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Japan: Mythos und Automation | APuZ 1/1983 | bpb.de

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APuZ 1/1983 Artikel 1 Amerika, hast Du es besser? Moskau: Zwischen Frost und Tauwetter Das neue Frankreich — eine Illusion? Britannia in Seenot? Japan: Mythos und Automation

Japan: Mythos und Automation

Hermann Vinke

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Amtsantritt des neuen japanischen Ministerpräsidenten Yasuhiro Nakasone bedeutet für das ostasiatische Land nicht nur eine Zäsur, sondern möglicherweise den endgültigen Bruch mit Prinzipien, die seit Kriegsende Gültigkeit haben. Nakasone will die nach 1945 auferlegte Selbstbeschränkung in Verteidigungsfragen mit Unterstützung der Amerikaner aufgeben und die auf Pazifismus angelegte Verfassung revidieren. Der Widerstand gegen diese Pläne bei der Bevölkerung, die die Schrecken des Krieges nicht vergessen hat, sowie die zerrütteten Staatsfinanzen und die sich verschlechternde Wirtschaftslage stehen den Aufrüstungsplänen allerdings entgegen. In den kommenden Monaten werden Fragen der inneren Stabilität und der äußeren Sicherheit in der öffentlichen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. Von einer Wirtschaftskrise kann allerdings im Augenblick noch keine Rede sein: Die japanische Handelsbilanz ist nach wie vor positiv, der Export garantiert weiterhin einen beachtlichen Auftragsbestand, auch wenn die Krisensymptome nicht zu übersehen sind, denn in vielen Bereichen stoßen die Produzenten mit ihren Waren auf gesättigte Märkte und die bislang schier grenzenlose Konsumbereitschaft der Japaner läßt nach. Außerdem ist Japan für die Krise besser gerüstet als vergleichbare westeuropäische Länder. Die Industrieanlagen der Hersteller von Massenwaren befinden sich auf dem modernsten Stand. Die Anstrengungen bei der Rationalisierung und der Automatisierung schufen Wettbewerbsvorteile, von denen Japan noch eine ganze Zeitlang zehren kann.

Die Meldung erregte in der japanischen Öffentlichkeit kaum noch Aufsehen. Die Fraktion des ehemaligen Premierministers Kakuei Tanaka, ohnehin der zahlenmäßig stärkste Block innerhalb der regierenden Liberal-Demokratischen Partei (LDP), habe neuen Zulauf erhalten; sie umfasse jetzt 110 Abgeordnete im japanischen Unterhaus. Die Nachricht verweist auf ein Phänomen, das es in anderen parlamentarisch regierten Ländern nicht gibt: Ein einzelner Politiker, obwohl formell nicht Mitglied der Regierungspartei, bestimmt ohne Bestätigung durch das Parlament die Richtlinien der Politik — eben jener Kakuei Tanaka, Hauptangeklagter im Prozeß um den Lockheed-Bestechungsskandal, der 1974 sein Regierungsamt aufgeben mußte, weil er bei der Vergabe staatlicher Aufträge seine zehn eigenen Industrieunternehmen vorrangig bedacht hatte.

Am Einfluß des „Shogun im Dunkel", wie japanische Zeitungen den Ex-Premier nennen, hat sich auch unter der neuen japanischen Regierung nichts geändert. Im Gegenteil: Die Macht Tanakas nahm mit dem Amtsantritt von Premierminister Yasuhiro Nakasone noch beträchtlich zu. Ein Drittel des Ende November 1982 gebildeten Kabinetts besteht aus Tanaka-Gefolgsleuten. Nachdem der Tanaka-Flügel Nakasone zum höchsten Regierungsamt verholten hatte, präsentierte deren Anführer die Rechnung. Nicht weniger als sechs Kabinetts-posten wurden der größten Fraktion zugesprochen, mehr als ihr nach dem komplizierten Proporzsystem zustanden, wonach die Macht zwischen den verschiedenen Gruppen und Flügeln aufgeteilt wird. Da auch die Spitze der LDP mit Tanaka-Anhängern besetzt ist, kontrolliert der „Shogun im Dunkel“ sämtliche Schlüsselpositionen in Partei und Regierung. Sogar das Justizministerium wurde einem Mann anvertraut, der enge Kontakte zum ehemaligen Regierungschef unterhält. Akira Hatano, ein pensionierter Polizei-Offizier, hatte schon als Oberhausabgeordneter zugunsten des Lockheed-Angeklagten Tanaka interveniert und die Prozeßführung eines Richters kritisiert. Während der Amtszeit von Justizminister Hatano, wahrscheinlich schon im kommenden Frühjahr, wird das Urteil gegen den Hauptangeklagten Tanaka gesprochen werden. Kaum war die Kritik an der unausgewoB genen Kabinettsliste verstummt, da erschienen in der Presse erste Berichte über Verbindungen Hatanos und seines Kabinettskollegen, Arbeitsminister Akira Ono, zu rechtsradikalen und kriminellen Organisationen. Das Ansehen des Kabinetts Nakasone befand sich bereits auf dem Nullpunkt, noch bevor es zu regieren begonnen hatte.

Der neue Premierminister ist allerdings nicht nur der „Schattengeneral" Tanakas. Der Wechsel von Zenko Suzuki zu Yasuhiro Nakasone bedeutet gleichzeitig eine Zäsur in der japanischen Innenpolitik, die nach dem Urteil der meisten Beobachter im Jahr 1983 interessanter und konturenreicher als bisher sein wird. Was bislang eher verdeckt und halbherzig betrieben wurde — etwa die Aufrüstung der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, die Revision der auf Pazifismus und Ausgleich mit den Nachbarländern angelegten Verfassung und die Tilgung dunkler Flecke der jüngsten i Geschichte —, das wird in Zukunft offen und ohne Rücksicht auf noch vorhandene Widerstände in der Bevölkerung praktiziert wer-, den. „Ich habe das Gefühl, ein Gebirge erklommen zu haben, und was ich jetzt schon versprechen kann, ist eine starke Führung.“ Mit diesem Satz hatte Nakasone das Ergebnis der innerparteilichen Vorwahlen kommentiert, die ihm den Weg zum Ministerpräsidentenamt ebneten. Das Profil dieses Mannes hat sich der japanischen Öffentlichkeit scharf eingeprägt Nakasone gehört zum äußersten rechten Flügel der Liberal-Demokratischen Partei. Allerdings, wenn es die Tagespolitik gebietet oder dem eigenen Fortkommen nützt, dann paktiert er auch mit denen, die eher zu seinen politischen Gegnern zählen. Diese Taktik hat ihm den Spitznamen „Wetterhahn“ eingebracht „Im Grunde seines Herzens ist Nakasone ein Nationalist", schrieb eine japanische Zeitung. Manche halten ihn auch für einen Militaristen. Japanische Kommentatoren zitierten nach seiner Wahl mit Vorliebe aus Reden, die der Regierungschef einst als Verteidigungsminister gehalten hat, Reden, in denen er das Militärische in Gedichtform pries, in denen er den Kaiser, in dessen Namen der Pazifische Krieg geführt worden war, als „das geistige Zentrum des Volkes“ rühmte. In seiner langen politischen Laufbahn erregte Nakasone immer wieder Aufsehen. 1947 war er im ersten Nachkriegsparlament mit 27 Jahren der jüngste Abgeordnete; er gehörte zu den sogenannten Jung-Türken, die bereits in den fünfziger Jahren die Aufkündigung des gerade geschlossenen Sicherheitsvertrages mit den USA forderten. Dafür belohnte ihn der damalige Premierminister Nobusuke Kishi, der von den Amerikanern nach 1945 als Kriegsverbrecher eingestuft worden war, mit dem Amt des Wissenschaftsministers. Von dieser Plattform aus trieb Nakasone seine Pläne für eine wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie voran — zu einer Zeit, als Japan gerade begann, die Erfahrungen mit den grauenhaften Atomexplosionen von Hiroshima und Nagasaki aufzuarbeiten. Schläue und Entschlossenheit im Handeln zeichnen den neuen japanischen Premierminister aus, und darin unterscheidet er sich von seinem Vorgänger Zenko Suzuki, der in einer Woge von Harmonie die Politik des Landes austarieren wollte und damit scheiterte.

Entsprechend verlief der Start der neuen Regierung. Bereits in seiner ersten Pressekonferenz verdeutlichte der Regierungschef seine vorrangigen Ziele: Das Verteidigungspotential des Landes müsse gestärkt und nach Möglichkeit die auf Pazifismus angelegte Verfassung revidiert werden. Dabei sieht Nakasone in der amerikanischen Regierung einen wichtigen Bündnispartner. Das Drängen der USA auf eine forcierte Rüstungspolitik stößt beim neuen Premierminister auf offene Ohren. Mit Hilfe der westlichen Führungsmacht und deren Verbündeten möchte er die letzten Barrieren beiseite räumen, die einem militärisch starken Japan noch entgegenstehen. Nakasone versichterte: „Ich kann die Forderungen der USA Großbritanniens und der Bundesrepublik, daß Japan seine Verteidigungsaufgaben erhöhen sollte, völlig verstehen." Am Ende könnten sich die Wege Japans und der Vereinigten Staaten allerdings wieder trennen, denn Washington denkt langfristig an eine Einbindung des fernöstlichen Inselreiches in das eigene global-strategische Konzept, während Nakasone wohl noch immer von einer autonomen Militärmacht träumt mit einer klaren Vormachtstellung in Nord-und Südostasien. Was bei der verteidigungspolitischen Diskussion leicht übersehen wird, ist die Tatsache, daß Japan bereits heute die achtstärkste Militärmacht der Welt darstellt und sich auf dem Weg zur Spitzengruppe befindet. Schon unter

Zenko Suzuki hatte der Nationale Verteidigungsrat eine Anhebung der Verteidigungsausgaben für 1983 um 7, 3 Prozent beschlossen. Außerdem wurde ein militärisches Beschaffungsprogramm in Höhe von umgerechnet 40 Milliarden Mark verabschiedet. Schließlich vereinbarte Japan mit den USA einen Operationsplan, wonach die Selbstverteidigungsstreitkräfte den Schutz der Seerouten im Umkreis von 1 000 Meilen um Japan übernehmen sollen.

Die Konsequenzen dieser Anfang September 1982 auf Honolulu getroffenen Vereinbarung müssen noch untersucht werden. Nach ersten Schätzungen wären für eine solche Aufgabe 20 zusätzliche Unterseebote, 100 U-Boot-Aufklärer und 200 F-15-Jäger erforderlich. Von den Kosten her wäre dies etwa das doppelte dessen, was für die kommenden fünf Jahre im militärischen Beschaffungsprogramm vorgesehen ist.

Abgesprochen ist zwischen Washington und Tokio ferner die Stationierung von amerikanischen F-16-Jägern auf dem nordjapanischen Stützpunkt Misawa (Nordhonshu). Die Reichweite dieser mit Atombomben bestückten Maschinen liegt bei 800 Kilometern, und das bedeutet, daß sie im Ernstfall gegen Wladiwostok und Sachalin eingesetzt werden könnten. Die Stationierung von 50 modernen Jägern, die 1985 beginnen soll, hat die Einkreisungsängste der Sowjetunion neu belebt. Moskau protestierte in scharfer Form und sprach von Kriegsvorbereitungen.

Dieses Beispiel zeigt, daß jede Veränderung im militärisch-strategischen Bereich sofort empfindliche Reaktionen provoziert. Das gilt keineswegs nur in bezug auf die Sowjetunion; die Präsidenten der Philippinen und Indonesiens, Ferdinand Marcos und Suharto, beschwerten sich bei Besuchen in Washington im September beziehungsweise November 1982 über japanische Aufrüstungspläne und kündigten ihren energischen Widerstand an. Für diese Länder, die im pazifischen Krieg Opfer der japanischen Großmacht wurden, wäre es unerträglich, wenn das Kaiserreich demnächst in Ostasien militärisch erneut die Oberhand gewinnen würde.

Auch für viele'Japaner ist ein solcher Gedanke schier unvorstellbar. Im Land der aufgehenden Sonne entstand im Laufe des Jahres 1982 eine Friedensbewegung, deren Intensität im In-und Ausland überraschte. Inspiriert von ähnlichen Aktionen in Westeuropa und den USA organisierten Basisgruppen Kundgebun27 gen in Hiroshima und Tokio, an denen sich Hunderttausende von Menschen beteiligten; daneben gab es zahlreiche Einzelinitiativen. Wohl zum erstenmal seit Kriegsende erreichte die bis dahin auf einige wenige Gruppen beschränkte Friedensbewegung die Masse der Bevölkerung in Japan.

In dieser Bewegung steckt ein Potential, das die Aufrüstungspläne von Premierminister Nakasone durchkreuzen könnte. Parlamentarischen Widerstand muß der Regierungschef dagegen weniger befürchten, denn die Opposition im Unterhaus befindet sich in einem desolaten Zustand. Sie hat die Regierungskrise des vergangenen Sommers regelrecht verschlafen und ist ansonsten weitgehend mit sich selbst beschäftigt. So steckt die größte Oppositionspartei, die sozialistische Partei Japans, in einer schweren Krise. Sie hat kaum überzeugende Alternativen anzubieten, weder personell noch programmatisch. Dabei ist der demokratische Machtwechsel, der im Nachkriegsjapan noch nicht stattgefunden hat, längst überfällig. Die Liberal-Demokratische Partei hat sich in langen Regierungsjahren — sie stellt seit 1955 ununterbrochen den Premierminister — völlig zerschlissen. Filz und Korruption untergraben nicht nur Glaubwürdigkeit und Ansehen der LDP, sondern gefährden zusehends das gesamte parlamentarische System.

Nach außen allerdings funktioniert dieses System reibungslos; aber die nicht enden wollende Kette von Bestechungsskandalen, die Verquickung von Politik und Geschäft, die Fernsteuerung der Regierung durch den wegen krimineller Handlungen angeklagten Ex-premier Tanaka — das alles erzeugt gefährliche Stimmungen in der Bevölkerung und leistet antidemokratischen Entwicklungen Vorschub. Während die radikale Linke in Japan fast gänzlich von der Bildfläche verschwunden ist, verspüren rechtsextremistische Organisationen einen Auftrieb wie nie zuvor. Polizei-statistiken belegen, daß solche Gruppen immer gewalttätiger werden, um die Bevölkerung einzuschüchtern und auf sich aufmerksam zu machen.

Fragen der inneren Stabilität und der äußeren Sicherheit werden in den kommenden Monaten in der öffentlichen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. Premierminister Nakasone ist offensichtlich bereit, für seine langfristigen militärischen Ziele kurzfristige handelspolitische Interessen zu opfern, zumindest gegenüber einem Land: Der Regierung in Washington signalisierte er Kompromißbereitschaft in der Frage amerikanischer Agrarexporte nach Japan. Bereits im Januar will der japanische Regierungschef im Weißen Haus seinen Antrittsbesuch machen. Bis dahin soll das brisante Thema „Handelsausgleich''entschärft werden, damit genügend Raum für die Verteidigungspolitik bleibt.

Durch die japanische Exportoffensive ist der Handel mit den USA und Westeuropa völlig aus dem Lot geraten. Allerdings können die Europäer kaum mit so viel Verständnis und Kompromißbereitschaft rechnen wie die Amerikaner. Für sie gilt offensichtlich, was der neue Außenhandelsminister Sadanori Yamanaka in einem Interview als Richtlinie verkündete. Er sagte, er werde den Handelspartnern Japans genau darlegen, was sein Land tun und was es nicht tun könne, um den Binnenmarkt zu öffnen. Yamanaka empfahl interessierten Unternehmern, sich weniger über die Abschottung des japanischen Marktes zu beklagen und sich statt dessen etwas mehr anzustrengen, um ihre Produkte in Japan an den Mann zu bringen. Dafür seien jedoch gewisse Grundkenntnisse der japanischen Sprache unerläßlich. Eine erste Kostprobe dieser kompromißlosen Haltung bekam die Delegation der Europäischen Gemeinschaft schon Mitte Dezember 1982 bei den regelmäßig stattfindenden Konsultationen mit japanischen Regierungsvertretern zu spüren. Frustriert und entnervt mußte die aus Brüssel angereiste Abordnung nach dreitägiger Beratung feststellen, daß von der Regierung Nakasone offensichtlich noch weniger Zugeständnisse als von ihrer Vorgängerin zu erwarten sind.

Die Unnachgiebigkeit der japanischen Regierung in Fragen des Außenhandels besitzt verschiedene Ursachen. Da hat die erfolgreiche Exportoffensive ihren Zenit überschritten, auch wenn einzelne Hersteller noch Rekordergebnisse melden; insgesamt jedoch zeigt die Kurve deutlich nach unten. Parallel dazu zeigt der japanische Binnenmarkt Symptome der Schwäche. Dies macht sich in den öffentlichen Haushalten durch sinkende Steuereinnahmen bemerkbar. Hier liegt auch die „natürliche Grenze" aller Aufrüstungswünsche des neuen japanischen Premierministers. Bei einem Haushaltsdefizit, das sich im Laufe des Jahres 1983 voraussichtlich bei 60 Milliarden Mark einpendeln wird, lassen sich kostspielige Rüstungsprojekte nur schwer finanzieren.

Die Suche nach Mitteln und Wegen, neu aufgerissene Finanzlücken zu stopfen, dürften den Regierungschef noch monatelang beschäftigen. Dabei gerät er immer tiefer zwischen zwei deutlich sich abzeichnende Fronten: Auf der einen Seite steht die Industrie, die angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage Steuererleichterungen verlangt, auf der anderen Seite die Masse der Beschäftigten, die steuerlich zur Kasse gebeten werden soll, damit der von Ministerpräsident Suzuki ausgerufene fiskalische Notstand nicht zum Dauerzustand wird.

Eine äußerst unpopuläre Maßnahme hatte Suzuki seinem Nachfolger bereits abgenommen: das Einfrieren der Gehälter der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Der neue Finanzminister Noboru Takeshita dachte schon wenige Tage nach seiner Amtsübernahme laut über neue indirekte Steuern nach. Die Einführung der Mehrwertsteuer hat die Regierungspartei bislang zwar immer wieder mit Rücksicht auf Wahlen zurückgestellt, aber der Macher Nakasone wird auch diese Hürde umgehen; da ihm — fiskalisch gesehen — das Wasser bereits jetzt bis zum Halse steht, dürfte er auch vor neuen Schnitten an dem sehr weitmaschigen sozialen Netz keineswegs zurückschrecken. Schon Ministerpräsident Suzuki lastete den Rentnern und anderen sozialschwachen Gruppen zusätzliche Bürden auf, um sein Rüstungsprogramm finanzieren zu können. Sein Nachfolger ist in dieser -Hin sicht mit noch weniger Skrupeln behaftet.

Die Frage, ob sich die japanische Wirtschaft 1983 schnell erholen wird, ist schwer zu beantworten. Im Oktober 1982 hatte die Regierung Suzuki ein Programm von 20 Milliarden Mark zur Ankurbelung der Wirtschaft verabschiedet Das Geld war für den Wiederaufbau der im vorangegangenen Sommer von Taifunen und Überschwemmungen heimgesuchten Re-

gionen in Süd-Japan gedacht, außerdem zur . Belebung des privaten Wohnungsbaus sowie zur Förderung von kleinen und mittleren so! wie von strukturschwachen Branchen.

War die Lage der japanischen Wirtschaft 'wirklich so schlecht, daß sie ein solches Kon-1 junkturprogramm brauchte? Diese Frage 'stellte sich vor allem das westliche Ausland,nachdem es sich gerade mit dem japanischen Wirtschaftswunder abgefunden hatte, auch mit der scheinbar unumstößlichen Tatsache, daß das fernöstliche Land in einem Meer von Rezession, Inflation und Arbeitslosigkeit eine nsel der Stabilität blieb und als scheinbarer Nutznießer des weltweiten wirtschaftlichen Niedergangs auftrat. Von einer Wirtschafts-Kise kann in bezug auf Japan noch keine

Rede sein: Die japanische Handelsbilanz ist nach wie vor positiv, der Export garantiert weiterhin einen beachtlichen Auftragsbestand. Allerdings sind auch die Krisensymptome nicht zu übersehen. In vielen Bereichen stoßen die Produzenten mit ihren Waren auf gesättigte Märkte, und die bislang schier grenzenlose Konsumbereitschaft der Japaner läßt nach. Die Anzeichen für ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit häufen sich. Gleichzeitig geht die Investitionsneigung vieler kleiner und mittlerer Betriebe zurück. Sie funktionieren in schlechten Zeiten „traditionell" als Konjunkturpuffer für die großen japanischen Handelshäuser, die Wirtschaftsgiganten, die ihre Gewinnerwartungen ebenfalls zurückschrauben mußten.

Spektakuläre Firmenzusammenbrüche wie in der Bundesrepublik hat es in Japan jedoch bisher nicht gegeben. Sie sind bei der engen Verflechtung Großunternehmen, die mit verteiltem Risiko arbeiten, auch vorerst nicht zu erwarten. Die extreme Exportabhängigkeit bedeutet jedoch zugleich ein hohes Maß an Anfälligkeit Einflüsse negative von außen. Das hat die zurückliegende Flaute bewiesen. Dennoch ist Japan für die Krise besser gerüstet als vergleichbare westeuropäische Länder. Die Industrieanlagen der Hersteller von Massenwaren befinden sich auf dem modernsten Stand. Die Anstrengungen bei der Rationalisierung und der Automatisierung schufen Wettbewerbsvorteile, von denen Japan noch eine ganze Zeit lang zehren kann. Aber auch hier gilt eine wichtige Einschränkung: Die Ausgrenzung des Menschen aus den Fabrik-hallen und demnächst aus den Bürohäusern schafft soziale Probleme, die einige westeuropäische Länder gerade zu spüren beginnen, in Japan jedoch noch nicht ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit gedrungen sind. In diesem fernöstlichen Land herrscht weiterhin ein fröhlicher Fortschrittsglaube, in dem kein Platz ist für die Vorstellung von einem Millionenheer von Arbeitslosen, das eines Tages die Volkswirtschaft belasten könnte. Von dieser Entwicklung wird Japan mit Sicherheit eingeholt werden, wenn das Tempo der Roboterisierung in der Industrie beibehalten wird.

Der neue japanische Premierminister hat der Bevölkerung bei mehreren Gelegenheiten versprochen, er werde eine Politik machen, die die Menschen verstehen könnten. Unangenehme Wahrheiten, etwa über Massenarbeitslosigkeit als Folge der Automation, hat er jedoch bislang für sich behalten. Von seinem Vorgänger erbte Nakasone noch eine andere Hypothek, über die er ebenfalls nur ungern öffentlich spricht: Gemeint ist das Umschreiben der japanischen Schulbücher. Jener Versuch des japanischen Erziehungsministeriums vom Herbst 1982, die für den Unterricht an den Oberschulen gebräuchlichen Geschichtsbücher von den dunklen Flecken der Vergangenheit zu säubern. Nach Art und Umfang war diese Schulbuchrevision gewiß einmalig; aber ansonsten paßte sie zu der seit langem praktizierten Tendenz, die Rolle Japans als Kolonial-und Imperial-Macht zu verharmlosen und die für den pazifischen Krieg verantwortlichen Politiker und Militärs zu rehabilitieren. In Japan werden, wie in der Bundesrepublik und anderswo auch, Schulbücher von privaten Verlagen hergestellt. Der Inhalt muß jedoch regelmäßig vom Erziehungsministerium in Tokio neu genehmigt werden. Die zuständigen Beamten haben dafür ein System entwickelt, das in den Augen betroffener Autoren und Professoren eine direkte staatliche Zensur darstellt. Einige Verlage sind im Laufe der Jahre deshalb dazu übergegangen, die Wünsche der Kulturbürokratie zu berücksichtigen, noch bevor sie geäußert wurden — mit der Folge, daß die meisten Schulbücher in Japan Langeweile atmen und jeden Hauch eines Fortschrittsgeistes vermissen lassen.

Für 1982 hatten die Beamten eine besonders lange Liste von Korrekturen und Auflagen für die Geschichtsbücher erarbeitet, die sie im nachhinein gerne als „Empfehlungen" deklarieren möchten. Aber jeder Schulbuch-Verlag weiß auch, was es heißt, wenn er sich nicht an solche „Empfehlungen" hält: Der betreffende Verlag wird sofort aus dem Kreis der Lieferanten ausgeschlossen. So setzten die Beamten durch, daß Begriffe wie . Aggression" in Verbindung mit der Eroberung weiter Teile Chinas durch die kaiserliche japanische Armee durch verharmlosende Bezeichnungen wie „Vormarsch" ersetzt wurden, daß Fakten, etwa über das Massaker von Nanking im Jahre 1937 mit etwa 200 000 Toten, unterschlagen wurden, daß die Verschleppung von Zehntausenden von Koreanern als legaler Akt dargestellt wurde usw.

Mit solch plumper Geschichtsklitterung erreichte die japanische Regierung allerdings das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigte. Die Bevölkerung geriet in eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, die es in dieser Breite und Intensität noch nicht gegeben hatte. Die asiatischen Nachbarn, voran die Volksrepublik China und Südkorea, reagierten mit einer seit Jahren nicht mehr gekannten Betroffenheit und Schärfe. Eine antijapanische Welle in Nordost-und Südostasien spülte vieles wieder von dem hoch, was in den Nachkriegsjahrzehnten mühsam verdeckt worden war. Das Bild des häßlichen Japaners war wiedererstanden — dank der japanischen Regierung, die sich im Handstreich-verfahren von der dunklen Vergangenheit hatte reinwaschen wollen.

Weil schließlich sogar ernste diplomatische Verwicklungen drohten, sah sich das Kabinett Suzuki nach wochenlangem Lavieren gezwungen, eine Korrektur der Schulbuchkorrektur in Aussicht zu stellen: Ab 1985 sollen die Unterrichtsbücher von solchen Passagen gesäubert werden, die bei den asiatischen Nachbarn Proteste ausgelöst hatten.

Beide hier genannten Beispiele — die Aufrüstungskampagne und der Schulbuchstreit -haben, soweit sie auch auf den ersten Blick auseinanderzuliegen scheinen, durchaus exemplarischen Charakter. Denn sie verdeutlichen, wie schnell Japan von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird und wie eng dadurch der Handlungsspielraum geworden ist

Fussnoten

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Hermann Vinke, geb. 1940; 1963— 1970 Redakteur verschiedener Tageszeitungen; 1970— 1981 Redakteur des NDR in Hamburg; seit September 1981 ARD-Hörfunkkorrespondent in Tokio.