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Amerika, hast Du es besser? | APuZ 1/1983 | bpb.de

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APuZ 1/1983 Artikel 1 Amerika, hast Du es besser? Moskau: Zwischen Frost und Tauwetter Das neue Frankreich — eine Illusion? Britannia in Seenot? Japan: Mythos und Automation

Amerika, hast Du es besser?

Ulrich Schiller

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

An der Jahreswende stehen in den USA weniger die komplizierten Probleme der internationalen Politik im Vordergrund, sondern die drängende Frage: Hat Ronald Reagan kein Herz für die Armen? Der Präsident wird sich in den kommenden Monaten dieser Frage seiner Kritiker im Wahlkampf stellen und überzeugende Antworten finden müssen, wie die sozialen Auswirkungen der „Reagonomics" für breite Bevölkerungsschichten zu mildern sind. Zwei Problemkreise werden die Reagan-Administration beschäftigen: 1. die Arbeitslosigkeit, die Firmenzusammenbrüche und die anhaltende Rezession; 2.der Rüstungswettlauf und das Verhältnis zur Sowjetunion sowie damit zusammenhängend die Frage einer außenpolitischen Stabilität, die den Frieden ermöglicht. Die wenigsten Prognosen für die Wirtschaft sind derzeit ermutigend, ein Sachverhalt, der das Bewußtsein der Öffentlichkeit für die Problematik der Rüstungspolitik — insbesondere hinsichtlich ihrer Kosten — geschärft und der von den Kirchen unterstützten Friedensbewegung Auftrieb gegeben hat. Verzweiflung jedoch herrscht nicht an der Jahreswende. Das pragmatische Naturell der Amerikaner in Verbindung mit einem erheblichen Maß an Eigeninitiative läßt hoffen, daß die USA in der Lage sein werden, auch diese — wie Reagan es genannt hat — schwerste Rezession seit 40 Jahren zu überwinden.

Als die Expertenstäbe und Redenschreiber das Manuskript für die Erklärung des Präsidenten zur Stationierung der MX-Raketen ab. geschlossen hatten, da griff Ronald Reagan selbst noch zur Feder. Es war wenige Tage vor I „Thanksgiving" und Reagan schrieb, was er in I dieser oder jener Form schon oft zum Ausdruck gebracht hatte: „Ich habe immer daran 1 geglaubt, daß dieses Land für einen außergewöhnlichen Zweck zurückbehalten wurde, daß dieser großartige Kontinent von einem göttlii chen Plan zwischen zwei Ozeane gestellt wurde, damit er von Menschen aus allen Ecken der Erde gefunden werde — von Menschen, die eine besondere Liebe zu Glaube, Freiheit und Frieden in sich hegten. Laßt uns", so fügte der Präsident noch hinzu, „Amerikas Bestimmung zu Güte und gutem Willen erneut bekräftigen." Ronald Reagan denkt, schreibt und spricht solches Pathos ohne die geringste Schau, ohne den Anflug eines Bedenkens, ob dergleichen missionarische Lyrik auf andere Menschen und Völker vielleicht peinlich wirken oder gar als nationalistische Überheblichkeit mißver! standen werden könnte. Es ist in der Tat seine Überzeugung und seine Vision, daß Amerika, der Kontinent, den der Schöpfer bis zur Besiedlung durch die besten Menschen der Welt als Brachland zurückbehalten habe, zur Bewahrung und Mehrung des Guten in der Welt bestimmt sei. Soweit das Bewußtsein dieser Bestimmung und dieser Verpflichtung bei den heutigen Amerikanern durch widrige Umstände oder kleinmütige Selbstzweifel verloren gegangen ist oder in Vergessenheit geriet, ist es die Mission seiner Präsidentschaft, es wiederherzustellen und zu mobilisieren. Lou Cannon, der Autor der bisher gründlichsten Reagan-Biographie, äußert sogar die Vermutung, daß Reagan den glimpflichen Ausgang des Attentatsversuches vom März 1981 als göttlichen Fingerzeig versteht — eine Bewertung, die am besten die hohe Wahrscheinlichkeit erklären könnte, warum der am 6. Februar 72 Jahre alt werdende Reagan eine zweite Amtsperiode anstreben dürfte.

Deutlicher denn je muß er in der Hälfte seiner ersten Präsidentschaft erkennen, daß sich seine aus der Vergangenheit abgeleitete Vision für die Zukunft Amerikas schwer und schon gar nicht innerhalb von vier Jahren ver3 wirklichen läßt. Das, woran er in tiefster Seele glaubt, stimmt oft so nicht oder es ist nicht praktikabel. Daß der amerikanische Kontinent in der verklärenden Rückschau nur von großen Helden und hehren Idealen erobert und erschlossen worden wäre, wie Reagan sich selbst mit der Berufung auf Gottes eigenes Land und den „american dream" immer wieder zu suggerieren scheint, gehört in die Welt des Schauspielers. Das Leben für die Masse der heutigen Amerikaner ist ja auch dadurch nicht besser geworden, daß der Präsident die Wurzel aller Übel in einem übermächtig gewordenen Staats-und Regierungsapparat erkannt hat, daß er die Steuern senken ließ, um den Staat vom Buckel des Bürgers herunterzuziehen. Auch sind die Haushaltsdefizite nicht im Schwinden begriffen, nur weil Ronald Reagan geglaubt hat, wohlfahrtsstaatliche Verschwendung und Betrügerien vor allem hätten die Ausgaben der öffentlichen Hand ins Unerträgliche aufgebläht.

Die „Reagonomics", Reagans Wirtschaftsprogramme, erweisen sich im Zenit seiner ersten Amtsperiode als sein größter Fehlschlag, weil sie zuviel Verschiedenes auf einmal wollten. Aber nun leidet er unter dem Vorwurf und dem Verdacht, kein Herz zu haben für die Armen und Schwachen der Gesellschaft, fühlt sich mißverstanden und bittet um Geduld bei der Beurteilung seines Werkes. Er versteht die Zweifler und Kritiker nicht, die in seiner forcierten Rüstungspolitik etwas anderes als den besten Weg zum Frieden sehen, oder unterstellt gar, sie seien ferngesteuert vom sowjetischen Geheimdienst.

Dennoch ist Ronald Reagan zu Anpassungen fähig. Eine vom Kongreß befürwortete Erhöhung der Benzinsteuer, mit deren Erträgen über 300 000 Arbeitslose zur Ausbesserung der desolaten Autobahnen und Brücken beschäftigt werden sollen, hat immerhin seine Zustimmung gefunden. Auch hat er aufgehört, die Sowjetführer als Lügner und Fälscher zu charakterisieren und bescheinigt ihnen im Bereich der Rüstungskontrolle jetzt sogar ernste Verhandlungsabsichten; dies läßt auf die Bereitschaft zu stärkerer Differenzierung in der künftigen Gestaltung der Beziehungen zur anderen Supermacht schließen.

Ronald Reagan, darüber kann trotz allem kein Zweifel herrschen, übt auf die Amerikaner und auf das Amerika unserer Tage einen starken Einfluß aus. Seine Erscheinung, seine Sprache und — ja vor allem — auch sein Pathos hinsichtlich Größe und Verpflichtung (die Mahnung zum Dienst am Gemeinwohl wird nie fehlen) Amerikas entsprechen noch immer den Vorstellungen, die Millionen von Amerikanern in der Weite des Landes von „leadership“ haben.

Prominente Sprecher der Opposition der Demokraten oder auch der Gewerkschaftsführung haben wiederholt die Zuversicht geäußert, daß die Masse der Wähler nun bald zwischen der Person Ronald Reagans — seinem Charme sowie seiner an das amerikanische Gemüt treffenden Vision — und der Politik Ronald Reagans werde unterscheiden können.

Die Kongreßzwischenwahlen Anfang November, bei denen die Demokraten zwar im Repräsentantenhaus 26 Sitze zurückgewannen, jedoch im Senat keinen einzigen Sitz zurückeroberten, haben solche Zuversicht bislang nicht bestätigt. Die Wähler haben dem Präsidenten zwar eine Mahnung, nicht aber eine Abfuhr erteilt. Es war die Mahnung, die viel zitierte „konservative Revolution" und den Abbau der mühsam genug errichteten Strukturen eines modernen Sozialstaates nicht zu weit zu treiben.

Die inneramerikanische und buchstäblich bis in die Gefilde der Psychologie reichende Auseinandersetzung mit der Präsidentschaft Ronald Reagans wird natürlich erst voll anlaufen, wenn der Präsident seine Absicht bekannt gibt, noch einmal oder nicht noch einmal „zu laufen". Freunde bedrängen ihn, dies möglichst früh, auf alle Fälle in der ersten Hälfte 1983 zu tun. Denn davon hängt auch ab, ob Vizepräsident Bush oder Senator Howard Baker einen neuen Anlauf um die Präsidentschaft überhaupt starten könnten. Nach allgemeiner Überzeugung wird Reagan, sofern es seine Gesundheit erlaubt, eine zweite Amtszeit wollen. Nicht von ungefähr hat er bereits jetzt die Zustimmung eines seiner engsten, bewährtesten und für die Sache Reagans erfolgreichsten Freunde, die des Senators Paul Laxalt, eingeholt. Laxalt soll die Funktion eines „Spiritus rector", eines ehrenamtlichen Supermanagers für die Wiederwahl Reagans übernehmen. Die Weichen sind also gestellt, und auch Nancy Reagan soll den Absichten ihres Gemahls nichts mehr in den Weg legen.

Für die oppositionellen Demokraten bedeutet dies, daß sie in Kürze schon mit gewichtigen Herausforderungen und politischen Alternativen auf den Plan treten müssen. Senator Edward Kennedy trifft bereits alle Vorbereitungen, den neuen Wahlkampf wesentlich früher zu eröffnen als das letzte Mal. Natürlich ist auch mit einer Bewerbung von Fritz Mondale zu rechnen, des ehemaligen Vizepräsidenten unter Jimmy Carter. Beide sind populär in dem Rahmen, in dem sie es bisher schon gewesen sind. Aber das gleiche gilt auch umgekehrt: Das Feld der Zweifler und Kritiker dieser beiden in der liberalen und gewerkschaftlich orientierten Tradition der Demokraten stehenden Politiker liegt ebenfalls ziemlich fest. Erwartungsvolle Blicke richten sich deshalb auf John Glenn, den ehemaligen Astronauten und Senator aus Ohio. Glenns handicap jedoch ist, daß er als Redner im Wahlkampf niemanden „vom Stuhle reißt“; für jedes größere Publikum gilt er als ausgesprochen langweilig. Seine Stärke ist allerdings die Beherrschung aller Bereiche der modernen Technik, die seinen Ruf begründet, daß er die durch Reagan nostalgisch verwöhnte Nation sicher auf die unvermeidliche Bahn der technologischen Erneuerung der gesamten Wirtschaft und der Anpassung des Erziehungsund Bildungswesens an die sich ändernden Verhältnisse zu bringen imstande sei. Auch Glenn ist in seinen Grundüberzeugungen konservativ; er ließe sich mit der disziplinierten Vernunft eines vom Soldaten zum Politiker gewachsenen Mannes von seinen Anhängern gut als „Eisenhower unserer Tage" porträtieren. Was viele Amerikaner so sehr an Reagan bemängeln, nämlich, daß er der Nation zu wenig und nicht die richtigen Fragen stellt, das könnte Glenn erfüllen.

Es sind die existentiellen Fragen des Amerikas unserer Tage, die dem Ausblick auf den in Kürze beginnenden Wahlkampf um die nächste Präsidentschaft schon jetzt eine so spannende Dimension geben; in erster Linie ist es Ronald Reagan, der an diesen Fragen gemessen werden wird. Zwei Probleme, Existenzfragen ohne Übertreibung, stehen an der Wende des Jahres 1982/83 für die Amerikaner absolut im Vordergrund — und so bedenklich es normalerweise ist, generalisierend von „den Amerikanern" zu sprechen, so gewiß ist doch in beiden Fragen die alle Gesellschaftsschichten übergreifende kollektive Betroffenheit enthalten —, und zwar in dieser Reihenfolge: l die Arbeitslosigkeit, die Bankrotte und die anhaltende Rezession; 2.der Rüstungswettlauf und das Verhältnis zur Sowjetunion sowie damit zusammenhängend die Frage einer außen-politischen Stabilität, die den Frieden ermöglicht. Arbeislosigkeit schien in den bisherigen, leichteren Rezessionen der Nachkriegszeit für die meisten Amerikaner, vor allem für die, die weiterhin in Arbeit und Brot standen und die keine persönliche Erinnerung an die Zeit der großen Depression hatten, eine mehr oder weniger statistische Wahrnehmung zu sein. Überdies war die Bereitschaft verbreitet, die Ursache für den Verlust des Arbeitsplatzes zunächst einmal im eigenen Unvermögen der Betroffenen zu vermuten; und Genaues wußte man ja ohnehin nicht, da die Arbeitslosenzahlen in den Vereinigten Staaten teils durch telephonische Repräsentativbefragungen, teils mit Hilfe der Zahl der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung ermittelt werden. Dieser desolate Informationsstand hat sich gründlich geändert: Mit 10, 4% (November 1982) ist seit über 40 Jahren die höchste Arbeitslosenquote erreicht, und wenn mehr als 11, 5 Millionen Amerikaner keine Arbeit haben, so ist das eine Zahl, an der niemand mehr vorbeigehen kann. Mit aller Härte erfährt Amerika, daß Arbeitslosigkeit kein vor allem für unqualifizierte Arbeiter reserviertes Schicksal oder ein regionales und branchengebundenes Ereignis ist. „Blue-collar" -Arbeiter, Angestellte, Techniker, Dienstleister aller möglichen Sparten und Berufe, die zum typischen Mittelklasse-Amerika gehören, sind genauso betroffen wie die ungelernten Arbeiter, die bald hier, bald dort einen Job zu nehmen gewohnt waren. Zwar richtet sich die Höhe des staatlichen Arbeitslosengeldes auch nach der Höhe des letzten Verdienstes, doch wird es (bei gewissen Abweichungen zwischen einzelnen Bundesstaaten) im allgemeinen nur 26 Wochen lang gezahlt. Verlängerungen sind in einzelnen Fällen und Branchen mit gewerkschaftlichen Tarifverträgen möglich; doch spätestens nach einem Jahr Arbeitslosigkeit droht allen der Absturz in die Kategorie der Wohlfahrtsempfänger. Vor zwei, drei Jahren noch sah man in den sogenannten Suppenküchen das zeitlos-typische Bild vom scheinbar unabänderlichen Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft: die Obdachlosen, die Entwurzelten, Farbige zumeist — ergeben in die eigene Armut und hoffend auf die Hilfsbereitschaft der anderen.

Heute stehen Männer und Frauen, Mütter und Kinder, die man nach Kleidung und Habitus zum Mittelstand zählen muß, in der Schlange derer, die auf eine Mahlzeit oder auf ein Leensmittelpaket warten. Kirchen und humanitäre Organisationen, die aus Gaststätten und Supermärkten Lebensmittelspenden zusammentragen, öffnen täglich für Tausende und Abertausende die Türen ihrer Speisesäle und Ausgabestätten. Alle melden seit 1981 die Verdopplung und Verdreifachung der Zahl ihrer Besucher. Sozialhelfer und kirchliche Mitarbeiter berichten alarmiert, was ihnen täglich an menschlicher Verzweiflung und verletztem Stolz begegnet, und katholische Geistliche sprechen bereits von einem neuen Bereich seelsorgerischer Aufgaben. In kleineren Städten und Gemeinden ist man zuversichtlich, daß auch über die harten Wintermonate hinweg die Opfer der Rezession vor Hunger und Kälte bewahrt werden können. In den Großstädten allerdings sieht die Lage düster aus: Viele Haushaltstitel ehemaliger Bundeshilfen sind gestrichen worden, gleichzeitig wurden die Kriterien für den Empfängerkreis von Nahrungsmittelgutscheinen erheblich verschärft.

Es traf die Öffentlichkeit, zumal die Arbeitslosen, wie ein Keulenschlag, als Berater des Präsidenten in der Vorweihnachtszeit wissen ließen, man erwäge die Steuerpflichtigkeit der Arbeitslosenunterstützung. Damit sollte der Anreiz, statt der Unterstützung eine beliebige Arbeit anzunehmen, erhöht werden. Außerdem sollten mit dem Steuererlös Umschulungsprogramme finanziert werden. Gleich unter dem ersten Proteststurm zogen die Präsidentenberater ihre Vorschläge zurück, doch hat der Vorwurf, das Ronald Reagan kein Herz für die Armen habe, neue Nahrung bekommen. Es wird seiner Regierung gleichwohl nicht erspart bleiben, weiter darüber nachzudenken, wie Amerika eine Arbeitslosigkeit bewältigen kann, die nicht nur ein Konjunktur-, sondern auch ein Strukturproblem ist. Da die Arbeitslosigkeit unter den Farbigen doppelt so hoch ist wie der Landesdurchschnitt, schwarze Jugendliche sogar zu 48% dem Nichtstun ausgeliefert sind, hatten manche Beobachter befürchtet, es könnte während der heißen Sommermonate in den Großstädten zu Unruhen-und Gewalttätigkeiten kommen. Doch dazu ist es nicht gekommen. Das mag daran gelegen haben, daß die Pleite der weißen Arbeitslosen heute genauso offenkundig wie die der Schwarzen ist, aber auch daran, daß die Schwarzen bei jedem Aufruhr bisher die Folgen am stärksten spürten. Hinzu kamen und kommen Resignation und Ratlosigkeit; selbst der Sinn eines Streiks gegen unbefriedigende Tarifverhandlungsergebnisse geht verloren, wenn beispielsweise Automobilarbeiter, sofern sie überhaupt beschäftigt sind, täglich an überfüllten Abstellplätzen unverkaufter Autos ihrer eigenen Produktion vorbeifahren (womöglich noch im eigenen „Toyota").

Zu Jimmy Carters Zeiten konnten es sich die unzufriedenen Farmer noch leisten, ihren Ärger über Preisverfall und Agrarpolitik mit einem Protest-Treck nach Washington Luft zu machen. Tausende von Farmern, denen heute das Wasser bis zum Hals steht, weil hohe Zinsen mit niedrigen Produktenpreisen zusammengefallen sind, haben für die knappen Gelder dringendere Bestimmung, als sie in Benzin für Sternfahrten nach Washington umzusetzen. Nicht einmal die „Buy-American" -Bewegung hat sonderlich hohe Wellen geschlagen. Zwar können einzelne Politiker gelegentlich der Versuchung nicht widerstehen — etwa der nach Gewerkschaftsbeifall schielende Fritz Mondale —, Japaner und Europäer für die stilliegenden Kapazitäten vor allem in der Automobilindustrie und in der Stahlindustrie verantwortlich zu machen (die US-Stahlindustrie hat sich überdies sehr um Schutzzölle bemüht), doch hat das Vergnügen amerikanischer Verbraucher an ausländischen Autos mit optischen oder elektronischen Geräten keineswegs nachgelassen. Man kauft, was einem billiger und/oder besser zu sein scheint.

Ideologische oder radikale Lösungen sind also noch wenig gefragt, und auch für sozialpolitische besteht offenbar kein Klima, wenn alle den Würgegriff der Rezession erleiden oder unmittelbar zu befürchten haben. Das schließt jedoch sporadische Unruhen nicht aus, wie ein Vorfall Ende November in Washington gezeigt hat: Eine gegen den angekündigten Aufmarsch des Ku-Klux-Klan organisierte Demonstration endete mit der Demolierung und Plünderung Geschäfte, einiger nachdem die verhaßten Kapuzenmänner nicht erschienen waren und die um das Objekt ihres Zornes gebrachte Menge plötzlich von Anti-Reagan-Losungen wurde. gepackt

Niemand vermag also zu sagen, wie lange der gegenwärtige Zustand des relativ geduldigen Abwartens und des Hoffens auf Besserung anhält. Denn niemand weiß, wann die schon so oft versprochene wirtschaftliche Erholung wirklich einsetzt und ob sie ausreichend und auch von Dauer sein wird. Die wenigsten Prognosen sind ermutigend: So rechnet man mit einer länger anhaltenden Arbeitslosenquote von mindestens 9% und rätselt darüber, was das nächste, voraussichtlich auf 200 Mrd. Dollar kletternde Haushaltsdefizit bringen wird:

Treibt es die jetzt deutlich gesunkenen Zinsen wieder hoch? Geht alles wieder von vorne los? Das Pentagon-Budget zu kürzen, wie in immer stärkerem Maße Öffentlichkeit, Kongreß und selbst die Wall Street zur Eindämmung des Haushaltsdefizits es für erforderlich halten, dazu ist die Regierung Reagan vorläufig nicht bereit und in größerem Umfang möglicherweise gar nicht mehr in der Lage; die Weichen sind zu einem großen Teil gestellt.

Als die amerikanischen Wähler 1980 mit großer Mehrheit Ronald Reagan ins Weiße Haus beriefen, geschah dies nicht zuletzt deshalb, weil Reagan versprochen hatte, Amerika wieder groß und stark zu machen und sowjetischem Expansionsdrang Einhalt zu gebieten. Analog dazu gelang es ihm in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit, den durch die konservative Reagan-Welle republikanisch verstärkten Kongreß davon zu überzeugen, daß die Vereinigten Staaten seit den siebziger Jahren zu viel für Sozialprogramme und zu wenig für die Modernisierung ihrer Streitkräfte ausgegeben hätten, während die Sowjetunion in der gleichen Zeit in beispiellosem Maße aufgerüstet habe. Mit Zustimmung des Kongresses also brachte die Regierung Reagan das größte Rüstungsprogramm in Friedenszeiten auf den Weg: Mehr als 1, 5 Billionen Dollar will der Präsident für den Zeitraum 1983 bis 1987 beantragen und ausgeben. Eine Fülle neuer Waffen (Fernbomber, Flugzeugträger, Jagdbomber, Cruise Missiles und so fort) ist bereits bewilligt und in Auftrag gegeben worden. Je weiter aber ein neues Waffensystem vom Planungsstadium in die Endfertigung rückt, um so mehr muß das Pentagon den Herstellern zahlen, um so größer wird auch der Kreis der Interessenten und politischen Lobbyisten, die das Waffenprogramm unter allen Umständen durchziehen wollen. Das heißt: einmal angelaufene Programme sind kaum noch zu streichen, selbst wenn die Budgetanforderungen dafür von Jahr zu Jahr höher werden. Dies erklärt auch, warum der Anteil der Beschaffungskosten am Verteidigungshaushalt von 26% 1981 auf 38% 1987 steigen wird, warum die Verteidigungsausgaben von 213, 9 Mrd. Dollar im Finanzjahr 1983 auf 364, 6 Mrd. Dollar 1987 hinaufschnellen sollen. Das sind Größenordnungen, die sich der amerikanische Normalverbraucher nicht mehr vorzustellen vermag: schon gar nicht vermag er die Folgen einer so nachhaltigen Umschichtung der Staatsausgaben abzusehen.

Indessen schärft sich in diesen Wochen seit der Erklärung des Präsidenten über die Statio nierungspläne für die MX-Raketen deutlich das Bewußtsein der Öffentlichkeit für die ganze Problematik der Rüstungspolitik. Eine vehemente Debatte in allen Medien, in Fach-und in Laienkreisen ist im Gange, und vom Konzept der Aufstellung von 100 Superraketen auf kleinstem Feld als angeblich sicherste Basierungsvariante (Dense Pack) über die mit 26 Mrd. Dollar knapp veranschlagten Kosten bis hin zu den Folgen des neuen Systems für die Abrüstungsverhandlungen wird alles unter die kritische Lupe genommen. Dabei überwiegen die negativen und zweifelnden Kommentare inzwischen ganz eindeutig. Der bisherige Verlauf der MX-Kontroverse kann der Regierung kaum eine Hoffnung lassen, daß der neue Kongreß dem Projekt in der vorliegenden Form zustimmen wird. Daß es der alte in seinen letzten Amtstagen noch schnell ab-segnen würde, ist im höchsten Maße unwahrscheinlich. Der einflußreiche Vorsitzende des Bewilligungsausschusses im Senat, der Demokrat Ernest Hollings, hat dem MX-Projekt jedenfalls den härtsten Kampf angesagt; sein Argument: Für horrendes Geld biete es keinen Zuwachs an zusätzlicher Sicherheit. Auf die breite Öffentlichkeit haben die Erklärungen des Präsidenten, die MX seien „Friedensbewahrer" und unerläßliche Voraussetzung für Erfolge bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen, eher negativ gewirkt. Die Rhetorik vom Verhandlungspfand, das ein geplantes Waffensystem darstellen solle, ist abgegriffen und zu oft von tatsächlichen Entwicklungen widerlegt worden. Das alles hat zur Folge, daß die MX, auch wenn die Militärexperten beider Parteien die Notwendigkeit einer Modernisierung der strategischen Waffen gar nicht bestreiten, mehr und mehr in die Rolle eines Katalysators zu geraten scheint, eines Katalysators, der die in hohem Maße gezeigte Unterstützung der Öffentlichkeit und des Kongresses für Reagans Rüstungspolitik in Skepsis und Ablehnung verkehrt. Alle finanziellen, rüstungskontrollpolitischen und moralischen Bedenken kommen über der MX-Basierung buchstäblich zum Ausbruch.

Der katholische Bischof Hart aus Wyoming, wo die MX stationiert werden sollen, hat an seine Gemeinden appelliert, das Ende der Aufrüstung müsse mit der Ablehnung der MX beginnen. Wieder und wieder hört man in Kreisen katholischer Bischöfe den Vorwurf — den die Regierung entschieden zurückweist —, daß die MX eine das annähernde Gleichgewicht störende Erstschlagwaffe sei.

Zweifellos wird diese Frage auch für die Endfassung des Hirtenbriefes eine Rolle spielen, den die katholische Bischofskonferenz zu Beginn des Sommers 1983 verabschieden und dann von allen Kanzeln des Landes verkünden lassen möchte, über die Entstehungsgeschichte und den Inhalt dieses Hirtenbriefes ist auch in Deutschland viel berichtet worden. Es dürfte genügen, hier an seinen Grundsatz-anspruch zu moraltheologischen Fragen über (Atom-) Krieg und Frieden, an seine Bedenken hinsichtlich einer auf Kernwaffen gestützten Abschreckung, an seine Ablehnung jeder Erstanwendung von Atomwaffen oder ihrer Zielrichtung auf Bevölkerungszentren zu erinnern. Die Bedeutung dieses Dokuments für die inneramerikanische Rüstungs-und Abrüstungsdebatte kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Die Eindringlichkeit, mit der das Weiße Haus Gegenargumente mit Verweisen auf die amerikanischen Abrüstungsvorschläge in Genf präsentiert hat, sowie die Entsendung eines Sonderbotschafters in den Vatikan sind der Beweis dafür, daß auch die Regierung die Tragweite des Hirtenbriefes klar erkannt hat. Es geht nicht darum, daß sie gewaltsame Auseinandersetzungen oder moralisch motivierte Gehorsamsverweigerungen in den Streitkräften zu fürchten hätte. Diesbezüglich konnte sie schon die Erfolge der „Freeze" -Bewegung mit einiger Gelassenheit beobachten. Denn wenn auch in neun Bundesstaaten und zahlreichen Stadtgemeinden ein Volksbegehren mehrheitlich angenommen wurde, wonach die Supermächte ein sofortiges Einfrieren ihrer Atomrüstungen auf dem gegenwärtigen Niveau vereinbaren sollten, so war dies doch der Form nach nur eine rechtlich unverbindliche Aufforderung an den Präsidenten, Verhandlungen mit dem Ziel eines Moratoriums zu eröffnen. Zu den Förderern der „Freeze" -Bewegung gehörten auch zahlreiche Geistliche der verschiedensten Konfessionen, und sicher werden die Ergebnisse der Volksbegehren in der Arbeit des nächsten Kongresses und im Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle spielen — und sei es nur deshalb, weil Senator Kennedy die Bewegung seinen eigenen politischen Plänen dienstbar machen möchte. Eben dies fürchten einige Initiatoren, weil sie schon um des Erfolgs willen am überparteilichen Charakter ihrer Bewegung eisern festhalten wollen. „Freeze" stößt in der Öffentlichkeit aber auch auf viele Zweifler, die vom guten Willen und der Dringlichkeit der Abrüstung allein noch nicht zu überzeugen sind, daß ein sehr allgemein und pauschal gefordertes Moratorium im Augenblick der beste und geeignetste Weg wäre. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe ist nun, verglichen mit den „Freeze" -Resolutionen, kein Aktionsprogramm; er geht dafür aber um so mehr in die Tiefe des Nachdenkens über Krieg und Frieden, über den göttlichen Friedensauftrag und die prekäre Situation einer Menschheit, die, in der Argumentation der Bischöfe, das Werle des Schöpfers mit Kernwaffen vernichten könnte. Von daher kommend setzen die Bischöfe auch die großen Fragezeichen hinter die Doktrin der nuklearen Abschreckung, weil diese die Bereitschaft zur Herausforderung des Schöpfers einschließe.

Zahlreiche protestantische Kirchen Amerikas haben die katholischen Bischöfe, die den Hirtenbriefentwurf in einer internen Befragung mit einer Zweidrittelmehrheit gutgeheißen haben, inzwischen ihrer Zustimmung und Unterstützung versichert. Das Nachdenken über Friedensbewahrung und nukleare Abschrekkung ist überkonfessionell und auch überkontinental geworden, seit die katholische Kirche Amerikas auch den Dialog mit den Katholiken Europas aufgenommen hat. Gewiß wäre es unrealistisch, dem Hirtenbrief und seiner geplanten Verkündung eine unmittelbare politische Sprengkraft zuzuschreiben. Was indesen die Regierung Reagan tatsächlich zu befürchten hat, ist die fortschreitende Erosion des Grund-konsens über das bisher gültige Konzept der Abschreckung. Die Bischöfe fordern dazu auf, gedanklich aus der scheinbar unausweichlichen Logik der Rüstungsspirale, die ja das Ergebnis sich wiederholender Bedrohung und Abschreckung sei, auszubrechen. Rigoros stellen sie moraltheologisch eine der Grundlagen der Außen-und Sicherheitspolitik Reagans in Frage. Der Vorwurf, die Bedrohung des Westens durch die atheistische Sowjetunion zu gering zu veranschlagen, berührt sie wenig, da sie ja die Frage von Krieg und Frieden nicht politisch, sondern moralisch angehen.

Zusammengenommen zeigen Hirtenbrief-Diskussion und „Freeze" -Bewegung eines unbestreitbar: ein neuer Denkprozeß, ein Bewußtseinswandel ist in Gang gekommen; die Öffentlichkeit ist nicht mehr bereit, die komplizierten Zusammenhänge von nuklearer Rüstung und Frieden allein den Regierenden und ihren Experten zu überlassen. Unbeholfen vielleicht, abstrakt und idealistisch hat sie sich des Themas bemächtigt — und nichts spricht dafür, daß es wieder in Vergessenheit geraten könnte.

Anders als in Europa ist in Amerika gerade und besonders die katholische Kirche zu einem „lärmenden Platz" der Auseinandersetzungen geworden, wie kürzlich ein Theologe schrieb. Auch aktuelle außenpolitische Fragen packt sie offen an, z. B. als sie kürzlich in einem Hirtenbrief der Regierung Reagan die „Militarisierung Mittelamerikas“ vorwarf. Deutlich kommt hier das wachsende Eigengewicht der Hispano-Amerikaner, deren Zahl durch die legale und illegale Einwanderung ständig steigt, in der katholischen Kirche wie in der amerikanischen Gesellschaft überhaupt zum Ausdruck. Ihr Anspruch auf volle Berücksichtigung von Sprache und kulturellem Erbe der „Latinos" ist nicht mehr zu überhören. Was Generationen europäischer Einwanderer nicht geschafft oder nicht zu denken gewagt haben, die Anerkennung einer zweiten Amtssprache neben dem Englischen, das bringen die Latinos schrittweise zuwege. So scheint die Entwicklung der Vereinigten Staaten zu einem zweisprachigen Gemeinwesen (englisch-spanisch) kaum noch aufzuhalten, wobei die politische Bedeutung dieses Vorganges nicht abzusehen ist. Einen Eindruck von den Möglichkeiten lieferten Anfang November die Gouverneurswahlen in Texas, wo der amtierende republikanische Gouverneur trotz des Einsatzes von mehreren Millionen Dollar seines Privatvermögens zu Fall gebracht und ein Vertreter der Demokraten gewählt wurde, und zwar durch die außergewöhnlich hohe und offenbar einheitliche Wahlbeteiligung der Mexicano-Amerikaner. übrigens haben sich auch die Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten an den Kongreßwahlen im November sehr viel stärker als früher beteiligt. Mit 39% lagen sie nur wenig unter dem Bundesdurchschnitt (41%), zu dem der Abstand normalerweise 8— 10% beträgt. Auch hier: Das gewachsene Selbstbewußtsein erhöht die Beteiligung am demokratischen Willensbildungsprozeß. Neuerdings hört man von Sprechern der Schwarzen, daß mit der generellen Bewältigung des Rassenproblems die Lösung der sozialen Frage auf der Tagesordnung stehe; nur gemeinsam könnten Schwarze und Weiße das Problem bewältigen. In diesem Sinne hat der Populist George Wallace in Alabama an die schwarzen wie an die weißen Arbeiter und Arbeitslosen appelliert — und die Gouverneurswahlen zum vierten Mal gewonnen. Damit kommen wir zurück zum Problem Nr. 1: Jobs, Arbeitsplätze! Herrscht Verzweiflung in Amerika zu Beginn des neuen Jahres? Pessimismus? Eigentlich nicht. Die Anpassungsfähigkeit an neue Situationen ist noch ungebrochen. An Modellen, die, aus welchen Gründen immer, nicht praktikabel sind, hängt man nicht, und Ideologien, rechte wie linke, sind so unamerikanisch wie eh und je. Was unausweichlich ist, etwa die Gleichberechtigung der Frau, wird nach und nach auch anerkannt; der tiefe Schmerz der so lange allein gelassenen Behinderten (und psychisch Geschädigten des Vietnamkrieges) wird in einer großen patriotischen Aufwallung akzeptiert und absorbiert, und was, wie die „moral majority", gestern noch als die bedrohlich wachsende Flut eines religiös verbrämten Totalitätsanspruchs erschien, ist heute schon wieder an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Glauben die Amerikaner noch an den Fortschritt? Sicher nicht mehr so stark wie einst. Die sichere Gewißheit, daß die von der Technik aufgeworfenen Probleme unbedingt durch weitere Fortschritte der Technik gelöst werden können, ist über der Sorge um die ökologische Entwicklung und das Wissen um die Gefährdung durch Atomwaffen und Atomenergie ins Wanken geraten. Was dies für ein Land bedeutet, daß im unbedingten Glauben an den Fortschritt groß geworden ist, darüber lohnt es sich nachzudenken.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ulrich Schiller, Dr. phil., geb. 1926; Studium der Slawistik und Geschichte Osteuropas; Korrespondent der ARD in Belgrad und Moskau; z. Zt. Ausländskorrespondent der ARD in den USA Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Moskau und Jakutsk. Die Sowjetunion im Wettlauf gegen die Zeit, 1970.