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Britannia in Seenot? | APuZ 1/1983 | bpb.de

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APuZ 1/1983 Artikel 1 Amerika, hast Du es besser? Moskau: Zwischen Frost und Tauwetter Das neue Frankreich — eine Illusion? Britannia in Seenot? Japan: Mythos und Automation

Britannia in Seenot?

Karl Heinz Wocker

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Trotz der Stürme, vom Falkland-Krieg bis zur Arbeitslosigkeit von mittlerweile annähernd vier Millionen, ist die Gefahr eines Kenterns des britischen Staats-bzw. Regierungsschiffs nicht in Sicht. Der unbeirrbare wirtschaftspolitische Kurs Frau Thatchers hatte sicherlich so manches Unternehmen und noch mehr Arbeitslose zum Opfer, aber andererseits ist damit endlich die Inflationsrate gedrosselt worden. Ansonsten ist der politische Horizont eher dunkel: der EG-Beitritt vor genau zehn Jahren hat keine neuen Perspektiven eröffnet — im Gegenteil, es wird immer mehr über einen Austritt diskutiert; auch im Nordirland-Konflikt zeichnet sich keinerlei Lösung ab; die Spannungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen verschärfen sich zusehends. Da aber weder Labour noch die neue Sozialdemokratische Partei massenweise personelle oder sachliche Alternativen anzubieten haben, ist es gut möglich, daß das Kabinett Thatcher über vorgezogene Wahlen etwa im Herbst sich seinen entschiedenen Kurs bestätigen läßt.

Großbritannien hat einen Krieg hinter sich und eine Wahl vor sich — so kann man die Lage zum Jahreswechsel wohl am besten beschreiben. Was hat der Faiklandfeldzug verändert, wer bildet die nächste Regierung? — so fragen die politisch interessierten Briten (und das sind im sogenannten Mutterland der Demokratie keineswegs mehr Leute als anderswo, ungeachtet der Gerüchte, die sich über die Insel hartnäckig halten).

Paradoxerweise ist die Frage, was der Kampf im Südatlantik verändert hat, schwerer zu beantworten als die nach den Folgen des Wahl-ausgangs. Die Politik einer zweiten Regierung Thatcher oder der Kurs eines Kabinetts Foot, ja sogar die Konsequenz einer nötigen Koalition mit der neuen Allianzpartei läßt sich einschätzen. Der Innenspielraum einer von der Rezession besonders schwer angeschlagenen Sekundärmacht ist begrenzt; gerade das abgelaufene Jahr hat dafür Beispiele erbracht, von denen zu reden sein wird. Was dagegen der Ausgriff aus Zeit und Raum bedeutet, den das nachimperiale England sich da am anderen Weitende geleistet und siegreich bestanden hat, ist in allen Auswirkungen immer noch unabwägbar. Es versteht sich, daß zu ihnen auch das Abschneiden der Regierung bei den kommenden Unterhauswahlen gehört, wie es ja nicht wenige gibt, die ungerührt um die beschworenen Güter der Nation nie den Verdacht loswurden, daß es sich bei dem Unternehmen auch um einen zwar letztlich unerwartet blutigen, aber doch kühl kalkulierten Wahl-, Kampf" gehandelt habe.

Noch sind nicht alle Wunden geheilt, alle Medaillen verteilt, alle Kosten gezahlt oder gar dem Lande unterbreitet. Das Weihnachtssortiment der britischen Buchhandlungen offerierte Faiklandbücher im Dutzend billiger, und vielen ihrer Leser dämmert, daß da nicht eine überlegene britische Streitmacht und John Bulls Kaltblütigkeit allein den Erfolg errangen, sondern daß viel „fortune" im Spiel war, um die Sprache jenes Landes zu bemühen, dessen exzellente Fernlenkraketen der stol-

zen Armada beinahe den Garaus gemacht hätJen. Ein gesunkener Flugzeugträger, ein gefalener Königssohn — und der Befehl zur Heimkehr wäre unvermeidlich gewesen.

Es scheint eine Trotzreaktion auf diese glücklcn überwundenen Hazards des Krieges zu sein, wenn den Briten der politische Preis des Sieges immer noch nicht hoch genug sein kann. Die Beziehungen zu einigen der besten Verbündeten sind seit dem Faiklandkrieg überschattet. Reihum tadelte Frau Thatcher während des abgelaufenen Jahres die Regierungen in Washington und Paris, in allen übrigen EG-Staaten im allgemeinen und in Dublin im besonderen. An die Adresse der USA wurden Worte gerichtet, die man zwischen zwei einander so nahestehenden Führungen zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Die Südamerikapolitik der Reagan-Administration mag nicht frei von eigensüchtigen Erwägungen, vom Wunsch nach Ruhe vor der Haustür sein, aber die britische Reaktion auf das Vorgehen der USA bei der Faiklanddebatte in den UN hörte sich an, als habe das Weiße Haus soeben die Ausweisung aller britischen Diplomaten oder die Beschlagnahme aller britischen Konten angeordnet.

Die „tiefe Verletzung", die Frau Thatcher zu empfinden angab, hängt damit zusammen, daß ihre Regierung im Falklandfeldzug eben nicht eine rein englische Affäre sah, sondern einen im Namen des Westens und zur Abschrekkung aller künftigen Aggressoren in aller Welt geführten Muster-Kreuzzug. Ein Exempel sei statuiert worden, nun könnten die Menschen ruhiger schlafen — eine Formulierung, die tatsächlich mehrmals benutzt wurde, ehe die Bilder aus Beirut dieser Blasphemie ein Ende machten.

Der Faiklandkrieg hat die Beziehungen Großbritanniens zu den Partnern der Europäischen Gemeinschaft belastet zu einem Zeitpunkt, da die Insel auf zehn Jahre der Zusammenarbeit zurückblicken könnte und auch sollte. Aber die Artikel zum Gedenken an den 1. Januar 1973, als das Land in Brüssel seinen Sitz einnahm, klingen verhalten, wo nicht skeptisch und enttäuscht. Kein Karajan ist gebeten worden, die Wiederkehr des Ereignisses zu zelebrieren, das er damals festlich konzertierend beging, eingeladen von Edward Heath, dem heute kein Dank mehr für die Verbindung gezollt wird, deren sich das Land eher geniert. Vielleicht kam der Beitritt zu spät, so daß die Briten die reibungslosen frühen Jahre der Gemeinschaft nicht miterlebten und nun im Rückblick nur die Dekade der sich verdüsternden Horizonte sehen. Es wäre falsch, von einer durchgängigen Europamüdigkeit der Briten zu sprechen und Feindseligkeit allenthalben zu wittern, nur weil die Anti-Kontinentalen in den Parteien und den Medien über starke Fraktionen verfügen. Eine Insel, die sich in die Isolation stets am stärksten fühlt und dies während des Faiklandkrieges auch wieder durchlebt zu haben glaubt, benötigt zur Selbstidentifizierung eigentlich keine Freunde. Anders als eine auf Rückenfreiheit bedachte Kontinentalmacht muß sie nicht ständig mit diesem gegen jenen koalieren. Die Briten waren und sind seit dem Koreakrieg überzeugt, das Nordatlantische Bündnis sei im Grunde alles, worauf sie angewiesen seien, und selbst da spuken noch Selbstverteidigungsillusionen durch die Gänge von Whitehall und Westminster. Die EG, so sehen es jetzt, zehn Jahre später, viele Briten, bot einem damals gebeutelten Großbritannien nach schweren Pfundkrisen, Zahlungsbilanzdefiziten und dem Verlust von Überseemärkten einen Unterschlupf. Aber, so argumentieren sie: was als Blockhütte im Sturm gut war, ist es nicht auch als Wohnhaus auf Dauer.

So denken jedoch nicht alle. Vielen Betriebsleitungen graut bei der Vorstellung, in dieser Rezession auch noch gegen die Schranken eines westeuropäischen Zollverbandes anrennen zu müssen, über Fischereirechte mit Dänen und Franzosen feilschen, die nicht aus Bündnisgründen zu einer Nimm-und-Gib-Politik angehalten wären, ließe nur den Kurs der offenen Konfrontation zu. Nicht, als ob Frau Thatcher diesen Kurs scheute; aber Kriegsschiffe kann man zwar noch in den Südatlantik nach Port Stanley schicken, nicht aber die Seine hinauf nach Paris.

Es gibt Anzeichen dafür, daß der europäische Gedanke nicht nur dort nachläßt, wo er nie sehr stark war, also auf der politischen Linken. Daß der Austritt aus der Europa-Gemeinschaft einem Labour-Wahlsieg folgen soll, ist längst beschlossene Sache; die Partei streitet nur noch darüber, ob vor einem solchen Schritt ein zweites Referendum vonnöten sei oder nicht. Labour-Jahrestreffen und Gewerkschaftskongresse geben anderen Gedankengängen kaum mehr Raum, obwohl gerade unter den Trade-Union-Führern viele ihre Ansicht revidiert und die Vorzüge gesamteuropäischer Politik entdeckt haben. Denn siegt Frau Thatcher ein zweites Mal, könnte der Tag kommen, an dem eine britische Gewerkschaft nicht als Beklagte, sondern als Klägerin vor dem Europäischen Gerichtshof erschiene. Schon hat nämlich der britische Industriellenverband die Regierung aufgefordert, sich mit allen Mitteln den Versuchen zu widersetzen, eine europäische Grund-gemeinsamkeit in der Mitbestimmung zu schaffen. Seltsame Frontenverkehrung: Die Trade Unions, nie begeistert von kontinentalen Formen der geteilten Verantwortung im Unternehmen, befreunden sich jetzt, da die Tarifverhandlungen ohne Druckmittel geführt werden müssen, mit solchen Experimenten. Nun passen sie aber den Arbeitgebern nicht die — um solchen Machtzuwachs der Gewerkschaften zu verhindern — dann lieber eine anti-europäische Seite hervorkehren. Doch ist beides die gleiche Medaille: Die EG dient als jeweils willkommener Verbündeter oder unerwünschter Gegner im hausinternen Streit. Das bestärkt nur den Verdacht, das nachimperiale Großbritannien habe eigentlich gar keine Außenpolitik mehr, sondern nur eine Innenpolitik, die aus taktischen Gründen gelegentlich außerhalb der Landesgrenzen betrieben werde.

So reagiert denn auch die Insel auf die Welt-rezession mit einem sehr viel schärferen internen Kampf, als das anderswo der Fall ist. Von Burgfrieden zum Zwecke des gemeinsamen überlebens kann keine Rede sein. Die Privatindustrie will sich jetzt, in der Massenarbeitslosigkeit und bei streikunlustigen Belegschaften, schadlos halten für die Jahre, in denen die Labourregierung den Gewerkschaften die Gesetze nach Geschmack lieferte. Von einer weiteren Amtsperiode Frau Thatchers erhoffen die Unternehmer sich ein derart weitgehendes Zurückdämmen des gewerkschaftlichen Einflusses, daß selbst eine spätere Labourregierung dies nicht korrigieren könnte. In diesem Wunsch werden sie durch Pläne der Konservativen Partei bestärkt, Tarifverträge mehr und mehr durch Einzelabschlüsse zu ersetzen, alle innergewerkschaftlichen Vorgänge an Wahlen zu binden, die finanzielle Unterstützung der Labour Party durch die Trade Unions zu erschweren und so fort. Da solche Tendenzen inzwischen mit immer kühneren „Gegensteuerungs" -Absichten auf der Linken der Labour Party beantwortet werden, beginnen selbst Beobachter schwarz zu sehen, die bis vor einiger Zeit überzeugt davon waren, eine große Zahl von Gewerkschaftsführungen suche in zu egoistischer Manier die einmal errungenen Vorrechte um jeden Preis zu verteidigen, unbekümmert darum, was die Volkswirtschaft erfordere. Der Klassenkampf, der in Großbritannien sich zäher und ungenierter hielt als anderswo, wird also munter belebt Orwells Alptraum für das Jahr 1984 übertrieb in vielem, nur in einem wird seine Phantasie noch überboten, denn die beiden „Großen Brüder" Kapital und Arbeit (oder wie man sie nennen will) sind weiter am Werke, der einzelne droht dazwischen zerrieben zu werden.

Will man einer Untersuchung des „Economist Intelligence Unit“ Glauben schenken, so greift die Apathie unter den 3 Millionen unterstützten, 3, 3 Millionen registrierten und rund 4 Millionen tatsächlichen Arbeitslosen des Landes bereits derart um sich, als regiere der Große Bruder, gegen den sich ja doch nichts machen lasse, weil sein Fernsehauge alles überwache. 71 Prozent fürchten, nie wieder eine Beschäftigung zu bekommen, weder im nächsten Jahr, noch durch eine andere Regierung oder durch die alte als neue. Die Untersuchung räumt auch mit dem Märchen auf, die Arbeitslosigkeit treffe ja „uns alle". Nein, sie trifft die schlecht Ausgebildeten, die mit 16 oder früher von der Schule Abgegangenen, die Unterschicht. 85 Prozent der Arbeitslosen haben nur eine solche elementare (oder schlechtere) Ausbildung mitbekommen ins Zeitalter der Rationalisierung, der Computer, des Schrumpfens der veralteten britischen Grundstoff-und Verarbeitungsindustrien, der schließenden Werften, des eingehenden Bekleidungssektors, des Aussterbens ganzer Zweige der einstmals stolzen Automobilherstellung. Was wird aus diesen hoffnungslosen Millionen eines Tages politisch werden? In jeder Altersgruppe gibt es bereits zehn, in einigen sogar 20 Prozent, die seit mehr als zwei Jahren nicht mehr beschäftigt sind. Ihr Fernsehkonsum soll durchschnittlich um vier Stunden pro Tag gestiegen sein. Kein Großer Bruder beobachtet sie, aber sie richten ihren Blick offenbar auch nicht auf ihn: Nur etwa jeder Vierte unter diesen Untätigen glaubt, daß die Politik der Regierung etwas mit seinem Zustand zu tun habe.

Wohl hat sie etwas damit zu tun, wie viele Briten diesem Zustand zugerechnet werden. Seit neuestem ist ein Zählsystem in Gebrauch, das nicht mehr die Stellensuchenden registriert, sondern die Unterstützungsempfänger. Die veränderte Berechnungsweise brachte für die Regierung den angenehmen Begleitumstand erheblich geringerer Summen; im September betrug die Differenz über 200 000 Personen.

Nicht alle Stellensuchenden bemühen sich dueh um Arbeitslosengeld. Das gilt für verheiratete Frauen, es gilt vor allem für viele der arbigen Einwanderer, die zwar dem freundli, an Mädchen im Job Centre ihres Viertels auen, nicht aber dem Computer des Sozialministeriums, der vielleicht Angaben ans Innenministerium weitergeben könnte und was dergleichen Verdacht mehr ist.

Wie hoch die Differenz zwischen alter und neuer Rechenweise künftig sein wird, läßt sich nie mehr feststellen, denn einer der Gründe für die Umstellung war es, ca. 1 300 Arbeitskräfte einzusparen, die bisher in den Job Centres allmonatlich an einem Stichtag die dort gemeldeten Personen zu zählen hatten. Auch sie sind nun arbeitslos, was 10 Millionen Pfund im Jahr sparen soll, von welcher Milchmädchenrechnung man natürlich die Gelder subtrahieren muß, die sie nun als Unterstützung erhalten. Die neue Zählweise wird allgemein als übler Trick betrachtet, als Kosmetik, die die Zahlen im Wahljahr frisieren soll. Das skeptische Männlein in den Mini-Karikaturen des „Times" -Zeichners Calman sagt beim Anblick der neuen Statistik: „Offenbar bin ich nicht so arbeitslos, wie ich dachte", und die „Financial Times“ fragte, ob die Regierung das neue System wohl auch eingeführt haben würde, wenn sie zuvor gewußt hätte, daß dadurch die Gesamtzahl sich erhöhen statt erniedrigen würde.

Der Versuch der Beschönigung erinnert an ein Kunststück, das die Regierung Thatcher gleich nach Amtsantritt erprobte, um die damals hohe Inflationsrate zu „verjüngen". Der Preis-Index sollte durch einen Preis-Steuer-Index ersetzt werden, bei dem von den steigenden Lebenshaltungskosten der Effekt der gerade gewährten Steuersenkung abgezogen wurde. Als dann weitere Geschenke dieser Art unterbleiben, ja durch höhere Forderungen ersetzt werden mußten, ließ der Finanzminister das ingeniöse Rechensystem stillschweigend wieder fallen. „Eine konservative Regierung", sagte Benjamin Disraeli, „ist die organisierte Heuchelei.“ Aber er sagte das nur in halbem Ernst und auch lange bevor er selbst Premierminister einer konservativen Regierung wurde.

Der parteipolitische Zusatz tut auch wenig zur Sache: Harold Wilsons Versuch, eine der Pfund-Abwertungen seiner Amtszeit mit dem berüchtigten Satz zu beschwichtigen, deshalb sei das Pfund in der Tasche des Wählers nicht weniger wert als zuvor, gehört ebenfalls in die — nachgerade erstaunlich lange — Reihe dessen, was britische Politiker immer wieder ihren Landsleuten zumuten zu können glauben. Der Ausspruch kam in Erinnerung, als das Falkland-Jahr kurz vor seinem Ende den Briten noch einmal bewußt machte, wie abhängig ihre Wirtschaft, ja ihre gesamte Politik von Kräften bleibt, auf die auch eine noch so konsequent vorgehende Regierung keinen Einfluß hat Der aus heiterem Himmel hereingebrochene Kurssturz der Währung an den internationalen Devisenbörsen war eine böse Überraschung. Denn wenn die rigorose Finanzpolitik der Regierung Thatcher außer weitflächig destruktiven Folgen wie Firmenzusammenbrüchen und Massenarbeitslosigkeit ein beachtlich positives Resultat vorweisen kann, dann ist es der stete Rückgang der Inflationsrate. Sie langte im Laufe des vergangenen Jahres endlich unter der Zehn-Prozent-Marke an und erreichte im November mit 7 Prozent ein Tief, das für das nächste Jahr den Gedanken an eine deutsche oder Schweizer Rate nicht länger ins Reich der Utopie verwies. Dann aber machten sich plötzlich die „Gnomen von Zürich" an ihr altbekanntes Werk, und der Pfundkurs gab nach. Die Zinssätze mußten überstürzt heraufgesetzt werden, nachdem sie auf Drängen der Industrie und großer Teile der konservativen Partei nach und nach und mühsam genug gedrückt worden waren. In wenigen Tagen wurde viel gewonnener Boden verloren.

Ironischerweise trug gerade der Ölreichtum der Briten zu diesem Rückschlag bei. öl zu haben gilt als Belastung, wenn seine Preise nachgeben. Die Wahl, ob das Land lieber billiger einführen oder billiger ausführen, lieber stabile Preise oder bequeme Kredite haben wolle, war der Regierung mit einem Mal genommen. Der Finanzminister konnte nicht länger den quasi souveränen Schiedsrichter spielen zwischen denen, die nach Konsequenz der bisherigen Politik rufen, und jenen, die es nach den Konzessionen einer neuen verlangt. Die Entscheidung nahmen ihm die gleichen Leute ab, die schon seinen Labour-Vorgänger Denis Healey zur Verzweiflung brachten. Die Ölfunde in der Nordsee und die Eisenproduktion haben Großbritanniens grundlegende Schwächen nicht behoben.

Das bedenken einige Abgeordnete im Regierungslager zu Beginn des neuen Jahres, in dem es mutmaßlich zu einer Neuwahl des Parlaments kommt. War bislang da und dort spekuliert worden, Frau Thatcher möchte vielleicht schon im Frühjahr 1983 das Unterhaus auflösen, um den Falkland-Effekt — vielleicht mit einer telegenen Ortsbesichtigung zur einjährigen Wiederkehr des Sieges — zu nutzen, solange er nicht verblaßt sei, so rechnet damit eigentlich derzeit niemand mehr. Ohnehin hat sie stets mit der vollen Rennstrecke gerechnet, und die zieht sich bis Mai 1984 hin. Aber da nach dem Usus — den die Briten gern Verfassung nennen — eine vorzeitige Auflösung jederzeit möglich ist, was die Kontinuität der Macht sichern soll (der Usus will keinen Wechsel, sondern Dauer), rechnet man mit einem Termin im Herbst 1983, weil somit die womöglich ungünstige Zeitnot des „letzten Drückers" vermieden würde. Doch wann auch immer: die Abgeordneten beginnen zu rechnen. Viele in Frau Thatchers Lager sind mit deren Sieg von 1979 frisch ins Parlament gelangt, zum Teil mit Mehrheiten von gefährlicher Dünne. Sie möchten wiedergewählt werden und beginnen nach der dafür besten Politik ihrer Regierung zu fragen. Besteht sie in der Konfrontation? Eine Reihe von Rebellionen deutet darauf hin, daß diese „Minister von übermorgen" lieber „Konsensus“ als „Kampf" auf der Parteifahne lesen würden.

Sicher auch mit dem Blick auf eine geschlossene Front hat die Regierung für 1983 keine allzu kontroversen Gesetze im Sinn. Vor Wahlen muß Ruhe im Hause herrschen — die Pannen kommen von selbst. Daß der Verkauf von Nordsee-Öl-Aktien an das Volk eine Riesen-pleite wurde, war nicht vorauszusehen und hat der Privatisierungskampagne der Konservativen einen Streich gespielt. Der Mehrzahl der Bevölkerung ist an einem Mitbesitz an den Produktionsmitteln so wenig gelegen wie an einem Depot von Papieren der Produktionsstätten. Die Umverteilungsfeldzüge von Links nach Rechts tangieren offenbar einen weit geringeren Teil der Angesprochenen als die Politiker wissen oder wissen wollen. Das wird diese nicht abhalten, auch im kommenden Jahr wieder die Wahlmanifeste mit dem Pro und Kontra der Eigentumsdebatte zu füllen. Erfolg oder Nichterfolg eines Unternehmens erweisen sich gerade in England als keineswegs direkte Funktionen der Besitzform: Zur Abwechslung machte jetzt die staatliche Fluggesellschaft mal einen Gewinn, wohingegen Lloyd's, das Versicherungszentrum, ein Tempel des Privatkapitals, einen unabhängigen Aufseher verordnet bekommen soll, weil es dort drunter und drüber geht, peinlich für Einleger, City und Nation.

Dergleichen entscheidet jedoch keine Parlamentswahl. Auch die Serie von Skandalen im Dschungel der Geheimdienste bringt oder nimmt keine Stimmenpakete. Zwar hat wieder ein sowjetischer Marine-Attach das Land wegen angeblicher Spionage verlassen müssen, die Gedanken eilen zwanzig Jahre zurück zur Iwanow-Profumo-Keeler-Affäre. Aber Ihrer Majestät Minister haben daraus gelernt. Alles läßt sich vertuschen und bagatellisieren, solange nicht die Aufseher selbst einer verschärften Aufsicht bedürftig scheinen. Trotz des unersättlichen Interesses an solchen MI 5-und MI 6-Affären ist es die britische Öffentlichkeit zufrieden, wenn die Wahrheit hinterm Schleier der Gesetze zum Schutz der Staatsgeheimnisse verbleibt, solange nur John Le Carrh dafür sorgt, daß man wohlerdachte Ersatz-handlungen ausführlich auf dem Bildschirm . verfolgen kann. Der Ruf nach parlamentarischer Kontrolle dieser inkompetenten Ex-Obristen, die jene durchlöcherten Organisa. tionen beaufsichtigen, wird sicher kein Wahl-schlager werden. Es ist auch zu spät, das deut.sehe Nachkriegsrezept zu empfehlen, wonach es besser scheint, sich einen Geheimdienst samt dessen Kontrolle zuzulegen, ehe man irgendwelche Geheimnisse besitzt, statt umgekehrt mit den Geheimnissen zu beginnen und dann nach der Überwachung der Wächter zu rufen.

Schwer sagen läßt sich dagegen, ob nicht doch auch im 20. Jahrhundert noch einmal eine Londoner Regierung über die Ereignisse auf der Nachbar-Insel Irland stürzt, wie das vor hundert Jahren gang und gäbe war. Die Zustande in Ulster schreien zum Himmel. Eine auf das Alibi aller britischen Regierungen erpichte Politik hat ausgangs des Jahres mit überflüssigen „Wahlen" zu einem bedeutungslosen Regional-Gremium die Emotionen ange; heizt, die bereits während des Sommers heftig loderten (Attentate im Londoner Hyde und Regent’s Park). Es gibt in Nordirland nur zwei Lösungen: entweder die des Spätkolonialismus, der durch britische Direktherrschaft die 1920 künstlich geschaffenen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der probritischen Protestanten durchhält, ohne sich durch Terrorismus, internationalen Unmut und eigene Anfechtungen irritieren zu lassen (bei gleichzeitigem Schutz der Minderheit vor Übervorteilung durch die „ewige Majorität"), oder den bedingungslosen Abzug, der die Provinz sich selbst überläßt im Rahmen eines oktroyierten britisch-gesamtirischen Rahmenwerks. Beide Wege führen durch Blut. Wenig läßt sich für 1983 mit solch tödlicher Gewißheit voraussagen wie die Fortsetzung des Mordens in Ulster. Aber der Gedanke sei erlaubt, ob die Zahl der Toten seit Beginn der gegenwärtigen Phase des Bürgerkriegs (die ja nicht die erste ist), also seit 1969 bis heute, denn wohl so sehr Viel höher wäre, hätte London damals sofort einen Vorschlag der stufenweisen Ausgliederung Nordirlands aus dem Vereinigten Königreich vorgelegt. Statt dessen lösen Terrorkam23 pagnen und vergebliche politische „Initiativen" einander ab. Der Bevölkerung der Provinz wurde soeben die Farce einer Abstimmung zugemutet, aus der Abgeordnete hervorgegangen sind, die dann nicht einmal die Hauptstadt des Landes besuchen durften, dem Ulster angeblich unbedingt zugehören soll. Dies ist nicht Politik, es ist — um mit Disraeli zu reden — die organisierte Heuchelei, wiederum von allen Parteien oder zumindest deren Führungen abgesegnet. Aber eben deshalb darf man nicht hoffen, daß jemals etwa eine englische Wahl diesen unleidlichen Zustand zum Thema erhebt und die Politiker darauf festlegt, eine klare Entscheidung zu treffen. Es ist aber nur der Schwebezustand aus britischer Halbherzigkeit, der die Terroristen gedeihen läßt. Wenig Hoffnung also für Nordirland im nächsten Jahr.

War bisher von den Fehlschlägen, den Erfolgen und Befürchtungen der konservativen Regierung die Rede, so wird es Zeit, sich im Lager ihrer Gegner umzusehen. Haben die Briten einen Grund, 1983 Labour oder die neue Allianz aus Sozialdemokraten und Liberalen vorzuziehen? Hätte in den letzten zwanzig Jahren eine Londoner Regierung einen bestimmten wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Kurs mit solcher Radikalität verfochten wie das Kabinett Thatcher, der Umschwung wäre unausbleiblich gewesen. Aber dies sind nicht „die letzten 20 Jahre", sondern vielmehr ungewöhnliche Umstände. Ausnahmsweise haben die Konservativen einmal keine Schön-wetter-Periode erwischt (wie Churchill und Macmillan nach 1951), sondern müssen Krisen-Management betreiben, eine Rolle, die sie gern andern überlassen hätten, die sich aber als speziell auf Frau Thatcher zugeschnitten erweist und die im wesentlichen aus großer Unbeirrbarkeit besteht. Deren Schattenseiten kennt das Land und wird sie gegen die Defizite im Persönlichkeitshaushalt des Oppositionsführers wägen müssen. Michael Foot hat im abgelaufenen Jahr viele Beweise dafür geliefert, daß man ihn umgekehrt als einen Prototyp der Beirrbarkeit sehen muß. Das hängt nicht nur mit der Veranlagung des ans Sowohl-als-Auch gewöhnten Intellektuellen zusammen oder mit Erfahrungswerten aus langen Jahren eines idealistisch getönten Sozialismus; es gehört auch zum Arbeitsstil eines jeden Labour-Parteiführers. Diese Bewegung kennt nicht die Kür eines Chefs, der bis zum Beweis schlimmen Versagens nahezu unangefochten walten darf. Dafür setzt sie ihn auch nicht so rüde vor die Tür wie die Konservati-B ven es tun, die auf die gewährte Generalvollmacht rasch das Scherbengericht folgen lassen. Das Vertrauen in Frau Thatcher gilt noch, und ihr müßte eigentlich ein Opponent entgegengestellt werden, der mehr mitbringt als Integrität und gut geschriebene Bücher. Michael Foot hat Grundsätze, aber er läßt sich beirren.

1981 nahm er am Heldengedenktag desinteressiert und statt in solennem Dunkel in einer Art von Windjacke teil. Diese Verachtung des Militärzeremoniells wagte er 1982 nicht zu wiederholen, weil Falkland dazwischen lag. Gegen trotzkistische Wahlkreiskandidaten in seiner Partei argumentierte er zunächst wort-stark, schreckte dann aber vor dem Kampf in den Ortsverbänden zurück. Mag sein, daß viele Wähler ihn als Mensch vorziehen und den vielzitierten Gebrauchtwagen lieber bei ihm kaufen würden. Aber Downing Street 10 ist kein Autoladen.

Wenn es um Sachfragen geht, verkürzt sich der Abstand zwischen Konservativen und Labour. Die Wähler wissen, daß an der Massenarbeitslosigkeit nicht nur die Weltrezession schuld ist, sondern auch die Gesundschrumpfungspolitik der gegenwärtigen Regierung. Sie spüren, daß es auf die Dauer nicht gesund sein kann, wenn unproduktive Betriebe eingehen und der Staat spart, nur um alles Gewonnene für die unproduktivste aller Tätigkeiten wieder auszugeben, nämlich für die Untätigkeit. Diesen Widerspruch in der Thatcher-Politik nicht genügend und nicht pausenlos genug angeprangert zu haben, könnte Labour die Wahl kosten. Wenn im Programm der Opposition eine dreiprozentige Pfundabwertung als Hauptmittel der Wirtschaftsankurbelung auftaucht, so geht das nicht nur den Unternehmern zu weit (auch denen, die nichts gegen verbesserte Exportchancen hätten), sondern es erweckt den Eindruck der Unseriosität. 10 Prozent wären ein überzeugender Schnitt, 30 Prozent hört sich nach Gemetzel an. Besser auch als Milliardenspritzen zur Behebung der Arbeitslosigkeit wären begreifbare Maßnahmen, die an Glaubwürdigkeit gewännen, würden sie von den Gewerkschaften und Labour in sichtbarem Einvernehmen vorgeschlagen. Auch der an Frau Thatchers Monetarismus zweifelnde Bürger traut dem Frieden dieser beiden ungleichen Brüder der Labourbewegung nie ganz über den Weg. Er findet wohl auch, daß es zwischen dem Atom-U-Boot-Ehrgeiz der Konservativen und dem einseitigen Abrüstungsplan der Labour Party Mitteldinge geben müsse.

Bietet sich ihm dafür nicht die neue Allianz an? In den Umfragen ist sie während der letzten zwölf Monate stark abgesackt. Ob man ihr nun 20 oder 25 Prozent zubilligt — beeindrukkende Ziffern wären das nur unter einem Verhältniswahlrecht. In Großbritannien aber kann man damit auf ein paar Mandaten sitzenbleiben; die Liberalen wissen ihr Lied davon zu singen. Die Sozialdemokraten haben inzwisehen das Siegen verlernt, und sie führen ihren Popularitätsverlust nahezu ausschließlich auf den Falkland-Krieg zurück, der Frau Thatcher wieder zugetrieben habe, was von ihr schon abgefallen schien. Das ist Selbsttäuschung. Die neue Partei hat nicht klarzumachen gewußt, wo ihr Schwerpunkt liegt, wen sie eigentlich aus der Parteienlandschaft verdrängen will, Labour oder die Konservativen. Sie ist für Gewerkschaftsreform; aber das besorgt der konservative Arbeitsminister weitaus besser. Sie verurteilt die Inhumanität der Thatcher-Politik, deretwegen in manchen Regionen des Landes 20 Prozent ohne Beschäftigung und ohne Hoffnung auf Arbeit leben; aber das anzuprangern ist die Domäne der Labour Party. Die Sozialdemokraten wollen allen alles sein und sind zu vielen nichts. Auch haben sie wohl in einer Zeit, da starke Dosen von Patriotismus gefragt sind, während Toleranz (gegen Farbige und Fremde), Freihandel und Hilfe für die Dritte Welt und alle diese schönen Dinge geringen Kurswert genießen, den falschen Mann an die Spitze gestellt. Der mag, was ihn ehrt, auf seine Ideale nicht verzichten, und wenn er doch einmal anders redet, klingt das unglaubwürdig. Roy Jenkins war zwar ein exzellenter Innenminister, aber ehedem, als noch alles viel einfacher schien. Ein sympathischer Mensch mit einem Vielzweckprogramm — ist das eine Gefahr für die Premierministerin und ihre wenigen, aber klar faßlichen Prinzipien?

Die Wahl, wenn sie denn im neuen Jahr kommt, kann den Briten also nicht schwerfallen. Niemand wird sich beklagen dürfen, es gebe keine Unterschiede zwischen den Parteien. Das eine oder andere kleine Wahlgeschenk wird Finanzminister Howe aus dem abgeschabten Etat-Köfferchen ziehen, wenn der April kommt. In ein Füllhorn kann sich das Utensil jedoch kaum verwandeln, der Falklandkrieg will bezahlt, die Arbeitslosen müssen unterstützt werden. Die wichtigste Wohltat mag darin bestehen, daß der britische Bürger vielleicht nicht so hart, wie er unter solchen Umständen eigentlich müßte, zur Kasse gebeten wird. Im übrigen ist Vertrö-B stung sein Los, und das ist sie schon Jahres-um Jahreswechsel, Wahl um Wahl — seit etwa zwanzig Jahren.

Eigentlich dürften die Politiker des Landes bald einmal damit beginnen, den Bürger dafür zu belohnen, daß er das alles ohne zu murren fortwährend hinnimmt. Sieht man von rückläufigen Streikwellen ab und von den Pro-i testen der farbigen Jugendlichen in den Großstädten im Jahre 1981, so hat nichts von dem stattgefunden, was so mancher Psychologe, Sozialarbeiter, Kommentator oder Pädagoge schon so oft als irgendwann unvermeidlich eintretend befürchtet hat: Sturmlauf gegen Direktionsgebäude und Gewerkschaftsbüros, Supermärkte und Rathäuser, Fernsehstudios, Polizeireviere und Ministerien. 25 Prozent Stimmen-Versagung bei Wahlen wären eine milde Reaktion der Volksgalle, zu der Regierende wie Opponierende sich beglückwünschen dürfen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl Heinz Wocker, Dr. phil., geb. 1928; Studium der Germanistik, Anglistik, Geschichte und Politik; seit 1963 Hörfunk-Korrespondent des NDR und des WDR in London und Autor der Wochenzeitung „Die Zeit". Veröffentlichungen: Jenseits von Eton, 1971; Königin Viktoria. Eine Biographie, Düsseldorf 1978.