ein Göttinger Gymnasium

Der gläserne Sarg Erinnerungen an das Zuchthaus Brandenburg in den Jahren 1938— 1940

Bodo Gerstenberg

/ 40 Minuten zu lesen

Das Zuchthaus Brandenburg-Görden war nicht irgendeine Strafanstalt, sondern etwas „Besonderes". Der Bau sollte ein Musterhaus für den humanen Strafvollzug in der Weimarer Republik-werden. Was davon im Dritten Reich übrigblieb, war nur die Architektur: eine Mischung von Fabrik, Badeanstalt und Käfig. Brandenburg-Görden wurde von vielen seiner Insassen „der gläserne Sarg" genannt. Aus den Einmann-Normalzellen waren längst Dreimannzellen und aus den Schlafzellen für die tagsüber in Werkstätten Beschäftigten Einzel-haftzellen geworden. Da sie ursprünglich nur zum Schlafen dienen sollten, waren sie so schmal, daß man darin nicht die Arme quer ausbreiten konnte. Deshalb nannten die Gefangenen diese Zellen „Kammkästen". Manche der Politischen mußten jahrelang darin zubringen. Ein anderes Charakteristikum für Brandenburg waren seine Insassen: Der Anteil der Politischen war nicht nur besonders hoch, sondern im Schnitt auch besonders „interessant".

Dafür sorgte der in der Berliner Tiergarten-straße residierende Volksgerichtshof.

Die Kriminalisierung der in der Verfassung verbrieften politischen Rechte wie Koalitions-, Presse-und Redefreiheit durch die Notverordnung von 1933 brachte für alle Strafanstalten, aber besonders für Brandenburg-Görden, Hochkonjunkur. Die vorhandenen Kapazitäten, gedacht für echte Straftäter, reichten bei weitem nicht mehr aus für den Andrang der von der Terror-Justiz angelieferten „Hochverräter". Wem aktive Teilnahme am Widerstand nachgewiesen wurde, kam vor ein Gericht unter Anklage der Vorbereitung zum Hochverrat. Für die Beteiligung an örtlichen °der in begrenztem Bereich durchgeführten il-

legalen politischen Aktionen waren die Oberlandesgerichte (in Berlin das Kammergericht)

zuständig. Tätigkeiten im Reichsmaßstab oder Verbindungen zu den Zentralen im Exil ka-

men vor den Volksgerichtshof.

Vor dem Krieg kam es vor, daß ein Durchschnittsfall mitunter von den OLGs härter geahndet wurde als vom Volksgerichtshof. Besonders gefürchtet war beispielsweise in Berlin der 4. Senat des Kammergerichts. Der Grund für diese von der allgemeinen Vorstellung abweichende Tatsache ist einleuchtend: Die karrierebewußten, meist deutschnational eingestellten Richter wollten ihre Gesinnungstüchtigkeit unter Beweis stellen. Die Volksgerichtsleute hatten das nicht nötig; sie waren — sofern es sich um Berufsrichter handelte — ausgesuchte Werkzeuge Hitlers; die Beisitzer in Hochverratsverfahren waren hohe SS-und SA-Führer sowie Parteibonzen, soge-nannte Amtswalter. Bei dieser Fließbandarbeit gegen Spitzenfunktionäre, Kuriere, illegale Organisatoren, wieder eingefangene politische Flüchtlinge, Verschwörer von Rang und Namen, Attentäter und auch Spione waren Fälle, die vor einem gewöhnlichen Gericht Furore gemacht hätten, für den Volksgerichtshof vergleichsweise „kleine Fische".

Ein solch kleiner Fisch war auch mein Fall für die Herren in der roten Robe.

Auf dem „Alex", im Gefängnis des Berliner Polizeipräsidiums, und zwar auf dem für die Gestapo reservierten Teil, nahm man mir Krawatte, Gürtel und Schnürsenkel ab. Ich war dort nach meiner Verhaftung durch Gestapoleute (die so aussahen, wie man sie sich vorstellt) gelandet, weil im Keller des Himmlerschen Hauptquartiers in der Prinz-Albrecht-Straße kein Platz mehr zur Verfügung stand. So muß‘te ich mich als frisch eingelieferter „Zugang"

auf einem Flur in eine angetretene Gruppe von Häftlingen einreihen, die stumm nebeneinanderstehend zur Wand blickten. Neben mir stand ein Zuchthausgefangener in seiner schwarzen Kluft mit den breiten gelben Streifen an der Hose. Sein Kopf schien geschoren;

er hatte ein intelligentes Gesicht und blickte teilnahmslos auf die gegenüberliegende Tür.

Indem er sein Körpergewicht unauffällig nach hinten verlagerte, fragte er aus dem Mundwinkel, ohne die Lippen zu bewegen: „Partei?" Ich wußte sofort, er war Kommunist. Niemand anders hätte nach „der" Partei gefragt. So war es. Er war aus dem Zuchthaus Brandenburg zur Vernehmung hierhergekommen. Ich antwortete so gut es ging, indem ich seine Technik imitierte, und murmelte zwischen den Zähnen, es handele sich sowohl um Tätigkeit für die Kommunisten als auch für die Schwarze Front. „Sprich zu niemand darüber!" zischte er, „es wimmelt hier von Spitzeln." Dann gab er mir Tips für die kommenden Verhöre. Dies war der erste politische Sträfling, den ich kennen-lernte. Es war Alfred Schaefer, ehemaliger Nachwuchsschauspieler bei Brecht und Piskator, verhaftet als Funktionär der illegalen KPD in Berlin-Neukölln. Er hatte die auf Hektograf hergestellte „Neuköllner Sturmfahne" redigiert. Nach seiner Entlassung gelang es ihm, sozusagen im letzten Augenblick, außer Landes zu gehen. (Als wir uns Jahre nach dem Kriege wiedertrafen, stellten wir fest, daß wir uns ungefähr im gleichen Tempo von unseren alten Positionen gelöst und entfernt hatten. Er hatte sich der Philosophie gewidmet und mit einer Arbeit über David Hume promoviert. Inzwischen hat er mehrere Schriften verfaßt, die sich mit Marx und Lenin kritisch auseinander-setzen.)

Die Anstaltsleitung von Plötzensee setzte ihren Ehrgeiz daran, die zu Zuchthausstrafen verurteilten Untersuchungshäftlinge in schwarze Zuchthauskleidung zu stecken und so auf den Transport zu schicken. Sie verfügte über einen Vorrat davon, weil in der „Plötze" das Fallbeil stand und im Haus 3, das als Untersuchungsgefängnis diente, im Erdgeschoß eine Station für die zum Tode Verurteilten reserviert worden war, die diese Sachen tragen mußten — zwischen Verurteilung und Hinrichtung. Sechs Monate lang habe ich diese Unglücklichen täglich einmal bei ihrer „Freistunde" gesehen, zu der sie gefesselt auf den Hof unter meinem Fenster geführt wurden. Das war ein Anblick, den man nie vergißt. Wie ich erfuhr, waren nur wenige Mörder darunter; vorwiegend handelte es sich um politische Gefangene oder Opfer eigener Leichtfertigkeit beim Briefwechsel oder im Gespräch. Dieser vom Färben und Flicken scheckigen Kluft schien eine Aura von Todesangst und Blut anzuhaften. Bei der Einlieferung in Brandenburg schimpfte bei jedem Zugang aus Plötzensee der Hausvater (hinter dieser freundlichen Bezeichnung verbarg sich die beim Militär als „Kammerbulle" bekannte Funktion) auf seinen fernen Kollegen und schickte ihm die Sachen zurück.

Als ich wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt in Brandenburg eingeliefert wurde, war ich 22 Jahre alt. Ich saß dort ein von 1938 bis 1940. Zunächst wurde ich in den „Rabenflügel" gesteckt, einen Gebäudeteil des Hauses 2, der für jugendliche Missetäter reserviert worden war. Der Zufall wollte es, daß die auf die Einzelzellen zu verteilenden „Zugänge" außer mir noch zwei politische Häftlinge und drei Kriminelle waren. Der sich schneidig gebende Stationswachtmeister empfing uns mit den Worten „So ist’s recht: Spitzbuben und Hoch-verräter!" Zunächst bekam man ein lähmendes Gefühl des Ausgeliefertseins, aber schnell gelangte man zu der Gewißheit — auch in der Einzelhaft — von Gleichgesinnten umgeben zu sein. Dieses Gefühl brüderlicher Verbundenheit verließ den politischen Gefangenen nicht. Ich glaube, daß diese Empfindung nicht allein eine Folge des Optimismus’ und der Illusionen der Jugend war, die mich die tragische Situation vielleicht in einem zu romantischen Licht erleben ließen.

Uns politischen Gefangenen war eines gemeinsam: das starke Gefühl der Solidarität, der Kameradschaft und der Zusammengehörigkeit, unabhängig von Alter oder politischer Richtung. Wir hatten — auch das muß gesagt sein — ein deutliches Elitebewußtsein, fühlten uns nicht nur den Kriminellen und den Beamten moralisch überlegen, sondern auch den Opportunisten draußen, die das Regime als Mitläufer unterstützten. Auch geistig fühlten wir uns denen überlegen, die nicht wie wir die Katastrophe auf unser Volk zukommen sahen; wir fühlten uns wie Gesunde, die eine Art schleichende Geisteskrankheit beobachteten. Dieses Elitebewußtsein kam gelegentlich dort zum Vorschein, wo es im Gegensatz zu egalitären Programmdeklamationen stand. So antwortete mir der kommunistische Funktionär Hans Rothbarth, als ich im Gespräch meinte, die Arbeiterklasse „als solche" würde mit uns sympathisieren: „Na, darauf verlaß Dich man nicht so sehr ..." — Wenn man zur „Vorhut der Arbeiterklasse" gehörte, mußte man sich doch fragen, wo denn die Arbeiterklasse selbst, wenigstens mit ihrer Sympathie, eigentlich geblieben war. (Rothbarth war eine männliche Erscheinung mit einem ausdrucksvollen Gesicht voller Selbstbeherrschung. Er sei Weber, sagte er mir in akzentfreiem Hochdeutsch, das keine landsmannschaftliche Herkunft erkennen ließ. Er war Sohn eines Unternehmers.

Das Understatement war nicht untypisch für manche Kommunisten, die aus bürgerlichem Hause stammten. Rothbarth war auf der Leninschule in Moskau mehrere Jahre ausgebildet worden; er war zurückhaltend, sprach präzise und sein Gesichtsausdruck war gesamB melt, seine Körperhaltung aufrecht. 1944 wurde er von der SS erschossen.)

In einer 12-Mann-Zelle, vorwiegend mit politischen Gefangenen belegt, lernte ich einen blutjungen SAPler kennen; er hieß Krause und stammte aus Breslau. Seine fast heitere Zuversicht stand im Gegensatz zu der Melancholie, die von einem sehr sympathisch wirkenden Jungkommunisten ausging, der einen mißlungenen Fluchtversuch hinter sich hatte. Während des ersten Gespräches mit Krause wanderte mein Blick auf seine Spindkarte, auf der sein Name, die Gefangenennummer und als Entlassungsdatum „beim Tode" zu lesen stand. Er erzählte mir lächelnd, die Gestapo habe bei ihm außer Flugblattmaterial (Flugblätter waren immer „Material") auch eine Bleistiftskizze von der Lage einer Kaserne gefunden, die er zur Vorbereitung irgendeiner . Aktion“ angefertigt habe. Da hätten „sie" ihm zur üblichen Vorbereitung zum Hochverrat auch den Landesverrats-Paragraphen angehängt

Die SAP (Sozialistische Arbeiter-Partei) hatte sich unter Führung von Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld anläßlich der Panzerkreuzer-Debatte im Reichstag 1931 als linke Splittergruppe von der SPD getrennt. Die SAP-Leute waren Marxisten, hatten aber kein Verlangen, sich dem Sog des kommunistischen Zentralismus auszusetzen. So standen sie in der internationalen politischen Landschaft den militanten österreichischen Sozialisten („Austromarxisten") und den norwegischen Sozialdemokraten nahe, einer Richtung, die scherzhaft . Internationale 2 1/2" genannt wurde. In Brandenburg war eine Anzahl jüngerer SAP-Leute aus Schlesien inhaftiert, die zum Teil hohe Strafen zu verbüßen hatten. Zwei von ihnen traf ich beim Kartoffel-Buddeln auf dem anstaltseigenen Acker beim Plauer Hof; der eine hatte zehn Jahre zudiktiert bekommen, von denen er schon ein paar Jahre abgesessen hatte. Er war bleich und strengte sich an, sein Arbeitspensum zu schaffen. Im Außenarbeitslager Abbendorf lernte ich den SAP-Mann Hans Brammer aus Pforzheim als guten Kameraden schätzen, und später bei den 999ern wurde ich mit Adolf Schröder aus Mannheim bekannt, der mit ihm illegal zusammengearbeitet hatte. Aus seinem Mund hörte ich zum erstenmal etwas von seinem Parteifreund Willi Brandt, dessen Artikel als illegales Material kursierten. Ebenfalls bei den 999ern machte ich die Bekanntschaft des späteren Zweiten Vorsitzenden des Internationalen Bundes freier Gewerkschaften, Herbert Tu-latz, der aus der Breslauer SAP stammte.

Im Außenarbeitslager Abbendorf, wo wir als an die Tiefbaufirma Dyckerhoff & Wiedmann vermietete Sklavenarbeiter untergebracht waren, hinter Gittern versteht sich, erwarb ich die Freundschaft dreier Berliner Maurer. Sie waren Kommunisten, von keiner grauen Theorie angekränkelte klassenbewußte Arbeiter von altem Schrot und Korn, die auch als Gefangene nicht anders arbeiten konnten, als sie es gewohnt waren: gut! Das war ein Charakteristikum für alle Facharbeiter; es war ihnen nicht gegeben, die so gut wie unbezahlte Arbeit für die Kerkermeister aus ihrer gewohnten Arbeitsmoral auszuklammern. Ich mußte in den ersten Tagen und Wochen bei dieser für mich ungewohnten 12-Stunden-Schwerarbeit staunend erfahren, daß eine sinnvolle Arbeit von einem zum Gefangenen gemachten „Normalmenschen“ akzeptiert wird.

Hanne Sygmund war ein kleiner drahtiger Kerl, der mit seinem trockenen Berliner Witz den richtigen Kommentar fand, wenn hinter uns der Wachtposten mit geladenem Gewehr mit Kannibalenhumor drohte, uns die „Feuersteine" (Hoden) wegzuschießen. Als sich „Hanne" verabredungsgemäß nach seiner Entlassung zur Verbindungsaufnahme bei mir zu Hause meldete, war ich bereits bei den 999ern. Diese zunächst in Afrika eingesetzte „Bewährungs" -Division rekrutierte sich nur aus ehemaligen „wehrunwürdigen“ Zuchthäuslern. Solche Verabredungen wurden nicht selten getroffen und auch eingehalten. Bei manchem führten sie zu erneuter Untergrundtätigkeit, so auch bei mir. Im Krieg wurde die illegale Arbeit allmählich immer mehr — außer von den noch unentdeckt Gebliebenen — von solchen bereits „gebrannten Kindern" geleistet; einige von ihnen endeten auf dem Schafott.

Albert Rauhe hatte ein bedächtig-unerschütterliches Wesen. Er war Berliner, ein athletischer Typ mit Humor und Selbstbewußtsein, ein Mann, auf den man sich verlassen konnte, wie sich auch später bei den 999ern erwies, wo er von Anfang an zur Widerstandszelle in meiner Kompanie gehörte.

All diese Eigenschaften trafen auch auf Paul Kriese zu — schlank, blond, mit scharfen Falten im Gesicht. Von ihm ist noch etwas besonderes zu berichten: er war von der Gestapo bei der Vernehmung an einen Stuhl gefesselt worden; man wollte die Namen der „Mittäter" aus diesem stabilen Mann herausprügeln. Nach dem ersten erfolglosen Verhör wieder in seine Zelle zurückgekehrt, verfiel er angesichts der zu erwartenden Fortsetzung der Folter auf die gleiche Idee wie der während des Ersten Welt-21 krieges eingesperrte spätere Polendiktator Pilsudski: er stellte sich verrückt. Noch in der selben Nacht setzte er sich auf sein Bett und bellte wie ein Hund, bis die Beamten ihn herausholten und ihn zur Beobachtung in die „Klappsmühle" brachten. Dort hielt er mit großem Geschick Ärzte und Personal solange zum Narren, bis er irgendwie erfuhr, daß die Voruntersuchung abgeschlossen war. Dazu gehören schon eiserne Nerven; Paul hatte sie.

Bei der minuziösen Schilderung der Gestaposzene nannte er auch den Namen des Gestapomannes, der sich besonders hervorgetan hatte: Kientop. Dieser seltene Name ließ mich aufhorchen und ich fragte, ob dieser ein auffallend grobes Gesicht mit Akne-Narben hätte. Er bestätigte dies und damit meinen Verdacht, daß es sich um einen ehemaligen Mitschüler am Dorotheenstädtischen Realgymnasium handelte, einen Dummkopf und notorischen Feigling. In der Zwischenzeit hatte ich ihn einmal auf der Straße in SS-Uniform gesehen und gedacht: Da gehörst du hin! Nun erfuhr ich also, daß er auch noch eine seinen Talenten entsprechende Karriere gemacht hatte.

Was alle politischen Gefangenen in Brandenburg einte, war die militante Gegnerschaft zur faschistischen Diktatur. Die Unterschiede der organisatorischen Herkunft, der politischen Ziele oder der Weltanschauung traten in den Hintergrund und wurden nebensächlich. Zwar hatten die Parteikommunisten zahlenmäßig das Übergewicht; die Sozialdemokraten waren — gemessen an den früheren Mitgliederbeständen — schwach, aber die kleinen politischen Gruppen und Sekten relativ stark vertreten; sie waren „überrepräsentiert“, ihr politisches Bildungsniveau war im Durchschnitt am höchsten.

Kenntnisse der marxistischen Theorie waren bei den KPD-Leuten zu meiner Überraschung spärlicher verbreitet, als ich vermutet hatte. Manche Funktionäre, auch lerneifrige Junge, konnten zwar ganze Passagen aus „Lohn, Preis, Profit" oder auch aus Lenins Schriften auswendig zitieren, aber das war mitunter von rührend-unbeholfener Art, etwa wie in der Sonntagsschule das Aufsagen des Katechismus. Der Antrieb zum Handeln, das ihre Gefangenschaft verursacht hatte, war schlichte Treue zu ihren Genossen, zu ihrer Organisation, Empörung über die Gemeinheiten, die von der NS-Diktatur begangen wurden, Rebellion gegen Unfreiheit An dieser Stelle muß allerdings auch eine andere Tatsache erwähnt werden: Die deutsche Arbeiterbewegung insgesamt hatte einen gewissen Typus des nicht allein politisch geschulten, sondern auch auf Allgemeinbildung bedachten Autodidakten hervorgebracht, den man in normalen Zeiten schon an seinem äußeren Erscheinungsbild erkennen konnte. Die Schaffung dieses Typus ist eine echte Leistung der Arbeiterbewegung gewesen. Unter den mittleren Funktionären der KPD kannten sich viele schon von draußen; es ist klar, daß solche alten Bindungen besonders eng waren und, verbunden mit dem charakteristischen Apparatdenken, die eigene Illusion nährten, andere zu dirigieren. Das kommt deutlich zum Ausdruck in dem in der DDR erschienenen Brandenburg-Bericht „Gesprengte Fesseln" -Dort wird beim Leser die Vorstellung von einer fabelhaft funktionierenden, bestens informierten, festgefügten illegalen Parteiorganisation der KPD geweckt, die das Unglaublichste möglich machte und unsichtbar allgegenwärtig agierte. Es wird an einer Legende gestrickt, und ich bin sicher, daß die Verfasser mittlerweile selbst daran glauben. Eine Partei, die über diktatorische Macht verfügt, kann die Vergangenheit nach den vermeintlichen Notwendigkeiten der Gegenwart „aufarbeiten“.

Als ich gegen Ende 1938 ins Außenkommando des Zuchthauses Brandenburg in Abbendorf an der Elbe gebracht worden war, fiel mir ein hochgewachsener, älterer Mitgefangener auf; er hatte ein scharfes Profil und weiße Haare. Ein Kommunist klärte mich auf: „Wat, als Berliner kennste den nich? Det ist Knüppelheinrieh!" So wurde er von Kommunisten und Nazis genannt, der Polizeimajor Karl Heinrich, der in den Jahren der Weimarer Republik für die Unversehrtheit der „Bannmeile" um Reichstag und Regierungsviertel zu sorgen hatte. Diese Bannmeile war, nach den schrecklichen Ereignissen vor den Stufen der Reichstagsfreitreppe im Jahre 1920, als Sperrbezirk geschaffen worden, innerhalb dessen keine Demonstrationen stattfinden durften. Das Parlament sollte nicht unter den Druck der Straße geraten. Da Heinrich als Sozialdemokrat und Reichsbannerführer seine Aufgabe ebenso unparteiisch wie energisch durchführte, wurde er auf beiden Seiten des politischen Spektrums mit diesem Spitznamen bedacht. Die alten Animositäten schienen aber bei den Berliner Kommunisten kameradschaftlich-gutmütigem Spott, damals „Flachs" genannt, Platz gemacht zu haben. In der Illegalität war Heinrich das Haupt einer eigenen Widerstandsgruppe gewesen, die offenbar ziemlich unabhängig war. Seine sarkastischen Bemerkungen waren treffend. Er entwickelte manchmal einen bemerkenswert skurrilen Humor. So äußerte er einmal die Absicht, nach dem „Knast" nach Neu-Kaledonien auszuwandern und sich in einer Einsiedlerklause eine Brandenburg-Gedächtnisecke herzurichten mit Spindkarte, Blechnapf und der nachgefertigten schwarzen Kluft. Alle lachten, er am meisten. Als ich ihn zum letzten Mal bei der Arbeit sah, stand dieser hochgewachsene alte Herr mit einem halben Dutzend Mitgefangener auf einer Fünf-Kubikmeter-Lore, die an unserer Schipperkolonne im Schneeregen vorbeirollte. Er hatte, wie die anderen auch, den blauen Wetterumhang um die Schultern gelegt und das schwarze Krätzchen, die schirmlose Mütze, über die Ohren gezogen; seine schlohweißen Schläfenhaare leuchteten vor. Es war ein Sau-wetter. Er rief uns ein Scherzwort zu. Dann kam jene gefürchtete Kommission und stellte einen Transport in die berüchtigten Moorlager im Emsland zusammen. Nach welchen Gesichtspunkten da selektiert wurde, war unerfindlich. Er und mein Prozeßgenosse Walter Beyer, ein Medizinstudent, der aus der Bündischen Jugend stammte, waren dabei. Beide sah ich zum letzten Mal. Später hörte ich von einem „Moorsoldaten“ über die beiden achtung-voll sagen, sie hätten sich tapfer gehalten.

Das mit dem „Sich-tapfer-halten" liest sich heute so leicht. Man muß aber wissen, daß es gerade in diesen Moorlagern, obwohl nicht der SS, sondern der Justiz unterstehend, schrecklich zuging. So erfuhr ich in Brandenburg von einem aus dem Moorlager zurück-verlegten Kommunisten namens Voggenauer, daß das Krankenhaus in Papenburg immer wieder Selbstverstümmler behandeln müsse, die sich Kopierstiftpartikel in die Augen ge-tan, Rasierklingensplitter verschluckt oder Fingerglieder mit dem geschliffenen Spaten abgeschlagen hatten, um aus der „Hölle am Waldessaum“, wie das Lager Esterwege genannt wurde, wegzukommen. Ein Fall machte die Runde durch alle Strafanstalten: Ein Verzweifelter, der sich die ganze Hand abgetrennt hatte, wurde nach der ärztlichen Versorgung ins Lager zurückgeschickt; der Kommandant ordnete an, daß dem Krüppel vom Schmied ein Ringhaken angefertigt wurde, der mittels einer Kappe am Armstumpf befestigt wurde, da-mit der Unglückliche auch weiterhin den Spaten halten könne.

Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes habe ich als Kriegsgefangener in den Vereinigten Staaten in einer Zeitung gelesen, daß Karl Heinrich Kommandeur der neuaufgestellten Berliner Schutzpolizei geworden war. Als ich 1946 heimkehrte, mußte ich erfahren, daß die Russen ihn inzwischen hatten verschwinden lassen — im wahren Sinne des Wortes. Heinrich war nach dem Kriege einer der wenigen, der für einen Posten nicht nur die Eigenschaft eines Fachmannes, sondern auch die eines Widerstandskämpfers und Verfolgten mitbrachte. Das Vertrauen der drei westlichen Stadtkommandanten also besaß er; die Russen jedoch wollten keinen selbstbewußten Widerständler, sondern einen von ihnen Abhängigen; sie wollten keinen sich der Zwangsvereinigung widersetzenden Sozialdemokraten, sondern einen in russischer Gefangenschaft „umerzogenen" Ritterkreuzträger. So verschwand Heinrich, zu einer „Besprechung" mit einem Offizier der sowjetischen Besatzungsadministration geladen, spurlos in einem anderen Gebäudetrakt des Polizeipräsidiums, in dem seine eigene Dienststelle untergebracht war. Vergeblich bat seine Frau um Aufklärung. Die Russen stellten sich dumm. Nach Jahren erst kam es durch aus russischer Haft Heimgekehrte heraus: Heinrich war in einem russischen Internierungslager auf deutschem Boden zugrundegegangen.

Eine abenteuerliche Lebensgeschichte hatte Theo Faller, ursprünglich Metallfacharbeiter, aber bereits seit Jahren Berufsrevolutionär. Er stammte aus Lörrach in Baden, war jedoch nach zweijähriger Spezialausbildung in der Sowjetunion in Berlin im legendären (und wohl auch überschätzten) M-Apparat der KPD aktiv. 1933 verhaftet, war ihm auf groteske Weise die Flucht aus der Kaserne der gefürchteten SA-Feldpolizei in der Alexanderstraße gelungen: Jemand hatte ihn aus seiner Zelle geholt, ihm Besen und Müllschippe in die Hand gedrückt und ihm befohlen, den Flur zu fegen. Als er bemerkte, daß der Flur an der Straßenseite des Hauses lag und vor der Hausfassade ein Malergerüst aufgebaut war, öffnete er in einem unbewachten Augenblick das Fenster und kletterte mit gezwungener Gelassenheit die Gerüstleiter wie ein Bauarbeiter oder Anstreicher hinab. Von niemandem beachtet, tauchte er im Gewühl der belebten Verkehrsstraße unter. Bei seiner späteren Wiederergreifung wurde er im berüchtigten Columbiahaus in der General-Pape-Straße von der SS wochenlang fürchterlich mißhandelt. Er schilderte mir in seinem badischen Akzent die makabre Szene, wie er zerschlagen, mit zerfetzter Kleidung, abgerissenem Ärmel, in der Ecke kauernd von einem lachenden süddeutschen Bauernburschen in schwarzer SS-Uniform seinen Kameraden gezeigt wurde: „Da schaut's — der luegt wie a Fuchs". Der „Fuchs" war scheinbar ein Asthenikertyp, dem man unter den schlotternden Kleidern die trainierten Muskeln nicht ansah. Sein Kopf war schmal, er hatte eine auffallend große Nase Die Richter wußten, daß sie einen Militanten mit Stehvermögen vor sich hatten, aber sie ahnten nichts von seiner Bürgerkriegsausbildung in Ruß-land. Trotzdem wurde in seinen Gestapoakten schon vor dem Urteilsspruch der Vermerk angebracht, ihn nach Verbüßung der Strafe in ein KZ zu überführen. Dies war ihm bekannt, und so sann er auf Flucht. Die Flucht war in Brandenburg, wenn überhaupt, nur von der Außen-arbeit aus möglich. Als er nach „guter Führung" zur Außenarbeit in die Beamtengärten kam, stellte er per Kassiber einen konspirativen Kontakt her, um Unterstützung von außen zu erlangen. Bei „seinem" Wachtmeister hatte er mittlerweile so etwas wie eine Vertrauensstellung erworben, und nach schweißtreibenden Vorbereitungen gelang der Coup: Faller verschwand in Zivil auf einem Motorrad noch vor dem ausgelösten Alarm, bei dessen Ertönen die drei Brücken zum Görden, auf dem die Anstalt liegt, abgesperrt wurden. Dann ging er über die „grüne" Grenze in die Tschechoslowakei; gleichzeitig ließ er seine Zuchthausuniform als Päckchen an den Hausvater schicken. Das war nicht nur eine Verhöhnung der Justiz, sondern eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall des Mißlingens seiner Flucht: ein wieder eingefangener Flüchtling mußte mit einer neuen Anklage wegen . Diebstahls von Staatseigentum'rechnen.

Inzwischen war der spanische Bürgerkrieg ausgebrochen. In Prag angekommen, mißfiel ihm die Spannung unter den Emigranten, besonders unter den Parteikommunisten; daran waren nicht nur die demoralisierende soziale Lage und das dauernde Aufeinanderhocken schuld, sondern auch die politische Entwicklung in der Sowjetunion. Stalins „Säuberungen“ warfen lange Schatten. Faller meldete sich nach Spanien und bekam dort, entsprechend seiner Ausbildung, den Auftrag, eine kleine Sabotagegruppe im Rücken des Feindes zu führen. Die Gruppe wurde hinter die Stellungen der Francotruppen geschleust und schlich sich nachts auf Eisenbahngelände an die für Lokomotiven der Militärzüge bestimmte Kohle heran. Die großen Kohlestücke wurden mit einem dünnen Instrument angebohrt und Sprengstoff eingefüllt. Die Munitionszüge sprengten sich beim Heizen selbst in die Luft Nach dem Abzug der Ausländer aus der spanischen Republik kam er wieder nach Prag, rechtzeitig um das Tohuwabohu im Emigrantenheim beim Einmarsch der deutschen Truppen mitzuerleben. Er erzählte mit Erbitterung, daß die deutschen Flüchtlinge, während die Panzerspähwagen der Wehrmacht bereits durch die Straßen fuhren, die tschechischen Nachbarn vergeblich darum baten, ihnen kleine Karren und Wägelchen zu verkaufen, damit sie ihre Habseligkeiten bei der erneuten Flucht mitnehmen könnten. Niemand habe einen Finger zur Hilfeleistung gerührt; man habe vielmehr kaum abwarten können, sich auf die zurückgelassenen Sachen zu stürzen.

Faller flüchtete dann in Richtung auf die Karpathoukraine; an der Grenze wurde er von den Rumänen verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. Dort traf er sowohl rumänische Kommunisten als auch Codreanu-Faschisten als Gefangene. Nach drei Monaten wurde er in die mittlerweile besetzte Tschechoslowakei abgeschoben und erreichte wieder Prag. Mit Hilfe der Quäker, von denen er mit großer Hochachtung sprach, gelang es ihm, mit falschen Papieren und echter Fahrkarte im Eisenbahnzug in Richtung Schweiz abzureisen. An der Paßkontrolle beteiligte sich aber ausgerechnet ein Gestapomann aus Berlin, der ihn wiedererkannte. Im Pankraz, dem Prager Polizeigefängnis, traf er schließlich eine ganze Anzahl von Parteifunktionären wieder, denen die Flucht ebenfalls nicht geglückt war. Sie beschuldigten sich gegenseitig früher gemachter Fehler. Diese Rückblicke seien noch deprimierender gewesen als die Aussichten, meinte Faller. So kam er wieder nach Brandenburg, um dort die restliche Strafe mit der Gewißheit abzusitzen, danach nicht in die relative Freiheit entlassen, sondern in ein KZ „überstellt" zu werden. In dieser Situation lernte ich ihn kennen.

Faller erzählte mir all dies, weil er offenbar großes Vertrauen zu mir gefaßt hatte. Denn nicht nur seine Ausbildung in Rußland, seine Zugehörigkeit zum M-Apparat, sondern auch seine Teilnahme am spanischen Bügerkrieg waren der Gestapo und den Mitgefangenen nicht bekannt. Unnötig zu sagen, daß es an diesem Ort zu jener Zeit niemanden gegeben hätte, der mit so etwas hätte renommieren wollen. Seine Frau saß im Frauen-KZ Ravensbrück im Strafblock.. Eines Tages zeigte er mir einen Brief von ihr, der ihm gerade ausgehändigt wurde. Es handelte sich um ein handgroßes, beschriebenes Gitterwerk aus Papier. Die beanstandeten Stellen waren vom Zensor mit der Schere herausgeschnitten worden, so daß die nicht beanstandeten Stellen auf der Rückseite ebenfalls fehlten. Aus der von länglichen, waagerechten Löchern unterbrochenen Ansammlung einzelner Satzfetzen war kaum noch ein Sinn herauszulesen. Theo Faller sah schwarz für seine Zukunft. Ich gab ihm meine Adresse für den Fall, daß es doch noch eine günstigere Entwicklung für ihn gäbe. Er winkte nur müde ab, prägte sie sich aber ein. Nach der Verbüßung seiner Strafe meldete er sich eines Tages bei mir als Entlassener. Was zwischenzeitlich geschehen war, war so außergewöhnlich wie alles andere: die Gestapo hatte ihn an seinem Entlassungstag vergessen. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als ein „großes Spiel" zu wagen. Als Zivilist mit ordentlichen Entlassungspapieren ging er in Berlin in die Prinz-Albrecht-Straße, ins Hauptquartier der Gestapo. Natürlich stellte sich heraus, daß man tatsächlich nur vergessen hatte, ihn abzuholen. Er wurde in eine der winzigen, fast quadratischen Wartezellen geschubst. Das waren, so sagte er mir, die schlimmsten Stunden seines Lebens. Als sie ihn wieder herausholten, machten die Gestapoleute neugierig-gespannte Gesichter. Faller erklärte ihnen, daß er, wenn sie seine Frau nicht freiließen, auch nicht „draußen" sein wolle. Er betrachte sich als ein geschlagener Gegner, der bezahlt habe und bei aussichtsloser Lage kapituliere. Die Gestapomänner waren verblüfft. Diese Mischung ritterlicher Gesinnung und Unverfrorenheit schien ihnen zu imponieren. Er wurde freigelassen und seine Frau aus dem KZ, wo sie sich eine Tbc zugezogen hatte, zur Aufpäppelung mit Butter und Schonkost ins Polizeipräsidium geschafft und nach etwa zwei Wochen entlassen. Ich lernte sie in ihrem gemeinsamen Heim, einer Laubenbaracke in Fredersdorf, kennen. Auch sie war ein außergewöhnlicher Mensch: eine lebenskluge Frau mit mütterlichem Instinkt, dabei äußerlich eher ein harter Typ, der an frühe Revolutionärinnen der Zarenzeit erinnerte. Im Gespräch sagte sie einmal: „Lieber Unrecht dulden, als Unrecht tun.“ Das klang nicht gerade leninistisch. Dabei war sie eine intelligente, geschulte Frau, Dolmetscherin und Justizangestelle in der Weimarer Zeit. Zu Beginn des Dritten Reiches hatte sie an einer gescheiterten Befreiungsaktion für Thälmann in Moabit teilgenommen.

Theo Faller wurde nach mir zu den 999ern eingezogen und kam in den Dodekanes. Dort wurde sein Schiff zwischen den Inseln während des Transports getroffen und versenkt. Die Engländer sollen auf die Schiffbrüchigen geschossen haben; jedenfalls erhielt er einen Lungensteckschuß. Da er, wie ich aus seinen Jugenderinnerungen wußte, ein im Oberrhein trainierter guter Schwimmer und überhaupt ein zäher Kerl war, erreichte er noch den Strand von Rhodos. Dort liegt er begraben.

Die KPO, als „rechte" Oppositionsgruppe 1928 mit Brandler und Thalheimer aus der KPD ausgeschlossen, war besonders in den Industriebetrieben aktiv. Sie hatte ihre Hauptstützpunkte in Breslau, Stuttgart, Leipzig und Berlin. Ihre Kritik an der KPD konzentrierte sich auf deren Abhängigkeit von Moskau; unter Stalins Einfluß hatte die KPD in wachsendem Maße den Kampf gegen die Sozialdemokratie, die von ihm als „Sozialfaschismus" diffamiert wurde, geführt und die Gewerkschaften zu spalten versucht. Die KPO hielt zu entsprechenden Gruppierungen in anderen Ländern Verbindung und betrachtete sich als eine Opposition innerhalb der kommunistischen Bewegung — deshalb die eigene offizielle Bezeichnung als KPD (O) —, die eine Reform der Komintern anstrebte. In der innerrussischen Auseinandersetzung galt ihre Sympathie dem ehemaligen ersten Vorsitzenden der Komintern, N. Bucharin, der nach den Moskauer Schauprozessen erschossen wurde.

KPO-Leute galten zu Recht als besonders rührige Gewerkschaftler. So war der Leiter der Widerstandszelle des Metallarbeiter-Verbandes in Berlin, die eine selbsthergestellte Untergrundzeitung herausgab, das KPO-Mitglied Walter Uhlmann. Dieser hatte illegal, d. h. vor der Gestapo versteckt und polizeilich nicht gemeldet, leben müssen und war zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden, die er jetzt in Brandenburg verbüßte. Nach seiner Verhaftung wollte es der Zufall, daß er im Treppenhaus der Gestapozentrale in der Prinz-Albrecht-Straße an dem allgewaltigen Himmler vorbeigeführt wurde. Da Uhlmanns Erscheinung — groß, blond, blauäugig — so ganz den Idealen der SS entsprach, stutzte Himmler, blieb stehen, musterte ihn durch seinen Zwikker und fragte nur: „Kommunist?" Uhlmann, der als oppositioneller Antistalinist durchaus eine differenzierte Antwort hätte geben können, sagte schlicht: „Ja".

In dem DDR-Buch über Brandenburg wird Uhlmann zur Unperson gestempelt; die Autoren dieses Berichtes verzichten dabei gerade auf jene Fakten, die das zu stützen geeignet sind, worum es ihnen am meisten geht: den Nachweis aktiven Widerstands. So wird ge2) sagt, daß es nicht gelungen sei, die Verbindung zu der letzten noch gegen Kriegsende illegal arbeitenden Organisation in Berlin, der Saefkowgruppe, herzustellen. In Wirklichkeit wurde diese Verbindung von Uhlmann hergestellt, der als LKW-Beifahrer dabei seinen Kopf riskierte

Der Stalin-Hitler-Pakt wirkte auf alle politischen Gefangenen niederschmetternd. Die Beamten jedoch feixten. Das von der Justizverwaltung zentral herausgegebene Blatt für die Sträflinge, „Der Leuchtturm", brachte auf der Titelseite das Bild vom Empfang des NS-Außenministers Ribbentrop auf dem Moskauer Flughafen. Eine Musikkapelle der Roten Armee spielte das Horst-Wessel-Lied, wie in der Bildunterschrift genüßlich hervorgehoben wurde. Aus der Sicht der Politischen war eine böse Entwicklung eingetreten; bei den linientreuen Kommunisten kam die seelische Belastung hinzu. Dennoch gab es Funktionäre, bei denen der Wille zu glauben stärker war als die Vernunft.

Ich entsinne mich einer in der Baracke in Abbendorf des Nachts flüsternd geführten Diskussion im September 1939 zwischen Uhlmann, Karl Müller und mir. Müller versuchte die Haltung der Sowjetunion zu begründen und zu verharmlosen. Wir wollten von ihm wissen, was er denn sagen würde, wenn sich herausstellen sollte, daß Stalin und Hitler heimlich eine Demarkationslinie durch Polen vereinbart hätten, an der sich Wehrmacht und Rote Armee als Verbündete träfen. Die Antwort: das sei ausgeschlossen, der Gedanke sei so aberwitzig, daß es nicht lohne, an solche Hypothese ein Wort zu verschwenden. Als wir insistierten und sinngemäß sagten, daß seine Einstellung richtig sein möge — auch wir hofften dies ja —, aber ob im Falle der angenommenen Bestätigung solcher Hypothese nicht auch er die Notwendigkeit sehe, die eigene Einschätzung der Sowjetunion neu zu überdenken, gab er dies nach einigem Sich-winden zu. Natürlich „rein theoretisch", denn es sei sowieso eine müßige Gedankenspielerei. An einem der nächsten Tage brachte jemand den „Völkischen Beobachter" mit der auf einer Karte von Polen eingezeichneten Demarkationslinie ins Lager. Aber bei manchen Kommunisten war der Glaube eben stärker als Vernunft, auch bei Anhängern des „wissenschaftlichen“ Sozialismus.

In dem Buch „Gesprengte Fesseln“ wird eine kleine Wartezelle für Arztpatienten im Haus 2 erwähnt, in der hin und wieder ein kurzer Gedankenaustausch zwischen Politischen stattfand, die sich auf andere Weise nicht hätten sehen können. Unter dem Vorwand der medizinischen Betreuung wurden solche Begegnungen gelegentlich arrangiert. In dieser Zelle hatte ich eine interessante Begegnung mit einem Intellektuellen aus der Karl-Liebknechthaus-Sphäre, der sich Glaser nannte und, wie er sagte, eigentlich Ungar war. Meine Anwesenheit war nicht arrangiert — ich mußte mich einer Zahnbehandlung unterziehen. Glaser war eine schlanke, selbst in der Anstaltskluft fast elegant wirkende Erscheinung mit glatt gekämmtem dunklen Haar und dünnem Oberlippenbärtchen. Wir waren allein. Da ich mich noch mitten in meiner „philosophischen Phase“ befand, stellte er schnell mein Interesse an Grundsätzlichem fest und erwähnte, daß er vorwiegend mit theoretischen Problemen befaßt gewesen sei. Ich setzte ihm mit Fragen zu über Widersprüche, die mir bei meiner Beschäftigung mit den Werken von Marx und Lenin aufgefallen waren: Marx und Engels gingen von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reife oder Überreife eines Landes aus, bei der die Revolution nur noch die Geburtshilfe für die nächsthöhere Stufe, in unserem Jahrhundert also der Sozialismus, leiste. In Rußland sei doch diese Reife 1917 überhaupt nicht vorhanden gewesen. Als ich auf die Überholtheit, das Altmodische im Materialismus des 19. Jahrhunderts gegenüber den inzwischen gewonnenen Erkenntnissen von Planck, Einstein und Heisenberg hinwies und meinte, daß die Behauptung, die Energie sei nur eine Funktion der Materie, doch nicht aufrechtzuerhalten sei, lächelte er milde und sagte: „Du bist ein typischer Deutscher." Das sollte sicherlich kein Lob sein.

Wir kamen auf den Stalin-Hitler-Pakt zu sprechen. Als ich meine Erbitterung darüber äußerte, wußte er Trost: Ich solle mir doch mal leidenschaftslos das Positive vor Augen halten; er deutete ungeahnte Perspektiven an.

Dieses Abkommen sichere der Sowjetunion nicht nur große wirtschaftliche Hilfe durch die Nazis, auch für unsere Ziele im eigenen Land sei doch — dialektisch betrachtet — von denen nolens volens einiges gemacht worden;

sowohl technisch seien Schritte in Richtung Fortschritt gemacht worden als auch auf sozialem Gebiet, jawohl auch dort. Und wenn es nur ein paar Meter in der Richtung seien, man solle sie doch nicht übersehen. Letzten Endes bräuchten wir doch später mal dies und jenes nur noch zu Ende zu führen, was die heute teilweise schon angefangen hätten. Ihm sei es doch wurscht, ob das unter dem Firmenschild NSV oder KdF stattfinde; wichtig sei nur, daß etwas in der richtigen Richtung in Bewegung käme. Wir würden uns unseren Blick durch Äußerlichkeiten, Namen, Embleme selbst verstellen. Für einen Marxisten sei nur die Beantwortung der Frage ausschlaggebend: Dient es dem Fortschritt? Ja oder nein. Für ihn sei klar: Ja! Wenn der Sieg des Kommunismus es nötig mache, sei er bereit, heute und gleich barfuß mit einer großen Hakenkreuzfahne von hier bis zum Brandenburger Tor in Berlin zu laufen.

K. O. Paetel, bis 1933 Herausgeber der kleinen Zeitschrift „Die sozialistische Nation“, legte im Exil Anfang 1940 in der „Sozialistischen Warte“, dem Organ des ISK seine Ansichten über die mögliche Entwicklung der illegalen KPD in Deutschland dar. Er fürchtete, daß die Reste der deutschen KP, die die menschliche und ideologische Krise, in die die Politik der Sowjetunion sie gebracht hatte, „in dogmatischer Verranntheit intakt überleben, damit endgültig zu einer außerdeutschen Kraft geworden" seien, die nur nach den Befehlen Moskaus handeln würde. „Heute schweigt man auf russische Order zu der aggressiven Außenpolitik des deutsch-russischen Blocks, morgen wird man auf den gleichen Befehl allein die . Revolutionierung' Deutschlands betreiben, die im russischen Interesse liegt. Ist heute die kommunistische Arbeit im Dritten Reich wenigstens noch latent auch antinationalsozialistisch, so kann sie morgen eindeutig antisozialistisch sein, sowie die SU eigene Kolonisierungsziele in Deutschland verfolgen wird."

Eine interessante Begegnung war für mich die mit Alexander Schwab, einem Repräsentanten der bereits damals historisch gewordenen KAPD, die links von der KPD anfangs eine zeitlang zur Kommunistischen Internationale zugelassen war. Sie war es, die bei den Kämpfen an der Ruhr 1920 und in Mitteldeutschland 1921 eine Rolle gespielt hatte und zeitweise eine höhere Mitgliederzahl — auch in Berlin — besaß als die KPD. Diese Richtung huldigte einem Aktionismus, mit dem sich Lenin in seiner Broschüre „Die Kinderkrankheit des . Radikalismus im Kommunismus" auseinandergesetzt hatte Als Anhänger einer unmittelbaren Räteherrschaft lehnten die KAP-Leute die Teilnahme an Parlamentswahlen ab; sie besaßen starke Ähnlichkeiten mit den Anarcho-Syndikalisten. Schwab erzählte mir, wie er, als blinder Passagier von Matrosen auf einem Kohlendampfer nach Petrograd versteckt, mit im Mantelfutter eingenähter Delegiertenkarte zum Kominternkongreß nach Moskau gereist war. Dort trat er als Redner gegen Lenin auf. Alexander Schwab war Journalist. Er hatte sich in Berlin an der illegalen Arbeit einer Gruppe beteiligt, die sich „Rote Kämpfer" nannte und sich aus Anhängern der „Rätedemokratie" zusammensetzte; es waren Luxemburgianer, frühere KAPler, die der SPD beigetreten waren, und Angehörige der SAJ, der sozialdemokratischen Jugend. Schwab starb später in einem sächsischen Zuchthaus. Neben ihm war Karl Schröder der bekannteste Vertreter dieser Gruppe, zu der auch Bruno Lindner, Volksschullehrer aus Berlin, gehörte, den ich ebenfalls in Brandenburg kennenlernte. Er mußte direkt aus dem Zuchthaus zur Division 999. Seine Einheit ergab sich auf dem Rückzug durch den Balkan den Bulgaren, die sie keineswegs als Genossen behandelten, sondern in ein Gefangenenlager sperrten. Durch einen mühsam zustande gebrachten Kontakt mit den Russen gelang es, von diesen übernommen und in die Sowjetunion gebracht zu werden; dort erging es ihnen jedoch nicht besser.

Der erste Kommunist, aus dessen Mund ich — noch vor Abschluß des Stalin-Hitler-Pakts — hören sollte, daß Stalin ein „Massenmörder“ sei, war ein Leninbündler. Diese linke Gruppe hatte sich unter Führung des Volksschullehrers Hugo Urbahns 1927 von der KPD getrennt. Die von der KPD als „ultralinke Sekte“ bezeichnete Gruppierung beteiligte sich am Widerstand ebenso wie die eigentlichen Trotzkisten.

Die Anhänger von Leo Trotzki, die sich als Vierte Internationale betrachteten und auch so nannten, waren bis dahin in der Sowjetunion wachsender Verfolgung ausgesetzt gewesen; sie bauten auch in anderen Ländern eine Linksopposition gegen Stalin und seine „Bürokratie" auf. Sie betrachteten sich als die wirklichen Kommunisten.

In der Bücherei, die dem Oberlehrer der Anstalt unterstand, waren drei politische Gefangene beschäftigt. Einer von ihnen war Rudolf Küstermeier, Journalist aus Berlin. Er hatte zu Beginn des Dritten Reiches zusammen mit Ristow das vielgelesene Wochenblatt „Blick in die Zeit“ herausgegeben. Diese Zeitschrift bestand nur aus zitierten, raffiniert zusammengestellten Textstellen aus anderen Zeitungen, ohne eigenen Kommentar. Damit erreichte sie eine beachtliche Auflage; man machte sich gegenseitig augenzwinkernd auf das Blatt aufmerksam und vermutete „wer-weiß-was" für Hintermänner. In Wirklichkeit jedoch hatten die beiden Herausgeber einfach eine originelle Idee, die eine ganze Weile — zum Erstaunen der Urheber selbst — funktionierte. Ich entsann mich der fettgedruckten Schlagzeile auf der ersten Seite einer Ausgabe im ersten Halbjahr 1933: „Die Märzgefallenen". Die echten Märzgefallenen waren die bei den Straßenkämpfen der Revolution 1848 umgekommenen Barrikadenkämpfer Berlins, die im Friedrichshain begraben lagen. Nach den Märzwahlen von 1933 aber, die auch den vorsichtigsten Opportunisten die Gewißheit über den endgültigen Sieg der Nazis gaben, nannte der Berliner Volkswitz die Überläufer „Märzgefallene", die in hellen Scharen in die einzige Partei drängten, die es noch gab, in die NSDAP. Küstermeier war das Haupt einer sozialdemokratischen Widerstandsgruppe, die sich „Roter Stoßtrupp“ nannte und aus dem Studentenmilieu hervorgegangen war. Nach dem Kriege wurde er der erste Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt".

In der Bücherei arbeitete auch Erich Paterna, Lehrer aus Sorau und ehemaliger Sozialdemokrat, der zum Leninisten geworden war. Ich sollte ihn im Außenkommando wiedertreffen, wo wir uns näher kamen. Von enzyklopädischer Belesenheit war er vorwiegend an naturwissenschaftlich-philosophischen Fragen interessiert, aber auch für künstlerische Impulse stark empfänglich. In Abbendorf studierte er einen Chor ein, an dem auch ich mich beteiligte. Auf Bitte des Geistlichen sangen wir einmal zum katholischen Gottesdienst „Heilige Nacht, o gieße du ..." Es war ein bißchen paradox: da in dem Chor nur politische Gefangene sangen, bestand er fast nur aus Dissidenten (die damals übliche Bezeichnung für Freidenker, die keiner Glaubensgemeinschaft angehörten). Trotzdem sangen wir dem Priester zu-liebe, der bei den politischen Häftlingen in gutem Ansehen stand, für seinen Gottesdienst, an dem nur drei Gläubige teilnahmen; es waren Kriminelle.

Obwohl Paterna in seinen grundsätzlichen Ansichten über kriminelle Straftäter einen weit liberaleren Standpunkt vertrat als die proletarischen politischen Mitgefangenen, litt er psychisch unter den Kriminellen. Als er von einer kleinen Arbeitskolonne abgelöst wurde, in der er der einzige politische Gefangene gewesen war, sagte er mir mit zerquältem Gesicht, er hätte es nicht mehr lange ertragen und das Gefühl gehabt, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Es war nicht nur die Rohheit der Ausdrucksweise und des Benehmens, sondern vor allem die niederträchtige Gesinnung, die ihn tief deprimierte. Wir arbeiteten längere Zeit in einer kleinen Arbeitsgruppe beim Elbdeichbau auf dem Spülfeld, wo wir in den 12-Stundenschichten auch nachts arbeitend im Zweimannteam Gelegenheit hatten, unbelauscht unsere Gedanken auszutauschen und unsere Phantasie schweifen zu lassen. Paterna neigte als echter Schulmann zum Dozieren. Ich profitierte von seinem profunden Wissen und merkte mir die zahlreichen Literaturhinweise für ein späteres Quellenstudium. Während ich als „Marx-Anfänger“ noch die vor wenigen Jahren als Offenbarung übernommenen materialistischen Grundauffassungen schwach zu verteidigen suchte, lehnte er diese als Ausdruck eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden, längst überholten Vulgärmaterialismus ab.

Erich Paterna, Kriegsfreiwilliger von 1914, aus dem großen Völkermorden ernüchtert heimgekehrt, hatte sich in der Revolution der Sozialdemokratie angeschlossen. Er gehörte zu den „Entschiedenen Schulreformern" und kam 1932 in Kontakt mit den Kommunisten. Nach Hitlers Machtübernahme beteiligte er sich an der illegalen Arbeit einer Widerstandsgruppe im Lausitzer Braunkohlenrevier. Aus dem Munde von politischen Mitgefangenen hörte ich gelegentlich die Ansicht, er sei religiöser Sozialist; das stimmte aber nicht. Er hatte sich vielmehr einen eigenen Standpunkt erarbeitet. Philosophisch war er Monist mit einer gewissen Neigung zu mystischer Welterklärung. Er bestand auf der Gültigkeit absoluter Werte. Den historischen Materialismus als Erklärung der Geschichte und Anweisung zum Handeln in der Politik erkannte er an. Seiner Meinung nach war aber die Bezeichnung nicht glücklich gewählt und aus der polemischen Gegenposition von Marx und Engels gegen den vorher herrschenden historischen Idealismus zu werten; die bessere Nomenklatur wäre Realismus gewesen. Den dialektischen Materialismus als Weltanschauung hingegen lehnte er für sich ab: Leninist mit einer Reservatio mentalis gegenüber dem „Diamat". Ausgerechnet über ihn wird in dem in der DDR erschienenen Bericht über Brandenburg behauptet, er habe im Außenkommando Abbendorf „regelmäßig • •auch über die materialistische Dialektik (sic 1) gelehrt“.

In Paternas Gesicht kamen drei für ihn charakteristische Züge deutlich zum Ausdruck: die Gewohnheit konzentrierten Nachdenkens, die liebenswürdige Konzilianz, die mit einem schnellen Lächeln zu gutem Willen einzuladen schien, und merkwürdigerweise eine Neigung zu mönchischem Eiferertum. Im persönlichen Umgang der denkbar angenehmste Kamerad, war er allgemein beliebt. Verabredungsgemäß gab er nach seiner Entlassung ein Lebenszeichen, und ich besuchte ihn, bevor ich als 999er nach Afrika geschickt wurde, in Kriescht, einem kleinen Nest im Oderbruch; dort lebte er als Buchhalter einer Molkerei mit seiner Familie völlig isoliert. Nach dem Krieg machte die SED ihn zum Fakultätsleiter an der Parteihochschule in Kleinmachnow und später wurde er Professor für Geschichte an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin.

Zu den prominenten Gefangenen, den „interessanten Fällen", gehörte Ernst Niekisch. Die Nachricht über seine Verurteilung zu lebenslänglicher Haft war, während ich bereits ein-saß, zu mir durchgesickert. Man muß bedenken, daß sein politischer Standpunkt zu dieser Zeit den meisten Mitgefangenen nicht bekannt war. Ich hatte gelegentlich seine Monatsschrift „Widerstand" gelesen, die bis Ende 1934 erscheinen konnte; halb gelähmt und fast erblindet wurde Niekisch Ostern 1939 in Brandenburg-Görden eingeliefert. Seine Gruppe hatte aus Zirkeln seiner ehemaligen Leser bestanden, die sich trafen und gelegentlich auch von ihm besucht wurden. Der Hauptanklagepunkt war sein Manuskript „Das Reich der niederen Dämonen“ eine vernichtende Generalabrechnung mit dem Dritten Reich; sie sollte im Ausland erscheinen, wurde aber von den Nazis entdeckt. Die Zeitschrift „Widerstand“ war bereits 1926 entstanden. Ihr Name bezog sich auf den Widerstand gegen Versailles und die „Erfüllungspolitik“ der Weimarer Republik. Die politische Zielrichtung der Zeitschrift war nationalrevolutionär, antiwestlich; sie trat für ein Zusammengehen mit der Sowjetunion ein, deshalb nannte man sie auch »nationalbolschewistisch". Niekisch bewunderte in einem (mit seinem Pseudonym Spektator gezeichneten) Artikel Stalin als große nimperiale" Figur, während er in Trotzki den internationalistischen jüdischen Intellektuellen sah, der zurecht gescheitert sei.

Ein außergewöhnlicher Fall war auch Georg Walter, der als Altnationalsozialist 1931 anläßlich der SA-Meuterei um Stennes zur Schwarzen Front gestoßen war und auch Kontakte zum Scheringerkreis aufgenommen hatte. Auf den dringenden Rat seiner neuen politischen Freunde hin ließ er sich als scheinbar reumütig Zurückgekehrter wieder in die SA aufnehmen; diese nahm es nicht so genau und gab ihm einen Rang wegen seiner alten „Verdienste". In dieser Tarnung begann Walter eine intensive konspirative Tätigkeit: er schleuste politische Flüchtlinge aus und illegale Flugschriften ein. Er traf sich mit dem kommunistischen Presse-und Propagandaspezialisten Willi Münzenberg in Paris, war tätig als Kurier für die sich als Deutsche Freiheitspartei bezeichnende Gruppe um Klepper, den letzten preußischen Finanzminister der Weimarer Zeit, und Spiecker, Brünings ehemaligen Pressechef; beide hatten in der Schlußphase der Weimarer Republik an einer diskreten finanziellen Unterstützung der Schwarzen Front mitgewirkt. Die „Deutschen Freiheitsbriefe", die seit 1937 die Gestapo in wachsendem Maße nervös machten, wurden von Münzenberg, nach seinem Abfall von der KPD, für die Freiheitspartei gedruckt und vorwiegend über eine Verteilungsstelle in Belgien nahe der Grenze von Georg Walter ins Reich eingeschmuggelt. Die von der Exil-KPD herausgegebene „Deutsche Volkszeitung" enttarnte öffentlich die Adresse. Die Gestapo schlug zu. Der Austromarxist Josef Hindels nannte das Programm der Schwarzen Front ein . Amalgam aus Nibelungensage und Revolutionsbegeisterung, aus fast-marxistischen Erkenntnissen und romantischer Phraseologie". Von Otto Strasser erschien im Januar 1934 in Prag die Broschüre „Sozialistische Revolution oder faschistischer Krieg?" Er hielt im Exil Beziehungen zu den SPD-Reichstagsabgeordneten Otto Wels (Leiter der „Sopade“) und W. Sollmann, zu Wenzel Jaksch, dem Sprecher der sudetendeutschen Sozialdemokraten, zu den Volkssozialisten um Jaeger und Max Cahen zu Max Sievers, dem Vorsitzenden des Freidenkerverbandes, zu dem Pazifisten Kurt Hiller, mit dem er ein gemeinsames Manifest verfaßte, zu dem früheren „Rote Fahne'-Redakteur E. Wollenberg, der in seiner Zeitung publizierte, und zu den Schriftstellern Konrad Heiden und Emil Ludwig.

Als einziger politischen Exilgruppe gelang es der Schwarzen Front, jahrelang eigene unabhängige Radiosender illegal in Betrieb zu halten. Den ersten brachte in der Tschechoslowakei die Gestapo durch ein Mordkommando zum Schweigen, wobei Rudolf Formis erschossen wurde. Kurz danach wurde in Zusammenarbeit mit den Volkssozialisten, einer sozialdemokratischen Exilgruppe, ein neuer Sender in Betrieb genommen. Ab 1937 wurde aus Südfrankreich gesendet. Der Schwarzfrontmann, der diesen Sender betrieb, ein ehemaliger Offizier namens Trenkle, wurde bei der Besetzung Frankreichs verhaftet und in Plötzensee enthauptet. In der „Deutschen Revolution“, dem in Prag herausgegebenen Organ der Schwarzen Front, hieß es im Januar 1937: „Das Hitlersystem bringt den Krieg, der Krieg bringt die Aufteilung Deutschlands — wenn nicht die sozialistische Revolution dies verhindert." Vor der Militäropposition um den 20. Juli 1944 war diese Gruppe die einzige, die Attentatsversuche auf die Person Hitlers oder als Fanal gedachte Anschläge auf Parteieinrichtungen unternommen hatte. Die Anschläge endeten alle mit der Hinrichtung der Beteiligten. — Strafgefangene, die „auf Transport" von einem Gewahrsam zum anderen geschickt wurden, wurden einzeln von einem Polizisten an der Handgelenkkette, der sogenannten Longe, geführt; sie war an den Enden, die sich in der Hand des Beamten befanden, mit Knebeln versehen, um durch Drehung das Handgelenk des Gefangenen schmerzhaft einschnüren zu können, falls dem „Begleiter" dies geboten schien. Die meisten Polizisten machten es routinemäßig, leger, denn es wurde ja vorher gewarnt, daß beim geringsten Fluchtversuch geschossen würde; es kam bei einer Transportkolonne schließlich auf jeden Häftling ein bewaffneter Polizist. Aber es gab auch besonders Tüchtige, die einem die ganze Zeit über mit dem Ding die Adern strangulierten. Eine „verbesserte" Methode war das Zusammenschließen von jeweils zwei Gefangenen mittels der sogenannten „Acht". Das waren Doppelhandschellen aus blankem Stahl, die durch ein Scharnier zusammengehalten wurden. Mittels eines klug erdachten Mechanismus wurden sie bei heftigen Bewegungen von selbst enger, weil eine kleine Nocke in die nächste Zacke einrastete.

An einer solchen . Acht" sah ich mich eines Tages bei einem Transport mit einem kleinen, behenden, kahlköpfigen Mann zusammengeschlossen; sein intelligentes Gesicht mit den lebhaften Augen kam mir sofort bekannt vor. Während meiner Untersuchungshaft hatte ich sein Bild in der Zeitung gesehen und einen Bericht über seinen Prozeß vor dem Volksgerichtshof gelesen, der mit seiner Verurteilung zu „lebenslänglich" endete. Es war Julius Philippson, einer der Leiter des illegalen ISK (Internationaler Sozialistischer Kampfbund), einer linken, nichtmarxistischen Gruppierung, die in den zwanziger Jahren aus der SPD ausgeschlossen worden war. Es waren ethische Sozialisten, die sich auf die Lehren ihres Begründers Leonard Nelson stützten. Philippson erzählte mir, daß man ihm als Juden in der Prinz-Albrecht-Straße besonders gemein zugesetzt hätte. So habe man ihn u. a. mit Handschellen an die Zentralheizung angekettet; selbst die an brutale Vernehmungsmethoden gewöhnte Frau, die die Protokolle tippte, sei in Tränen ausgebrochen. Als die Gestapoleute zu einer Stärkungspause in die Kantine gegangen seien, habe sie den Gefesselten aus Mitleid mit Schokolade gefüttert. Im Ersten Weltkrieg war Philippson als Offizier in russische Kriegsgefangenschaft geraten und zu Fuß quer durch Sibirien nach China geflüchtet. Zu uns ins Zuchthaus brachte er eine politische Neuigkeit mit: Die Italiener hatten Albanien besetzt. Als ich spontan herausbrachte, das hätte ich erwartet, meinte er mit leisem Spott: „So? Ich nicht." Philippson kam später im Vernichtungslager Auschwitz ums Leben.

Otto Scharfschwerdt war Sozialdemokrat alten Schlages, Vorstandsmitglied des Lokomotivführer-Verbandes, ein vierschrötiger, breitschultriger Mann mit kräftigem grauen Haar. Er war der Typus des deutschen Facharbeiters mit Berufsstolz und politischem Selbstbewußtsein. Ich lernte ihn kennen in der Außenarbeiterunterkunft des Hauses 2, die an den Duschraum angrenzte, in dem auch die Wannen für vom Arzt verordnete Bäder standen. Solche Bäder hatte der Arzt wohl gegen sein Rheuma verordnet, und so mußte er vor-und nachher in der Unterkunft jeweils auf den Badekalfaktor oder auf die Rückführung in die Zelle durch den Beamten warten. Das war ein willkommener Anlaß zu unbeaufsichtigten Gesprächen mit den Haftgenossen. Er genoß diese seltenen Kontakte sichtlich und war ein anschaulicher Erzähler. Sozialdemokraten mußten sich gelegentlich, besonders wenn es sich um „Bonzen" handelte, verhörartigen Diskussionen mit ihren kommunistischen Mitgefangenen stellen. Bei einer solchen Runde, wo es hoch herging, erschien unerwartet ein Wachtmeister auf der Bildfläche, der allerdings kaum etwas verstanden haben konnte, und rief scharf: „Na, Scharfschwerdt, Sie können das Agitieren wohl noch immer nicht lassen?!" Ich war erstaunt über die geschickte Art, mit der Scharfschwerdt verstand, humorvoll abzuwiegeln, ohne dabei im geringsten an Gesicht zu verlieren. Im Gegenteil fiel mir jedes-mal auf, daß sein Auftreten den Beamten Achtung abnötigte. Zu seiner Verurteilung hatte u. a. die Herstellung von Flugblättern geführt, die mit „Front der anständigen Deutschen" unterzeichnet waren. Das Dritte Reich überlebte er nicht; er wurde im KZ Sachsenhausen umgebracht. Die „Freistunde“, der 20-Minuten-Rundgang auf dem von vier Hausfassaden eingerahmten Hof, wurde in Brandenburg im Gleichschritt durchgeführt. Dabei sorgten die Beamten durch dauernde Mahnrufe . Abstand halten!" dafür, daß die einzeln hintereinander gehenden Gefangenen sich nicht verständigen konnten. Sprechen war verboten. Die Erfindungsgabe, mit der dieses Verbot durchbrochen wurde, war erstaunlich. Jeder Gefangene beherrschte nach einiger Zeit die Bauchrednerkunst; ohne die Lippen zu bewegen, konnte er mit teilnahmslosem Pokergesicht reden und so mit dem Hinter-oder Vordermann Mitteilungen austauschen. Dennoch wurde immer wieder mal einer erwischt, der die Freistunde dann abbrechen mußte. Eines Tages wurde bei einer Freistunde unter dem Triumphschrei des Wachtmeisters ein „Missetäter" gefunden. Es war ein hochaufgeschossener, junger Mensch; für den Rest der „Freistunde" mußte er sich wie ein kleiner Schuljunge mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke stellen. Mir fiel seine verächtliche Miene auf, die sehr im Gegensatz zu seinem jungen, offenen Gesicht stand. Später sollte ich seine Devise hören: »Haß ist unwürdig, ich kann nur verachten!" Man sagte mir, daß er ein politischer Häftling sei, der schon dreieinhalb Jahre Einzelhaft hinter sich habe. Bei der Einlieferung sei er noch so jung gewesen, daß er in der Haft noch gewachsen und unter den Gegebenheiten herzleidend geworden sei. Jeder schien ihn zu kennen. Er hatte einen ausgefallenen, griechisch klingenden Namen: Hans Loriades.

Einige Zeit später traf ich ihn im Außenkommando Abbendorf; dorthin hatte man ihn versuchsweise geschickt. Er kam in meine Barakke, die zu dieser Zeit fast nur mit politischen Gefangenen belegt war, und so nahmen wir die Gelegenheit zum Gedankenaustausch wahr; wir freundeten uns an. Hans Loriades hatte der kommunistischen Jugend angehört Als Neunzehnjähriger war er 1934, also zu einer Zeit, als die Strafen noch nicht so hoch ausfielen wie später, zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren verurteilt worden, weil er bei seiner Verhaftung eine Pistole bei sich getragen hatte; zum Glück für ihn war sie ungeladen. Immerhin hatte er damit bei der konspirativen Zusammenkunft in einer verbarrikadierten Dachwohnung die plötzlich erschienenen Gestapomänner solange in Schach halten können, bis die anderen Freunde über die Dächer verschwunden waren. So hat er es mir erzählt, sachlich und ohne Ausschmückung. Viele Jahre später hörte ich diese Schilderung auch von anderer Seite. Belastendes Material hatte er verbrannt und niemanden preisgegeben. Mit seinem grüblerischen Wesen, seinem moralischen Rigorismus und der Drahtbrille vor den kurzsichtigen Augen erinnerte Loriades an einen Studenten aus Dostojewskis „Dämonen". Einen Beruf hatte er offenbar nicht erlernt; kein Wunder, wenn man bedenkt, daß bei seiner Verhaftung im Januar 1934 die 1929 begonnene Wirtschaftskrise noch nicht beendet war. Dieser „ungelernte Arbeiter" war erstaunlich belesen und außerordentlich wißbegierig. Sobald er den Eindruck hatte, einen „Experten" vor sich zu haben, setzte er ihm mit gezielten Fragen zu. So fragte er einmal einen wegen Meineides einsitzenden Rechtsanwalt mit flottem Schmiß auf der Backe, was das mit den Justinianischen Pandekten auf sich habe. Die unwillige Reaktion des Juristen ließ erkennen, daß er von Honoraren für Scheidungsklagen mehr verstand als von der Geschichte des Rechtswesens. Einen politischen Mitgefangenen hörte ich über Loriades voller Bewunderung sagen: „Der Junge ist eine Denkmaschine!" In dieser Ausdrucksweise kam zwar die aus dem 19. Jahrhundert stammende, von der linken Arbeiterbildung gepflegte charakteristische Überschätzung des Mechanisch-Materiellen zum Ausdruck, aber er hatte ganz richtig bemerkt, daß dieser junge Mensch viel nachdachte und eine bemerkenswerte Fähigkeit zu logischem Denken entwikkelt hatte. Hans interessierte sich für Philosophie und stellte sich und anderen bohrende Fragen. So konnte es nicht ausbleiben, daß er auch auf dem uns nächstliegenden Problem-feld, dem politischen, Fragen stellte. Da ihm deswegen schon von der Anstalt her der Ruf, Trotzkist zu sein, anhaftete, drängte er sich mit seinen Zweifeln und Schlußfolgerungen niemandem auf, hielt aber nicht hinterm Berg zurück, wenn er darauf angesprochen wurde. Bei mir öffnete er die Schleusen. Er glaubte von den Staatsanwaltsmärchen der Moskauer Schauprozesse kein Wort. Man müsse hinsichtlich der Internationale alles neu überdenken; Trotzki habe anscheinend recht. Er würde ihn gern mal lesen. Das waren natürlich für einen linientreuen Kommunisten sakrilegische Gedanken. Der Stalin-Hitler-Pakt und die durch ihn ausgelöste Erschütterung des Ver31 trauens waren noch nicht in Sicht Bereits ein Dreivierteljahr davor war Loriades ein ausgewachsener Oppositioneller, der weiterging als etwa der ehemalige Brandenburg-Häftling Robert Havemann 40 Jahre später. So mußte ein böser Geist gefunden werden, der dem intelligenten Jungen die Zweifel in seine Seele gesenkt hatte. Verantwortlich gemacht wurde dafür ein trotzkistischer Mitgefangener namens Berger, den Loriades im Haus 2 eine Zeitlang täglich beim „Kübeln“ traf. Ihm wurde das Kunststück zugetraut, einen so selbständig Denkenden in Minutenlektionen, zwischen Nachttopfleeren und Verrichtung der körperlichen Bedürfnisse, zu einer anderen politischen Einstellung bekehrt zu haben.

Hans fürchtete, daß er die ungewohnte Schwerarbeit nicht durchstehen werde. Ich versuchte deshalb, ihm den Willen zum Durchhalten ein wenig zu vermitteln. Das war nicht einfach, denn diese zermürbende Einzel-haft hatte ihn bei aller erstaunlichen geistigen Spannkraft doch physisch sehr geschwächt Es war ihm klar, daß körperliche Bewegung an frischer Luft und eine etwas nahrhaftere Verpflegung als die in der Anstalt für die noch vor ihm liegenden Haftjahre entscheidend sein könnten, aber er schaffte es nicht. Bevor er wieder in die Anstalt zurückgebracht wurde, äußerte er den Wunsch, wir müßten, falls es dazu überhaupt Gelegenheit gäbe, uns später unbedingt wiedersehen. So tauschten wir unsere Adressen aus und prägten sie unserem Gedächtnis ein. Ich sollte ihn einen Tag nach seiner Entlassung aufsuchen, weil mein Entlassungsdatum vor seinem lag. Wir nahmen Abschied und sollten uns nie wiedersehen.

Verabredungsgemäß ging ich 1942 nach Neukölln und, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß die „Luft rein" war, klopfte ich an die Tür der Parterrewohnung mit dem altmodischen Namensschild aus Porzellan. Seine Mutter ließ mich ein. Sie zeigte auf die Einmachgläser mit dem vom Munde abgesparten Fleisch und den selbstgestrickten Wollpullover-, bisher warte sie vergeblich, sagte sie. Damit hatte ich nicht gerechnet. Hans hatte acht Jahre hinter sich; bei seiner Verhaftung war er 19 Jahre alt gewesen. Noch wollte ich an eine kurze Aufpäppelungs-Quarantäne im Polizeipräsidium glauben und verabredete einen zweiten Besuch. Als ich wiederkam, hatte sich nichts geändert. Die Mutter tat mir schrecklich leid. Ich suchte nach Worten, die ihr ein bißchen Hoffnung geben sollten. Da klopfte es. Wir blickten uns in einer Mischung von Hoffnung und Schreck an. Ein junger Mann brachte Nachricht von Hans: er sei nicht entlassen, sondern in ein kleines Durchgangslager bei Berlin, ich glaube bei Wuhlheide, gebracht worden; es gehe ihm relativ passabel. Ich gab dem jungen Arbeiter einen ganz kurzen Kassiber mit, aus dem Hans erkennen konnte, daß ich Wort gehalten hatte.

Sein weiteres Schicksal erfuhr ich nach dem Kriege: irgendwann gelang ihm die Flucht; er tauchte unter und lebte illegal mit Hilfe alter Genossen in Berlin. Im Herbst 1944 wurde er auf der Straße verhaftet. Bei der Gestapo gab er wieder niemanden preis. Vor einer erneuten Vernehmung um die Jahreswende stieß er sich mit einer langen Nadel, nach einer Version mit einer Fahrradspeiche, ins Herz und starb. Sein politisch wacher Verstand, sein Mut, seine Leidensfähigkeit und sein Bemühen, den eigenen strengen moralischen Ansprüchen gerecht zu werden, machen Hans Loriades für mich zu einem außergewöhnlichen Mann des Widerstands.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Berlin (Ost), 19762.

  2. A a. O.

  3. Vgl.den Beitrag von W. Uhlmann, S. 11 ff.

  4. Sozialistische Warte. Blätter für kritisch aktiven Sozialismus, Paris 2. Februar 1940, Nr. 3.

  5. Bd. 9 der Elementarbücher des Kommunismus, Berlin 1926.

  6. 1953 bei Rowohlt in Hamburg publiziert.

  7. Fritz Max Cahen, Men against Hitler, London o. J. (erschienen 1939).

  8. Kurt Hiller, Köpfe und Tröpfe, Hamburg 1950, S. 144.

Weitere Inhalte

Bodo Gerstenberg, geb. 1916 in Berlin; Studium an der Hochschule für bildende Künste, • Berlin; 1938 Hochverratsprozeß vor dem Volksgerichtshof; berufliche Tätigkeit als Presse-zeichner, politischer Karikaturist, freier Grafiker.