Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Moskau: Zwischen Frost und Tauwetter | APuZ 1/1983 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1/1983 Artikel 1 Amerika, hast Du es besser? Moskau: Zwischen Frost und Tauwetter Das neue Frankreich — eine Illusion? Britannia in Seenot? Japan: Mythos und Automation

Moskau: Zwischen Frost und Tauwetter

Dirk Sager

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für den sowjetischen Bürger ist der Rückblick auf die fast zwanzig Jahre dauernde Ära Breschnew kein Blick zurück im Zorn. Auch wenn Chruschtschows Verheißung, den Westen bis 1980 im Lebensstandard einzuholen, nicht eingetroffen ist, so hat sein Nachfolger Breschnew das Land doch ein Stück vorangebracht Die Ära Breschnew vermittelte den sowjetischen Bürgern die unbekannte Erfahrung einer langsamen Normalisierung des Lebens, wenn man sich dabei die Vergangenheit des Landes unter der Herrschaft der Zaren und Stalins vergegenwärtigt. Der Mann, dem heute die Schlüsselrolle bei der Lösung der vielfältigen Probleme des Landes im Innern wie auch auf außenpolitischem Gebiet zufällt, ist einer breiten Öffentlichkeit bisher unbekannt geblieben. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger steht er in dem Ruf, ein Vertreter klarer Prinzipien zu sein, die es ihm nicht gestatten, das Bild von der Realität zu verzeichnen. Für den Westen ist von Bedeutung, daß er der Entspannungspolitik eine Zukunft verheißen hat und daß für ihn die wichtigsten Gesprächspartner außerhalb der östlichen Welt die Amerikaner sind.

Es war das erste Mal in seiner Geschichte, daß das Politbüro der KPdSU aus seiner Sitzung etwas „herausließ". Denn was dort gedacht, diskutiert und beschlossen wird, erfährt der Bürger sonst nur indirekt aus den Zeitungen oder zu gegebenem Anlaß aus der Rede des Generalsekretärs oder eines anderen prominenten Mitglieds. In den vergangenen Dezembertagen des Jahres 1982 kam es jedoch anders: Das Politbüro, so meldete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, habe sich mit den Briefen beschäftigt, die die Bürger des Landes an das Zentralkomitee geschrieben hätten. Schon in der Zeit Breschnews war dort eigens eine Abteilung gegründet worden, die den Bürgern in gerechtem und ungerechtem Zorn über Mißstände im Land als Adressat dienen sollte. Der verstorbene Generalsekretär hatte seine Landsleute immer wieder ermuntert, von dieser Beschwerdeinstanz Gebrauch zu machen. Diese Schreiben seien Ausdruck der Einheit von Volk und Partei. Viele Briefe, so berichtet TASS, hätten Kritik an Institutionen und Organisationen enthalten, die bewiesen, daß an manchen Orten keine Schritte unternommen würden, die Mißstände abzustellen. „Das Politbüro betont die große Bedeutung der Briefe und Vorschläge der Bevölkerung. Jeder Parteifunktionär, jeder sowjetische Arbeiter, jeder Leiter in einem Betrieb oder in einer Institution soll diese Briefe beachten." Das sei seine Pflicht gegenüber dem Volk und gegenüber der Partei.

Wer Ohren hat zu hören, findet in dieser kurzen Meldung die gleiche Stimme der Ungeduld, die schon die ersten Tage der neuen Ära Andropow prägten. Schluß mit der Nachsicht gegenüber den „Oblomows", den Nachfolgern jenes russischen Adligen, der seine hoch-fliegenden Pläne angesichts der unwirtlichen Realität immer wieder begräbt, sich immer bescheidener einrichtet und durchwurschtelt — ein klägliches Gegenstück zu seinen großen Träumen. Oblomow, wie ihn der russische Schriftsteller 19. Jahrhunderts Gontscharow beschrieben hat, ist keineswegs nur eine negative Figur, sondern ein Mensch mit Charme und Menschenfreundlichkeit, eine liebenswerte Erscheinung. Aber für den, der ein Land aus seiner Schlendrianrolle reißen will, weil es seiner Weltmachtrolle nur im militärischen Bereich gerecht werden kann, muß die Erinnerung an Oblomow und seine postreB volutionären Nachfolger ein Alptraum sein. Andropow ist ein Mann dieser Ungeduld, und nicht ohne Schadenfreude lasen die Bürger in ihren Zeitungen, daß schon die ersten Minister und Direktoren ihren Hut nehmen mußten; weitere müßten folgen, so flüstern sie sich zu.

Der Rückblick auf die fast 20 Jahre dauernde Ära Breschnew ist jedoch kein Rückblick im Zorn. Für den sowjetischen Bürger war es die unbekannte Erfahrung einer langsamen Normalisierung des Lebens. Noch nie in der Geschichte Rußlands und der Sowjetunion ist es so vielen Menschen gut gegangen. Wer sich an die Bilder der zaristischen Zeit erinnert, als noch in diesem Jahrhundert Parlamentsabgeordnete Delegationen aus ihrem Wahlkreis empfingen, die abgerissen und barfüßig vor dem Abgeordneten standen wie Leibeigene vor ihrem Gutsherren, der weiß, daß es die „gute, alte Zeit" in diesem Land nur für eine verschwindende Minderheit gegeben hat. Dann kamen die Jahre der Revolution, eines in seiner Grausamkeit fürchterlichen Bürgerkrieges, und die Jahre der „Ruhe" unter Stalin waren Jahre einer schrecklichen Ordnung. Der Kirgise Tschingis Aitmatow erinnert in seinem letzten Roman an jene Jahre, schildert den Weg eines Mannes in seinen Untergang: „Ich bin bald wieder zurück, wartet!" Das Warten war vergeblich — millionenfach ... Dann kamen die Jahre des Zweiten Weltkrieges. — Aufwärts ging es erst nach Stalins Tod. Auch wenn Chruschtschows Verheißung, den Westen bis 1980 im Lebensstandard einzuholen, nicht wahr wurde, so hat sein Nachfolger Breschnew das Land doch ein Stück vorangebracht. Für jene, die hier mit Ungeduld auf größeren Fortschritt hofften, mag es wie Spott klingen, aber Moskau ist in den vergangenen 20 Jahren zu einer weltoffenen Stadt geworden, hält man sich bei dieser Einschätzung nur genug die Vorgeschichte vor Augen. Moskau, die Stadt der Olympischen Spiele, religiöser Weltkonferenzen, eines Friedens-marsches skandinavischer Frauen, Moskau, das auch — nicht vergessen soll das sein — Szene für die Verfolgung von Dissidenten war, hat sich in den vergangenen Jahren der Welt geöffnet, wie es auch weitsichtigsten Propheten der fünfziger Jahre kaum vorstellbar er-10 schien. Wichtigster Motor dieser Entwicklung war die Entspannungspolitik.

Manch einer mag die Geschwindigkeit eines Tankers als Beispiel nehmen, wenn es ihm darum geht, Bewegung und Veränderung in der Politik zu verzeichnen. Hier sprechen wir von der Geschwindigkeit eines driftenden Erdteils, von einem Kurs, der seine Widersprüche hat, aber auch eine erkennbare Richtung. In einer kleinen Siedlung am Rande der kasachischen Stadt Karaganda wohnen seit den vierziger Jahren Deutsche, Nachfahren jener Wolgadeutschen, die vor 250 Jahren nach Rußland gezogen waren, um dort ihr Glück zu suchen. Stalin hatte sie von ihrer russischen Heimat nach Kriegsbeginn verschleppen lassen, weil er sie der Kollaboration mit den nationalsozialistischen Invasoren verdächtigte. Erst 1964 erhielten sie ihre vollen sowjetischen Bürgerrechte zurück; dennoch blieben sie noch jahrelang eine gedemütigte Volksgruppe, der man eigene Schulen und Religionsausübung vorenthielt. Kommt man heute in diese Siedlung, findet man in ihrer Mitte eine katholische Kirche, die sich die Gemeinde in den siebziger Jahren bauen durfte. Die Kinder gehen auf eine Schule, in der die deutsche Sprache Unterrichtssprache ist.

Was übrigens die russisch-orthodoxe Kirche betrifft, so ist es ihr gelungen, mit Partei und Regierung zu einem geordneten Nebeneinander zu finden. Sie teilt mit den Regierenden das nationale Selbstverständnis und mochte mancherorts wohl auch nur wenig dabei finden, wenn andere Religionen unterdrückt wurden. Nach dem Kirchenkampf der zwanziger Jahre, nach Stalinscher Verfolgung und Konflikten unter Chruschtschow hat man sich heute arrangiert. An Feiertagen sind die Kirchen so voll wie bei uns. über die Zahl von kirchlichen Trauungen und Taufen mögen Kirchenvertreter jedoch zumeist nichts sagen — vielleicht um staatlicherseits keine Irritiationen auszulösen; daß die Zahlen rasch zunehmen, sagen sie nur hinter vorgehaltener Hand.

Dies sind kleine Teilchen aus einem großen Mosaik, das sich durch Bilder aus der Kulturlandschaft ergänzen läßt, etwa durch den Hinweis auf Romane von Trifonow oder Aitmatow, die — behutsam zwar — die Stalinsche Vergangenheit aus der Betrachtung der Gegenwart nicht ausklammern wollen; auch gibt es Maler und Bildhauer, die in ihren Werken den optimistischen Freuden des sozialistischen Realismus keineswegs entsprechen, sondern sich mit den Sorgen und der Traurigkeit ihrer Umwelt beschäftigen.

Nur in einem Bereich vermag der Bürger keine Fortschritte zu registrieren, auch wenn sie objektiv vielleicht sogar zu verzeichnen sind: Wenn man ins Kaufhaus geht, so findet man Schuhe aus der Bundesrepublik, Mäntel aus Finnland, manchmal sogar Kleider aus Italien. Aber für den, der täglich mit den Tücken der Versorgung ringt, ist das nur ein geringer Trost. Der Verbraucher vermißt zuviel anderes und weiß aus seinem eigenen Bereich, wie arg die Verhältnisse in der Wirtschaft sind. Auch in diesem Jahr ist die Ernte nicht besonders gut gewesen, allerdings besser als befürchtet. Besonders fatal ist der Umstand, daß die schlechte wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land einhergeht mit Krisenlagen bei den Verbündeten und einem Niedergang der westlichen Wirtschaft. Als Breschnew starb, hinterließ er alles andere als wirtschaftlich geordnete Verhältnisse: Mit rund 85 Milliarden Dollar sind die Staaten des COMECON beim Westen verschuldet; das entspricht etwa der Verschuldung Mexikos oder Brasiliens. Den Handelsstrategen mag das erschrecken oder auch nicht, aber der Bürger erfährt beim täglichen Einkauf, daß es viel schlechter nicht mehr kommen darf.

Bei den Trauerfeierlichkeiten für Breschnew haben die Bürger ihren neuen Generalsekretär das erste Mal in seiner neuen Rolle erlebt: auf dem Roten Platz, wo er energisch ein neues Tempo anzuschlagen schien, danach über das Fernsehen, in Gesprächen mit Staatsoberhäuptern und Spitzenpolitikern aus Ost und West. Das Wichtigste, was dem Bürger zu registrieren blieb in diesen ersten Tagen und Stunden mit Jurij Andropow, war das beruhigende Gefühl, daß alles seinen ordentlichen Gang geht. Die Trauerfeierlichkeiten, bei deren Gestaltung der Generalsekretär seine Verantwortung deutlich werden ließ, waren nicht nur der lange, letzte Abschied von einem sowjetischen Staatsmann, sondern auch die Demonstration, „daß das Leben weitergeht“. Damit war zugleich die größte Sorge der Bevölkerung ausgeräumt: der Alptraum von rivalisierenden Politikern, die sich gegenseitig lähmen oder bekriegen oder das Land in eine unbekannte Zukunft stoßen. Alte wie junge Moskauer meinen, daß dieses Land zu groß sei für Abenteuer in der Politik. Jurij Andropow scheint der Mann zu sein, der für Kontinuität bürgt; oft genug hat er in diesen ersten Tagen seiner Amtszeit davon gesprochen. Als die Staatstrauer verklungen war, verschwand Andropow aus der Öffentlichkeit und ließ die Bürger mit der Frage allein, wie sie sich diese Kontinuität genau vorzustellen haben. Im November liegt der Sommer noch weit: „Was soll schon werden", so ein gedachter innerer Monolog, „mehr zu essen und zu kaufen wird es nicht geben, mehr arbeiten werde ich auch nicht".

Wer da, lustlos durch den Moskauer Schnee-matsch stapfend, über die Ziele des neuen Generalsekretärs nachdachte, blieb auf Vermutungen angewiesen. Nach 15jähriger Tätigkeit als KGB-Chef werde er wohl schon wissen, woran es hapert. Seiner Erfahrungen in Ungarn wegen, dessen wirtschaftlichen Reform-kurs unter Kadar er gestützt haben soll, wie auch wegen seiner Beschäftigung mit den Problemen anderer Ostblockstaaten müsse man ihm auch die erforderliche Sachkenntnis unterstellen, wie in anderen Staaten den Widrigkeiten wirtschaftlicher Entwicklung begegnet werden müsse: Vielleicht etwas gründlicher, vielleicht auch etwas energischer würde er sein; genauere Vorstellungen jedoch hatten nur wenige Bürger.

Montag darauf nun war der Tag der Sitzung des Zentralkomitees, auf dem Wirtschaftsplan und Haushalt diskutiert wurden, Dienstag dann sollte die Sitzung des Obersten Sowjet folgen, auf der beides als Gesetz zu beschließen war. Wie meist an wichtigen Tagen, hatte der Sowjetbürger sich in Geduld zu fassen, bis in den abendlichen Fernsehnachrichten Beschlüsse und Reden verlesen werden würden. An solchen Tagen kommt keine Langeweile auf, denn jeder achtet bei den Nachrichten über ihren Inhalt hinaus auf das, was an Atmosphärischem, an Nuancen und an neuen Wendungen zu registrieren ist.

Der Zuschauer vernahm dann eine Andropow-Rede, in der kaum ein Satz Makulatur war. Schon Breschnews Reden zeichneten sich durch Ernst und gedankliche Klarheit aus; wenigstens blieben sie über weite Strecken den Mißlichkeiten der Realität verhaftet. Doch während Breschnew eher um Ausgewogenheit bedacht war, auch Erfolge zu verzeichnen sich bemühte, um das Bild nicht gar zu finster erscheinen zu lassen, legte Jurij Andropow gleich den Finger auf die Wunde. Nach kaum verhüllten Andeutungen, daß die Lage korrekturbedürftig sei, nach dem zusammenfassenden Hinweis, daß man Wirtschaftsproduktivität, Lebensstandard und Verteidigungskraft verbessern wolle, formulierte Andropow den Schlüsselsatz: „Ich möchte mit allem Nachdruck Ihre (die der ZK-Mitglieder) Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß in einer Reihe von Schlüsselpositionen die Planziele der ersten beiden Jahre des Fünf-Jahr-Planes nicht erreicht wurden; und natürlich sagt das etwas über den Plan, den wir heute diskutieren."

Aus diesem und manchem folgenden Satz sprach die Ungeduld auch vieler Bürger, gerade der jungen, die den Glauben daran verloren haben, daß noch etwas zu ändern sei. Hier war es nun der neue erste Mann des Staates selbst, der in Abkehr von jeder Resignation mit schonungsloser Klarheit gleich zu Beginn seiner Rede seine Einschätzung der Lage referierte und zugleich bekanntgab, was er von der Zukunft verlangen würde. Er selbst habe zwar kein Patentrezept, sagte Andropow, machte aber unüberhörbar deutlich, wo er die Wurzel des Übels sieht. Das waren nun keineswegs Neuigkeiten, denn die westliche wissenschaftliche Literatur schreibt seit Jahrzehnten über fast nichts anderes und die Moskauer satirische Zeitschrift „Krokodil" hat die Mißstände längst beleuchtet. Auch in der sowjetischen Gegenwartsliteratur trifft man auf genügend Gründe für die Schwierigkeiten der sowjetischen Wirtschaft: schlampige Leitung, schlechte Qualität und ungenügende Produktivität, den Egoismus von Betrieben, die um jeden Preis ihren Plan erfüllen wollen und sowohl Experimente wie Modernisierungen scheuen, weil dies der Planerfüllung nicht dienlich ist.

Andropow — und das ist allerdings neu für einen sowjetischen Generalsekretär — verwies bei der Suche nach Lösungen und Verbesserungen auf das Beispiel anderer, befreundeter Staaten: Lernen könne man auch bei den Kleinen, obwohl das Beispiel Ungarns nicht besonders hervorgehoben wurde. Am bittersten hat Andropows Kritik die Eisenbahner getroffen. Keiner, der je auf diesen Teil des sowjetischen Verkehrssystems angewiesen war, wird viel Mitleid mit den Gemaßregelten gespürt haben, sondern vielleicht hoffen, daß beim nächsten Mal auch die Luftfahrtgesellschaft „Aeroflot" ihren Teil abbekommt.

Der neue Generalsekretär hat also in seiner Rede auch auf bedenkenswerte Vorbilder in anderen Ländern seines Bündnissystems verwiesen, doch ein wirtschaftliches und politisches Sanierungskonzept läßt sich ebensowenig einfach auf die Sowjetunion übertragen, wie einst der Slogan „von der Sowjetunion 1erB nen, heißt siegen lernen" anderen Ländern den rechten Weg wies.

Von heute auf morgen ist jedenfalls die Schwerfälligkeit der Planungsbürokratie nicht zu ändern; auch wenn gegenwärtig von Dezentralisierung gesprochen wird, von größerer Eigenverantwortlichkeit der Betriebe und Kolchosen, so ist das leichter verordnet als verwirklicht in einem Land, in dem schon die Urahnen sich von der Lebensweisheit leiten ließen, daß den Kopf einzuziehen die beste Form des Überlebens ist. Eine solche Reform bedarf der Ruhe — und auch der außenpolitischen Stabilität.

Auch mit Blick auf die Außenpolitik des Landes sprach der neue Generalsekretär den Bürgern aus dem Herzen (US-Präsident Reagan hat der sowjetischen Propaganda wieder zu viel Glaubwürdigkeit verholten). Gleichwohl hat Andropow das Wort Entspannung nicht nur in den Mund genommen, sondern ihr sogar eine Zukunft verheißen.

Will die Sowjetunion, so lautet eine der Schlüsselfragen für den Westen, militärische Überlegenheit über den Westen? Nach all dem, was angesichts der Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu beobachten war, muß man diese Frage eher verneinen. Dieses Land hat andere Sorgen und kann es sich nicht leisten, einen Zweikampf des „politischen Darwinismus" zu beginnen, des „survival of the fit-test", von dem man hier annimmt, daß er nicht zu gewinnen ist, koste es, was es wolle.

Besondere Bedeutung für die Sowjetunion hat der mit Hochdruck vorangetriebene Bau der Gasleitung nach Westeuropa, deren Installation weit über die Dimension eines normalen Geschäftes hinausgeht. Die Gaspipeline ist das Sprungbrett, das dem Land im nächsten Abschnitt seiner Entwicklung helfen soll; denn mit den aus dem Energieverkauf gewonnenen Devisen soll die sowjetische Wirtschaft modernisiert werden. Das Gasgeschäft ist zugleich Symbol einer möglichen Zusammenarbeit zwischen Ost und West, steht für die Sowjets aber auch dafür, daß man sich in Gefahr begibt, wenn man die Abhängigkeit vom Westen zu weit treibt. Das jedenfalls ist die Lektion des letzten Jahres. Das Problem der in die Zukunft gerichteten Aufgabenstellungen ist, daß sie in politisch schwierigen Zeiten beginnen. Der Mann, dem dabei die Schlüsselrolle zufällt, ist wegen seiner KGB-Tätigkeit in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben. Was man inzwischen von ihm weiß, ist, daß er im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht zu einer sentimentalen Zuneigung gegenüber den Deutschen neigt. Für Andropow sind die wichtigsten Gesprächspartner außerhalb der östlichen Welt die Amerikaner.

Genauere Kenntnis über die Persönlichkeit des Generalsekretärs besitzt der amerikanische Journalist Salisbury, der ihn in seinem Landhaus besuchte, als er gerade dem englischsprachigen Dienst der „Voice of America" zuhörte. Er habe nicht den Eindruck gehabt, daß dies ein gesteuerter Zufall gewesen sei, arrangiert aus Gründen der Public Relations; Andropow schätze es, seine Informationen direkt von der Quelle zu bekommen, er lese englischsprachige Zeitungen und Zeitschriften und sei deshalb in der Lage, sich unabhängig vom Apparat eine eigene Meinung über die Entwicklungen in den USA zu bilden. Der Journalist folgert: „Das ist so, als wenn Mr. Reagan die Berichte der CIA mit der Lektüre von Prawda und Istwestija ergänzen könnte."

Salisbury geht auch auf die Vorwürfe ein, die Andropow im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Aufstandes in Ungarn gemacht werden. Tatsächlich habe er Moskau zwei Monate vorher vor einer Zuspitzung der Entwicklung gewarnt. „Er erhielt einen Tadel wegen sensationalistischer Neigungen — man sah es anders, als der Aufstand begann.“ Später habe er Kadar unterstützt, das liberalste und erfolgreichste Regime im östlichen Lager.

Daß es ausgerechnet ein ehemaliger KGB-Chef ist, der nun versucht, den Bürgern wieder Hoffnung zu geben, mag paradox erscheinen in Anbetracht des Rufs, den sich diese Institution in der Vergangenheit erworben hat. Für Freunde und Gegner wird gleichwohl deutlich, daß sie es hier mit einem Mann von klaren Prinzipien zu tun haben, der nicht bereit ist, Defizite in der staatlichen Planungsbürokratie zu verschleiern. Ob diese Eigenschaften ausreichen werden, die vielfältigen Probleme des Landes auch in der Praxis zu vermindern und darüber hinaus auch einen glaubwürdigen Beitrag zur Entspannung des Ost-West-Gegensatzes zu leisten, wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit die westliche Welt ihrerseits die Sowjets von dem guten Willen zum Abbau der wirtschaftlichen und militärischen Konfrontation zu überzeugen vermag.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dirk Sager, geb. 1940; Studium an der Freien Universität Berlin; von 1968— 1974 Redakteur beim ZDF in den Sendereihen „Drüben" und „Kennzeichen D"; 1974 Korrespondent des ZDF in der DDR, 1978 Korrespondent in Washington und seit 1980 Korrespondent in Moskau.