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Die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland — Ursprung, Konzeption, Entwicklung und Probleme — | APuZ 17/1988 | bpb.de

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APuZ 17/1988 Artikel 1 Die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland — Ursprung, Konzeption, Entwicklung und Probleme — Ethik und Soziale Marktwirtschaft Der Staat in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland Sozialpolitik — Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft?

Die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland — Ursprung, Konzeption, Entwicklung und Probleme —

Heinz Lampert

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach einer knappen Skizze der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ausgangslage unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg werden die geistigen Wurzeln, die ethischen Grundlagen und die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft dargestellt. Anschließend wird gezeigt, wie der gesetzliche Rahmen für die Wirtschafts-und Sozialordnung der Bundesrepublik schrittweise aufgebaut und die ordnungspolitische Konzeption in Realität umgesetzt worden ist. Im Zusammenhang mit einer Darstellung der Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung seit 1948 werden unter besonderer Berücksichtigung ordnungspolitischer Aspekte die wichtigsten Einflußfaktoren behandelt, die auf die Wirtschafts-und Sozialordnung eingewirkt haben. In einer Bilanz werden die Leistungen, die Leistungsfähigkeit, die Bewährungen und Gefährdungen der Sozialen Marktwirtschaft beurteilt und die wichtigsten ungelösten Probleme und Aufgaben — der Reformbedarf des Systems der sozialen Sicherheit, die Notwendigkeit der verstärkten Weiterentwicklung der Familienpolitik, das Problem der Arbeitslosigkeit und die Unternehmenskonzentration — angesprochen. In der Bundesrepublik ist es gelungen, eine wirtschaftlich hoch leistungsfähige Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, die beachtliche Freiheitsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten gewährt, gleichzeitig aber ein im grundsätzlichen ordnungskonformes, sehr hohes Maß an sozialem Gehalt der institutionellen Regelungen und des Sozialleistungssystems aufweist. Angesichts der erreichten Staats-und Sozialleistungsquote ist es notwendig, den sozialpolitischen Reformbedarf durch Umstrukturierungen der öffentlichen und der Sozialhaushalte zu decken.

I. Die Ausgangstage

Wenngleich nach vier Jahrzehnten wirtschaftlicher Entwicklung im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft Wirtschaftswissenschaftler dem „Deutschen Wirtschaftswunder“ den Mythos des Unerklärlichen genommen haben, gilt nach wie vor, daß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Bundesrepublik angesichts der ausweglos erscheinenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ausgangslage der Jahre 1945 bis 1947 „nicht nur die Propheten, sondern auch die Wirtschaftswissenschaftler überrascht hat“

Deutschland wurde 1947 von Gustav Stolper beschrieben als eine biologisch verstümmelte, intellektuell verkrüppelte, moralisch ruinierte Nation ohne Nahrung und Rohstoffe, ohne funktionierendes Verkehrssystem und gültige Währung, als Nation, deren soziales Gefüge durch Massenflucht und -Vertreibung zerrissen war, als ein Land, „wo in Hunger und Angst die Hoffnung erstarb“ Das nach Abtretung der Gebiete östlich der Oder-Neiße und des Saarlandes verbleibende Gebiet war in vier verwaltungsmäßig getrennte Besatzungszonen aufgeteilt. Die Politik der Besatzungsmächte war zunächst von Gedanken der Vergeltung, der Bestrafung und der politisch-wirtschaftlichen Entmündigung beherrscht. Dementsprechend wurden Industrieanlagen demontiert, bestimmte Produktionen verboten, andere beschränkt. Die Alliierten übernahmen die von den Nationalsozialisten eingeführte Wirtschaftsordnung und die für diese Ordnung charakteristische Rationierung von Lebensmitteln und knappen Verbrauchsgütern, die behördliche Zuteilung der Roh-und Betriebsstoffe, die Preis-und Lohnstoppverordnung, die staatliche Kontrolle der Ein-und Ausfuhr sowie die Devisenkontrolle.

Gegen die Einführung einer marktwirtschaftlichen Ordnung waren seinerzeit die SPD, die CDU und die Gewerkschaften. Die SPD forderte „eine sozialistische Wirtschaft durch planmäßige Lenkung und gemeinwirtschaftliche Gestaltung“ und die Sozialisierung „der Großbetriebe .... jeder Form der Versorgungswirtschaft und der Teile der verarbeitenden Industrie, die zur Großunternehmung drängen“. Die CDU erklärte im Ahlener Programm: „Planung und Lenkung der Wirtschaft wird auf lange Zeit hinaus in erheblichem Umfange nötig sein“ und verlangte, den Bergbau sowie die eisen-schaffende Industrie zu vergesellschaften. Die Gewerkschaften wollten wichtige Schlüsselindustrien sowie die Kredit-und Versicherungsinstitute in Gemeineigentum überführen.

Als politisch günstige Voraussetzung für die Durchsetzung einer neuen Wirtschafts-und Sozialordnung ist der Kurswechsel der Besatzungspolitik der westlichen Alliierten zu nennen, der sowohl eine Folge der Einsicht war, daß sich Europa ohne die wirtschaftliche Erholung Deutschlands nicht entwickeln könne, als auch eine Folge des 1946 aufbrechenden Ost-West-Konfliktes. Dieser Kurswechsel führte zum wirtschaftlichen Zusammenschluß der westlichen Zonen, zur Lockerung und Aufhebung der Beschränkungen industrieller Produktion, zur Einstellung der Demontagen, zur Einbeziehung der westlichen Besatzungszonen in das für die Erholung Europas außerordentlich bedeutsame Hilfsprogramm der USA, den Marshall-Plan, und schließlich zur Übertragung von mehr Selbstverwaltungsrechten auf die deutschen Verwaltungen.

Bedeutende wirtschaftliche Voraussetzungen eines Neubeginns waren erstens die Schaffung einer funktionsfähigen Währung durch die von den westlichen Alliierten am 20. Juni 1948 durchgeführte Währungsreform und zweitens ein System freier Preise, das heißt ein Mechanismus der richtigen Knappheitsanzeige und dezentralisierter Lenkung der Produktion entsprechend den Verbraucherwünschen. Es war im wesentlichen der Direktor der für die Bizone zuständigen „Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“, Ludwig Erhard, der — gestützt durch ein im April 1948 er-

Meinem Mitarbeiter, Herrn Diplomökonom Rudolf Escheu, danke ich für die kritische Durchsicht dieser Ausarbeitung. stelltes Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats bei dieserVerwaltung — den politischen Mut hatte, durch das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ am 24. Juni 1948 die Voraussetzung für die Außer-kraftsetzung zahlreicher Preisvorschriften zu schaffen. Er verstieß damit nicht nur gegen den Zeitgeist, sondern auch gegen das von den Alliierten beanspruchte Recht, Preisänderungen zu genehmigen.

II. Ursprünge und Konzeption

1. Die geistigen Wurzeln Die geistigen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft als Leitbild der Wirtschafts-und Sozialordnung reichen zwar bis Adam Smith und John Stuart Mill zurück Dennoch führt vom klassischen Liberalismus kein direkter Weg zu dieser Wirtschaftsform. Die eigentliche Entstehungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft beginnt in den dreißiger Jahren und läßt zwei Wurzeln erkennen.

Die erste Wurzel bildet die sogenannte Freiburger Schule, zu der unter anderen die Nationalökonomen Walter Eucken und Leonhard Miksch sowie die Wirtschaftsjuristen Franz Böhm und Hans Großmann-Dörth gehörten. Böhm, Eucken und Großmann-Dörth eröffneten 1937 eine Schriftenreihe mit dem programmatischen Titel „Ordnung der Wirtschaft“. Im gleichen Jahr veröffentlichte Miksch sein Buch „Wettbewerb als Aufgabe. Die Grundsätze einer Wettbewerbsordnung“.

Die zweite Wurzel geht auf neoliberale Sozioökonomen wie Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zurück. Bereits 1932 hatte Rüstow in einem Referat vor dem Verein für Socialpolitik neoliberale Prinzipien formuliert, als er einen starken Staat forderte, der über den Interessengruppen steht, eine an wirtschaftlichen und sozialen Zielen orientierte marktwirtschaftliche Ordnung errichtet und sie vor Denaturierungen durch Konzentration, Monopolbildung und Interessengruppen schützt. In der Emigration in Istanbul hat er den kultursoziologischen Unterbau für die Theoreme der neoliberalen Schule geschaffen der nach dem Krieg in der dreibändigen „Ortsbestimmung der Gegenwart“ veröffentlicht wurde. Ebenfalls in der Emigration — zunächst in Istanbul, dann in Genf — entwickelte Wilhelm Röpke in seiner „Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ (1942) und der „Civitas humana“ (1944) die sozialphilosophischen Grundlagen des Neoliberalismus.

Beiden geistigen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft ist die Erkenntnis gemeinsam, daß der im 19. Jahrhundert praktizierte, staatlich kaum gezügelte wirtschaftspolitische Liberalismus zur Entwurzelung der Menschen und zur Vermassung, zur Ausbeutung der einen durch die anderen, zur Vermachtung der Wirtschaft geführt hatte und daß die Zeit wirtschaftspolitischer Experimente und staatlicher Intervention nach dem Ersten Weltkrieg weder eine wirtschaftliche noch eine politische Stabilisierung zu sichern vermocht hatte. Diese Erkenntnis war Anlaß für die Suche nach einer neuen Ordnung, bei der sich die geistigen Urheber der Sozialen Marktwirtschaft von ganz bestimmten anthropologischen und gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen leiten ließen. 2. Die anthropologischen Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft Der wohl höchste Grundwert, auf den die Soziale Marktwirtschaft bezogen ist, ist die Humanität.

Müller-Armack schreibt dazu: „Letztes Kriterium einer . . . Ordnung kann nicht ein Ziel wie Macht oder Recht, Mehrheit oder Freiheit, Demokratie oder Diktatur sein, sondern nur dies eine: Humanität .. . Humanitas ist für uns der Inbegriff alles dessen, was wir aus einem tiefen Verstehen des Menschen . . . heraus als Wesensvoraussetzung seines Daseins und seiner Daseinserfüllung verstehen . . . Zum Wesen des Menschen gehört die geschichtliche Offenheit und die Freiheit, jeweils neue und verschiedenartige Ziele zu setzen, die alle Berücksichtigung erheischen und uns stets zu einem Ausgleich zwingen . . . Nur eine offene Ordnung kann dem genügen . . . Nur eine indirekte Ordnung bietet den Spielraum, die Fülle der menschlichen Aufgaben zu einem auch nur einigermaßen erträglichen Ausgleich zu bringen.“

Zu dem Menschenbild der Neoliberalen gehört die Überzeugung, daß jedes Gesellschaftsmitglied unveräußerliche Grundrechte, insbesondere das Recht auf Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit hat, und daß die Gesellschaftsmitglieder deswegen die Möglichkeit haben müssen, ihre individuelle Wohlfahrt innerhalb des von der Gesellschaft gezogenen rechtlichen und sittlichen Rahmens frei und selbstverantwortlich zu definieren und zu verwirklichen. Diese Zielsetzung macht es erforderlich, im wirtschaftlichen Bereich dezen-trale Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse zu organisieren, das heißt, die wirtschaftliche Aktivität marktwirtschaftlich zu lenken. Da der geordnete Markt auf einer gegenseitigen Abstimmung der individuellen Wirtschaftspläne beruht, die wirtschaftliche Koordinierung durch die unmittelbar vom Ergebnis Betroffenen erfolgt und auf Wettbewerbsmärkten ein Verhältnis der Gleichordnung besteht, sichert die marktwirtschaftliche Ordnung ein hohes Maß an Selbstbestimmung und Freiheit. „Wir dürfen“ — so schreibt Röpke — „mit Nachdruck hinzufügen, daß die auf der Marktwirtschaft beruhende Gesellschaft unseres Zeitalters den Anspruch erheben kann, die am wenigsten auf Zwang und Gewalt beruhende der Geschichte zu sein.“ Die Achtung vor dem Menschen wird auch angesprochen, wenn derselbe Autor betont, es sei zugleich ein Gebot der Moral und der staatsmännischen Klugheit, die Wirtschaftspolitik dem Menschen und nicht den Menschen der Wirtschaftspolitik anzupassen Aus der Humanität als zentralem Grundwert der Sozialen Marktwirtschaft leiten sich auch die Grundwerte sozialer Sicherung und sozialer Gerechtigkeit ab

Das Ziel wirtschaftlichen Wachstums wird zwar nicht vernachlässigt, aber auch nicht überbetont. Die Neoliberalen gehen vielmehr von der Überzeugung aus. daß der Marktwirtschaft eine von anderen Systemen bisher nicht erreichte Fähigkeit zu produktivem Wirtschaften und zur Wohlstands-mehrung innewohnt. Aber dieses Ziel ist bei ihnen in erstaunlichem Maße relativiert. In keiner der zahlreichen Arbeiten Müller-Armacks zur Sozialen Marktwirtschaft steht bei der Verdeutlichung der Funktionen des Konzeptes Wohlstands-und Wachstumsmaximierung im Vordergrund. Bei Röpke kann man lesen: „Ökonomismus, Materialismus und Utilitarismus haben in unserer Zeit vereint zu einem Kult der Produktivität, der materiellen Expansion und des Lebensstandards geführt, der aufs neue beweist, daß alles Absolute, Unbegrenzte und Unmäßige vom Übel ist . . . Dieser Kult des Lebensstandards ist. . .selbstverständlich ein Sehfehler der Seele von geradezu klinischem Charakter, eine unweise Verkennung der wahren Rangordnung der Lebenswerte und eine Erniedrigung des Menschen, die er auf die Dauer kaum ertragen wird.“

Eine große Rolle spielt in den Schriften von Rüstow, Röpke und Müller-Armack die Sorge vor Vermassung und gesellschaftlicher Desintegration. Alexander Rüstow hat als Instrument gegen Vermassung und gesellschaftliche Desintegration das Konzept der Vitalpolitik entwickelt, das darauf hin-ausläuft, nicht nur die wirtschaftliche Lage der Menschen durch die Verteilungspolitik zu beeinflussen, sondern ihre ökonomische und metaökonomische Lebensumwelt, ihre gesamte Lebenslage.

Die Neoliberalen wissen, daß die Märkte keine sozial integrierende Kraft darstellen und der Wettbewerb sozial desintegrierend wirken kann, daß er, wie Röpke formuliert, „eine moralisch und sozial gefährliche Weise des Verhaltens“ sein kann, die „nur in einer gewissen Maximaldosierung und mit Dämpfungen und Moderierungen aller Art verteidigt werden kann“ Sie wissen auch, daß mit den hierarchischen Strukturen industrieller Großorganisationen Belastungen und Erschwerungen der menschlichen Beziehungen verbunden sind, daß, wie wiederum bei Röpke nachzulesen ist. „Intrigen, Strebertum, Angeberei, Mißgunst, Schweifwedeln, Neid, Eifersucht“ zu Plagen werden können Daher ist für sie die Wirtschaft ein gesellschaftliches Subsystem, das nicht nur bestimmter politischer Rahmenbedingungen bedarf, zu denen ein weltanschaulicher und politischer Pluralismus der Verbände, Föderalismus und wirtschaftspolitische Gewaltenteilung gehören, sondern auch ein „geistigmoralisches Klima“ das die Entstehung eines Kultes der Produktivität, der materiellen Expansion und des Lebensstandards verhindern kann und der Marktwirtschaft ethische Grundlagen einzieht, um zu verhindern, daß das Wirtschaftsleben moralisch inakzeptabel wird. Da Wettbewerb und Markt die ihnen notwendigen moralischen Voraussetzungen nicht autonom erzeugen, müssen die moralischen Normen von den dazu legitimierten gesellschaftlichen Institutionen, von Familie, Schule und Kirche gepflegt werden.

Das Verhältnis der Wirtschaft und der Wirtschaftsordnung zu anderen Lebensbereichen hat Alexander Rüstow besonders treffend gekennzeichnet: „Wir sind der Meinung, daß es unendlich viele Dinge gibt, die wichtiger sind als Wirtschaft: Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das Religiöse, das Ethische, das Ästhetische, kurz gesagt, das Menschliche, das Kulturelle überhaupt. Alle diese großen Bereiche . . . sind wichtiger als die Wirtschaft. Aber sie allekönnen ohne die Wirtschaft nicht existieren; für sie alle muß die Wirtschaft das Fundament, den Boden bereiten. Primum vivere.deinde philosophari. Wenn die Wirtschaft nicht dafür sorgt, daß die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens gegeben sind, können alle diese Dinge sich nicht entfalten. Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft zu stellen. Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich in den Dienst dieser Forderungen zu stellen. Es ist der eigentliche Zweck der Wirtschaft, diesen überwirtschaftlichen Werten zu dienen.“ Auf dieses überwirtschaftliche Wertesystem ist die ordnungspolitische Konzeption abgestellt. 3. Die Konzeption Das nach dem Zweiten Weltkrieg unter maßgeblicher Beteiligung von Müller-Armack entwickelte Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft ist wirklichkeitsnaher und betont sozialpolitische Ziele stärker als der Neo-und der Ordoliberalismus. Dieses Leitbild wird als Orientierung für einen „dritten Weg“ verstanden der zwischen ungezügeltem Liberalismus und wirtschaftslenkendem, mit Totalitarismus bedrohtem Sozialismus hindurchführt und auf eine Synthese abzielt zwischen rechtsstaatlich gesicherter, insbesondere wirtschaftlicher Freiheit einerseits und den sozialstaatlichen Idealen sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit andererseits.

Besondere Hervorhebung verdient, daß die ordnungspolitische Konzeption kein System vorgegebener und unveränderlicher wirtschafts-, sozialpolitischer und wirtschaftlicher Ziele postuliert, sondern zu verstehen ist als eine vor allem auf die erwähnten Grundwerte bezogene Sozialtechnologie, als „ein der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke“

Konstitutive Elemente der Ordnung, die es erlauben soll, Freiheit, Fortschritt, Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit in der von den Gesellschaftsmitgliedern gewünschten Zielgewichtung zu verwirklichen, sind: 1. Eine marktwirtschaftliche, freiheitliche Ordnung der Wirtschaft, wo immer die wirtschaftlichen Ziele durch die Koordinierung der Aktivitäten selbstverantwortlich und frei entscheidender Wirtschaftssubjekte auf wettbewerblich geordneten Märkten ohne Verletzung sozialer Ziele erreicht werden können (Marktwirtschaft). Der marktwirtschaftliche Wettbewerb, der dazu führt, „den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugute kommen zu lassen und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen“, soll „Wohlstand für alle“ schaffen, eine Sozialisierung des Fortschritts bewirken und überdies das persönliche Leistungsstreben wachhalten Dieser Beitrag zur sozialen Kompo nente der Sozialen Marktwirtschaft wird ergänzt durch die in der Leistungskraft der Marktwirtschaft begründete Schaffung der wirtschaftlichen Grundlagen für soziale Zwecke. In der Herstellung und Sicherung einer freiheitlichen Ordnung wird gleichzeitig ein Mittel zur Sicherung politischer Freiheit gesehen. Denn noch nirgendwo erwies sich politische Freiheit mit wirtschaftlicher Unfreiheit, mit zentraler Lenkung als kompatibel, und noch nirgendwo war wirtschaftliche Freiheit mit politischer Unfreiheit vereinbar. 2. Im Bereich der Ordnung der Märkte (Marktformen, Marktverfassung, Marktzugang), der Unternehmens-und der Betriebsverfassung eine Verbindung von individualrechtlichen Freiheitsverbürgungen, insbesondere des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, mit sozialrechtlichen Freiheitsbindungen in der Weise, daß Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht bzw. so wenig wie möglich in Konflikt geraten. 3. Die Errichtung eines vollständigen Systems sozialen Schutzes auf der Grundlage einer marktwirtschaftlichen Ordnung. 4. Die Errichtung eines Systems der wirtschaftspolitischen Gewaltenteilung (zwischen Gesetzgeber, Regierung und Zentralnotenbank) und des Machtgleichgewichtes im staatlichen Bereich (Aufgaben-verteilung zwischen Zentralstaat, Ländern, Kreisen und Gemeinden). Dessen ungeachtet verlangt das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft einen starken Zentralstaat als ordnungspolitische Potenz, die die Wirtschaftsordnung, vor allem die Wettbewerbsordnung, errichtet und ihre Einhaltung garantiert.

Als wesentliche, die Wirtschafts-und Sozialordnung der Bundesrepublik prägende Elemente sind im Bereich der Ordnungsgrundlagen die allgemeine Vertragsfreiheit, das Recht auf Privateigentum auch an Produktionsmitteln, die Gewerbefreiheit, die Freiheit der Berufs-und Arbeitsplatzwahl, die Konsumfreiheit und die Wettbewerbsfreiheit anzusehen, wobei diese Rechte so auszugestalten sind, daß sie weder die Rechte Dritter noch das Sittengesetz verletzen. Sowohl für die Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft als auch für den sozialen Gehalt der Wirtschaftsordnung kommt der Wettbewerbsordnung, der Geld-, Kredit-und Währungsordnung, der Arbeits-und Sozialordnung und der Finanzverfassung herausragende Bedeutung zu. Die gesetzliche Ausgestaltung dieser Ordnungen wird in sehr hohem Maße den von der ordnungspolitischen Konzeption her geforderten konstitutiven Elementen gerecht

III. Grundzüge der Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft 1948 bis 1987

Im folgenden sollen die Grundzüge der Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft dargestellt werden. Dabei geht es weniger um die wirtschaftliche Entwicklung als um den Aufbau und die Entwicklung der Wirtschaftsordnung unter ordnungspolitischen und sozialpolitischen Aspekten. Für die Untergliederung bietet sich eine Einteilung in folgende drei Perioden an: die Periode des Wiederaufbaues der Wirtschaft und der Errichtung der Sozialen Marktwirtschaft 1948 bis 1958. die Periode kontinuierlicher Vollbeschäftigung 1959 bis 1973 und die seit 1974 anhaltende Periode hoher Arbeitslosigkeit und struktureller Umbrüche. 1. Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Errichtung der Sozialen Marktwirtschaft 1948 bis 1958 Die Errichtung der Sozialen Marktwirtschaft begann noch vor der Gründung der Bundesrepublik 1949 mit der am Juni 1948 verkündeten Währungsreform und der Aufhebung zahlreicher Bewirtschaftungsvorschriften am 24. Juni 1948. In dem 1949 verabschiedeten Grundgesetz wurden eine Reihe wirtschaftlicher Grundfreiheiten verankert (Freiheit der Berufs-und Arbeitsplatzwahl; Freizügigkeit; Koalitionsfreiheit; Konsum-, Produktions-, Handels-und Wettbewerbsfreiheit entsprechend Art. 2).

Nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, insbesondere starken Preissteigerungen 1948 und steigender Arbeitslosigkeit 1949/50, setzte ein Prozeß wirtschaftlichen Wachstums ein, der als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wurde. Indikatoren dieser Entwicklung für die Jahre 1950 bis 1958 sind eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttosozialproduktes von 7, 9 Prozent, eine Zunahme der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer von 13. 9 Mio. auf 18, 5 Mio., ein Rückgang der jahresdurchschnittlichen Arbeitslosenquote von 11. 0 Prozent auf 3, 7 Prozent, ein Anstieg der Nettorealverdienste je beschäftigtem Arbeitnehmer um jahresdurchschnittlich 5, 3 Prozent, eine jahres-durchschnittliche Wohnungsbauleistung von mehr als 500 000 Wohnungen und ein Anstieg der Sozialleistungen pro Kopf der Bevölkerung auf das 2, 5fache, nämlich von 308 DM auf 763 DM 18).

Außer den bereits genannten ordnungspolitischen Ursachen für dieses Wachstum spielten vor allem folgende ordnungspolitische Faktoren eine Rolle: die schrittweise Liberalisierung des Außenwirtschaftsverkehrs und die Einbeziehung der Bundesrepublik in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, die besonders gefördert wurde durch den Beitritt der Bundesrepublik zum allgemeinen Zoll-und Handelsabkommen (GATT) 1951, zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) 1949. zum Internationalen Währungsfonds (IWF) 1952 und zur Montanunion im Jahre 1951. Als Triebkraft der Entwicklung wirkte auch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft 1957.

Schon in jenen Jahren gab es eine Art angebots-orientierter Wirtschaftspolitik, nämlich Steuervergünstigungen und Ausfuhrkredite für die Exportgüterindustrie, Investitionshilfen für Engpaßbereiche wie die Kohle-, die Eisen-und die Stahlindustrie sowie eine Steuerbegünstigung der Kapitalbildung und der reinvestierten Gewinne.

Eine weitere wichtige Voraussetzung der Entwicklung war die Marshall-Plan-Hilfe, die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik die Ernährungsläge durch Nahrungsmitteleinfuhren und den Industrieaufbau durch Rohstoffeinfuhren förderte. Dem Attribut „sozial“ wurde die neue Ordnung nicht nur durch den Abbau der Arbeitslosigkeit und einen starken Anstieg der Masseneinkommen gerecht, sondern u. a. durch folgende sozialpolitische Akte

— die Wiederherstellung einer freiheitlichen demokratischen Arbeitsmarkt-und Sozialordnung durch Wiedereinführung der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie, durch die Errichtung der Arbeits-und der Sozialgerichtsbarkeit sowie durch die Wiedereinführung der Selbstverwaltung der Sozialversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer; — den Ausbau des Arbeitnehmerschutzes, insbesondere des Kündigungsschutzes (1951), des Mutterschutzes (1952) und des Schutzes Schwerbeschädigter (1953);

— die Einführung von Mitbestimmungsrechten in den Montanunternehmen (1951) und in den Betrieben durch das Betriebsverfassungsgesetz (1952); — den Ausgleich von Kriegsschäden durch die Kriegsopferversorgung auf der Grundlage des Bundesversorgungsgesetzes (1950) und durch ein Lastenausgleichsgesetz (1952). das sämtliche Vermögen in der Bundesrepublik zugunsten von Leistungen an Kriegsopfer und durch den Krieg Geschädigte belastete;

— ein vielfältiges Wohnungsbauprogramm auf der Grundlage eigener Wohnungsbaugesetze (1950 ff.), mit denen von Anfang an das Ziel der Förderung individueller Vermögensbildung verfolgt wurde; — die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Rentenversicherung und die Einführung der dynamischen Rente 1957, durch die die Berechnung der Renten und ihre Entwicklung an die Entwicklung der Arbeitseinkommen gebunden wurde;

— die Einführung des Kindergeldes für das dritte und jedes weitere Kind 1954.

Eine nicht hoch genug zu veranschlagende sozialpolitische Leistung war die wirtschaftliche und soziale Integration von rund zehn Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die bis 1958 in das Gebiet der Bundesrepublik geströmt waren.

Der Zweite Deutsche Bundestag, der wie auch sein Vorgänger eine nach Qualität und Quantität bewunderungswürdige gesetzgeberische Leistung vollbrachte, verabschiedete 1957 zwei für die freiheitliche und demokratische Substanz der Wirtschaftsordnung sowie für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft besonders wichtige Gesetze: das Gesetz über die Deutsche Bundesbank, das der Bundesrepublik eine weitgehend unabhängige Zentral-notenbank bescherte und damit eine Art wirtschaftspolitischer Gewaltenteilung zwischen Regierung und Zentralnotenbank schuf, und das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, dessen Aufgabe es war und ist, den freien Wettbewerb vor Beschränkungen und Verzerrungen durch Unternehmenszusammenschlüsse und durch den Mißbrauch von Marktmacht zu schützen. 2. Die Vollbeschäftigungsperiode 1959 bis 1973 In den 15 Jahren von 1959 bis 1973 lag die Arbeitslosenquote stets unter drei Prozent, im Durchschnitt aller Jahre sogar bei nur 1, 1 Prozent; das heißt, das Ziel der Vollbeschäftigung war selbst während der ersten Rezession der Bundesrepublik 1967/68 erfüllt, als die reale Wachstumsrate des Bruttosozialproduktes auf — 0. 1 Prozent gefallen war. während sie für die übrigen Jahre der gesamten Periode im Jahresdurchschnitt 5. 2 Prozent betrug

Die Bundesrepublik befand sich also auch in dieser Entwicklungsphase auf einem Kurs starken, wenn auch gegenüber der vorhergehenden Periode, die durch eine Wachstumsrate von jahresdurchschnittlich 7, 9 Prozent geprägt war, reduzierten Wachstums. In der Untersuchungsperiode stieg die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer von 18, 8 Mio. auf 22, 9 Mio., der jährliche Nettorealverdienst je beschäftigtem Arbeitnehmer erhöhte sich im Jahres-durchschnitt um 4, 6 Prozent, die Sozialleistungen je Einw 9 Mio., der jährliche Nettorealverdienst je beschäftigtem Arbeitnehmer erhöhte sich im Jahres-durchschnitt um 4, 6 Prozent, die Sozialleistungen je Einwohner stiegen auf das 3, 4fache, nämlich von 1 242 DM (1960) auf 4 239 DM. Die Wohnungsbauleistung hielt sich mit jahresdurchschnittlich 579 000 fertiggestellten Wohnungen nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau.

Die Ende der fünfziger Jahre fast vollständig bestehenden gesetzlichen Grundlagen einer Sozialen Marktwirtschaft wurden 1961 vervollständigt erstens durch das Außenwirtschaftsgesetz, das den Grundsatz der Außenhandelsfreiheit verankerte und die Möglichkeiten von Beschränkungen dieses Grundsatzes definierte, und zweitens durch das Kreditwesengesetz, das die Kreditmärkte im Sinne möglichst hoher Sicherheit der Kapitalanlagen, der Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Kreditinstitute und der Vermeidung von Mißständen im Kreditwesen ordnet. Eines der grundlegenden ordnungspolitischen Gesetze, nämlich das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen aus dem Jahre 1957, wurde 1973 nennenswert novelliert: Es wurde eine Fusionskontrolle eingeführt, die Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen verschärft, die Preisbindung der zweiten Hand (mit Ausnahme von Verlagserzeugnissen) verbietet, aufeinander abgestimmtes Verhalten untersagt und die Kooperationsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen erweitert. Eine bemerkenswerte und ordnungspolitisch umstrittene Änderung der wirtschaftspolitischen Konzeption ergab sich im Anschluß an die erste, unter Bundeswirtschaftsminister. Karl Schiller und Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß schnell und erfolgreich bekämpfte Rezession in der Bundesrepublik in Gestalt des 1967 verabschiedeten Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, das eine Reihe von — später kaum eingesetzten — konjunkturpolitischen Instrumenten der Globalsteuerung bereitstellte 21). Schiller, maßgeblicher Initiator des Konzepts der Global-steuerung gesamtwirtschaftlicher Größen (z. B.der Lohnsumme, des Preisniveaus und der Staatsquote) bei Beibehaltung der Selbststeuerung im Mikrobe-reich, sprach von einer „Versöhnung des Freiburger Imperativs mit der Keynesianischen Botschaft“ 22).

Unter den neu eingeführten Steuerungsinstrumenten war die „mittelfristige Finanzplanung“ weniger umstritten als die „Konzertierte Aktion“ Sie war ein „gleichzeitiges, aufeinander abgestimmtes Verhalten der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmerverbände“ zur Erreichung der im Stabilitätsgesetz fixierten Ziele eines stetigen, angemessenen Wirtschaftswachstums, der Preisniveaustabilität, eines hohen Beschäftigungsstandes und des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes. Daß wichtige Ziele des Gesetzes in den Jahren 1969 bis 1972 nicht erreicht wurden, läßt sich daran ablesen, daß das Preisniveau 1969 um 1. 9 Prozent. 1970 um 3. 6 Prozent, 1971 um 5, 1 Prozent und 1972 um 5, 6 Prozent stieg. Verursacht wurde dies nicht zuletzt dadurch, weil die Löhne je geleistete Arbeiter-stunde in diesen Jahren im Durchschnitt um 12. 5 Prozent stiegen, die Produktivität je geleistete Arbeiterstunde dagegen nur um 6, 7 Prozent wuchs. Allerdings wäre es verfehlt, allein die Lohnentwicklung für die Preisentwicklung verantwortlich zu machen. Vielmehr lag ein weiterer wichtiger Grund darin, daß die Bundesbank in der Zeit der bis 1973 geltenden festen Wechselkurse nicht in der Lage war, die durch die hohen Außenhandelsüberschüsse und durch spekulative Devisenzuflüsse verursachte Aufblähung der Geldmenge unter Kontrolle zu bekommen, obwohl 1969 die Deutsche Mark um 9, 3 Prozent aufgewertet worden war. Erst mit der Wechselkursfreigabe im März 1973 gewann die Bundesbank die Kontrolle über das monetäre Geschehen zurück. Schließlich sei noch erwähnt, daß eine außerordentliche, auf steigender Staatsverschuldung beruhende Expansion der Staatsausgaben von 233 Mrd. DM 1969 auf 341 Mrd. DM 1972 bei gleichzeitig hoher privater Güternachfrage in jenen Jahren das Produktionspotential überforderte. Mit zusätzlichen Problemen wurde die Wirtschaft der Bundesrepublik ab 1974 konfrontiert.

Sozialpolitisch läßt sich die hier dargestellte Periode der Sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zur ersten Periode, in der die ordnungspolitischen Grundlagen freiheitlich-demokratischer Sozialpolitik und die Grundlagen des Sozialstaates geschaffen worden waren, als Phase sozialstaatlicher Expansion charakterisieren die vor allem folgende Merkmale trägt:

— im Bereich des Arbeitnehmerschutzes eine Verbesserung des Arbeitszeitschutzes für Jugendliche (Jugendarbeitsschutzgesetz 1960), die Einführung eines Mindesturlaubs für alle Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz 1963) und eine Verlängerung der Mutterschutzfrist (Mutterschutzgesetz 1965);

-eine Fortführung der Politik breiterer Vermögensstreuung durch die Zahlung von Prämien auch für solche Ersparnisse, die nicht Wohnungsbau-zwecken dienten, durch die Einführung einer Steuerbegünstigung bzw. von Sparzulagen für vermögenswirksame Leistungen der Arbeitgeber für Arbeitnehmer, wobei die Zulagen nach Einkommenshöhe und Kinderzahl abgestuft wurden (Erstes bis Drittes Vermögensbildungsgesetz 1961, 1965, 1970) und durch die Reprivatisierung öffentlicher Unternehmen (Preußag 1959, VW-Werk 1961, VEBA 1965); — den Ausbau der Bildungspolitik durch die Verstärkung der individuellen und institutionellen Förderung der beruflichen Ausbildung, Fortbildung und Umschulung (Arbeitsförderungsgesetz 1969), die Vereinheitlichung der gesetzlichen Grundlagen beruflicher Bildung (Berufsbildungsgesetz 1969), die einkommensabhängige finanzielle Förderung der Ausbildung an weiterführenden Schulen, Fach-schulen und Hochschulen (Bundesausbildungsförderungsgesetz 1971) und die finanzielle Förderung von Promotionen (Graduiertenförderungsgesetz 1971); — die Neuordnung des Rechts der Sozialhilfe im Sozialhilfegesetz (1961), in dem ein Rechtsanspruch auf eine der Würde des Menschen entsprechende Hilfe verankert wurde; — die Ausweitung und Erhöhung bestimmter Sozialtransfers wie z. B.der Kindergeldzahlungen (1961, 1964, 1970) und der Wohnbeihilfen für einkommensschwache Gruppen (Wohnbeihilfegesetz 1963, Zweites Wohngeldgesetz 1970); — die Weiterentwicklung des Systems sozialer Sicherung durch die Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft (1959), die Einführung der Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall (1969), die Einbeziehung der Kindergartenkinder, Schüler und Studenten in die gesetzliche Unfallversicherung (1971), die Einführung der flexiblen Altersgrenze für den Rentenbezug, die Einführung einer Mindestrente für bestimmte Gruppen weiblicher Arbeitnehmer und die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Hausfrauen und Selbständige im Rahmen des Rentenreformgesetzes von 1972.

Diese Expansion der Sozialpolitik, die sich vor allem 1969 bis 1973 vollzog, das heißt im letzten Jahr der Großen (CDU/CSU/SPD-) Koalition und in den ersten Jahren der sozialliberalen (SPD/F. D. P.) -Koalition, ließ die Sozialausgaben mit wachsenden Raten steigen. Die Sozialleistungen wurden von 68, 8 Mrd. DM im Jahre 1960 auf 262, 7 Mrd. DM im Jahre 1973 erhöht, das heißt auf das 3, 8fache, während das Bruttosozialprodukt nur auf das dreifache stieg. Die Sozialleistungsquote als Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt stieg von 22, 7 Prozent auf 28, 6 Prozent. 1960 bis 1963 waren die Sozialleistungen im Jahresdurchschnitt um 7, 4 Prozent gestiegen, 1964 bis 1969 um 9, 4 Prozent und 1970 bis 1973 um 13, 5 Prozent. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Leistungsexpansion die Sozialabgaben-und die Steuerbelastung erhöhte: Die Belastung der Lohnsumme je Arbeitnehmer durch Steuern und Sozialabgaben stieg von 15, 9 Prozent (1960) auf 26, 1 Prozent. 3. Die Zeit struktureller Umbrüche 1974 bis 1987 Ihre bisher größte Bewährungsprobe hat die Soziale Marktwirtschaft seit 1974 zu bestehen. Das herausragende Merkmal dieser Jahre ist eine hohe Arbeitslosigkeit. Sie setzte 1974 ein, überschritt 1975 die Millionengrenze, blieb bis 1981 in etwa auf diesem Niveau und überstieg 1983 die Zweimillionengrenze. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote belief sich 1974 bis 1981 auf 4, 2 Prozent, 1982 bis 1986 auf 8, 8 Prozent. Daß diese Arbeitslosigkeit mit dem üblichen Instrumentarium der Geld-, Kredit-, Finanz-und Konjunkturpolitik nicht überwunden werden konnte, liegt sowohl daran, daß sie überwiegend durch strukturelle Umbrüche verursacht ist, als auch daran, daß viele zum Teil nicht oder schwer beeinflußbare Faktoren zusammenwirkten. Die wichtigsten dieser Faktoren sind: 1. die extrem hohen Ölpreiserhöhungen durch das Kartell erdölexportierender Länder 1973 und 1978/79; sie verteuerten die Energiekosten der Produzenten und der Konsumenten erheblich, beeinträchtigten die Importfähigkeit der Abnehmerländer für deutsche Exportgüter und machten mehrjährige Anpassungsprozesse an die veränderten Energiekosten erforderlich;

2. die Freigabe des Wechselkurses gegenüber den Nicht-EG-Ländem 1973, die eine Verteuerung deutscher Exportgüter nach sich zogen;

3. ungewöhnlich starke Erhöhungen der Löhne je geleistete Arbeitsstunde in den Jahren 1969 bis 1974 (im verarbeitenden Gewerbe einschließlich Bergbau im Jahresdurchschnitt 12, 9 Prozent!), die den Faktor Arbeit stark verteuerten;

4.der sich verstärkende Einsatz neuer, kurz-und mittelfristig Arbeitskräfte sparender Technologien (Mikroelektronik);

5. Sättigungserscheinungen auf einigen Märkten für langlebige Gebrauchsgüter;

6. ein weltweit feststellbarer Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums;

7. eine durch die Erhöhung des Staatsverbrauches und durch die steigende Staatsverschuldung mitbedingte Verringerung der Investitionsquote;

8. die finanzielle und rechtliche Erschwerung von Kündigungen aufgrund des Ausbaues des rechtlichen und tarifvertraglichen Kündigungsschutzes, der sich bei Kündigungen immer mehr durchsetzenden Entschädigungszahlungen und der Kosten von Sozialplänen;

9. ein stark ins Gewicht fallender Faktor liegt schließlich in der Zunahme des Arbeitskräfteangebotes.der durch das Einrücken der geburtenstarken Jahrgänge aus den sechziger Jahren in das Arbeitskräftepotential und die steigende Erwerbstätigkeit der Frauen verursacht ist.

Die teils gleichzeitige, teils aufeinander folgende, teils befristete und teils anhaltende Wirksamkeit dieser Faktoren hat eine erhebliche Verlangsamung des realen Wirtschaftswachstums auf durchschnittlich 1. 9 Prozent im Zeitraum von 1974 bis 1986 bewirkt. Die Nettorealverdienste je beschäftigtem Arbeitnehmer sind in dieser Zeit lediglich von 19 415 DM auf 20 763 DM gestiegen, die Zahl der Arbeitnehmer ist von 22, 6 Millionen auf 23, 0 Millionen 1980 gestiegen, bis 1984 jedoch wieder auf 22, 0 Millionen abgesunken. Die Sozialleistungen je Einwohner sind auf das 2, 2fache, das heißt auf 8 155 DM erhöht worden.

Die Staatsquote, das heißt der Anteil der Staatsausgaben einschließlich der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt stieg von 39 Prozent im Jahre 1969 auf Werte zwischen 48 Prozent und 49, 8 Prozent in den Jahren 1975 bis 1982. Die Staatsschuld wurde von 125. 9 Mrd. DM 1970 über 256, 4 Mrd. 1975 auf 468, 6 Mrd. 1980 erhöht. Diese Entwicklung und ein beschleunigter Ausbau der Sozialpolitik veranlaßten nicht nur die seit 1969 in der Opposition stehende CDU/CSU, sondern auch Wirtschaftswissenschaftler zur Forderung nach einer „Wende“ in der Wirtschafts-und Sozialpolitik, nach „mehr Markt“, nach einer Neuordnung der Sozialen Marktwirtschaft sowie zu Warnungen vor einem weiteren Ausbau des Sozialstaates

Tatsächlich waren auch in den Jahren stark verlangsamten Wachstums und stark steigender Ausgaben zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Unterstützung der Arbeitslosen weitere Leistungsgesetze verabschiedet worden. Nachdem 1974 das Gesetz über Konkursausfallgeld verabschiedet worden war, aufgrund dessen Arbeitnehmern Verluste an Lohn und Sozialabgaben bei einem Konkurs ihres Arbeitgebers ersetzt werden, wurde 1975 das Kindergeld auch für das erste Kind eingeführt und das Kindergeld für das zweite Kind und die weiteren Kinder erheblich erhöht. 1978, 1979 und 1981 folgten weitere Erhöhungen des Kindergeldes. 1979 wurde durch das Mutterschaftsurlaubsgesetz erwerbstätigen Müttern die Möglichkeit eingeräumt, zusätzlich zur Schutzfrist nach der Entbindung bis zu vier Monate Mutterschaftsurlaub zu verlangen und aus Bundesmitteln Mutterschaftsgeld in Höhe des Nettoarbeitsentgeltes bis maximal 750 DM pro Monat zu beziehen. Erst in den achtziger Jahren wurden die Haushalts-und die Sozialpolitik am Ziel der Stabilisierung der Sozialleistungsquote orien-tiert. In zwei Aktionsfeldern jedoch wurden auch noch in den achtziger Jahren Leistungsgesetze verabschiedet. Erstens in der Familienpolitik, die durch die Einführung des Erziehungsurlaubs, eines Erziehungsgeldes und die rentenversicherungsrechtliche Anerkennung eines Erziehungsjahres (1985) sowie durch steuerliche Entlastungen für Familien mit Kindern (ab 1986) auf die rückläufige Geburtenentwicklung reagierte; zweitens in der Vermögenspolitik, in der durch das Vierte (1984) und das Fünfte Vermögensbildungsgesetz (1987) eine breite Palette von Beteiligungsformen der Arbeitnehmer am Unternehmenskapital gefördert und der Förderungsrahmen von 624 DM pro Jahr auf 936 DM angehoben wurden.

Ordnungspolitisch von großer Bedeutung in dieser dritten Periode war die Weiterentwicklung der Wettbewerbspolitik. Auf die ungebrochene Konzentration der Unternehmungen durch Fusionen reagierte der Gesetzgeber 1976 mit einer Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, durch die die Fusionskontrolle im Presse-bereich verstärkt wurde, sowie durch eine weitere Novellierung 1980, die weitere Verbesserungen der Fusionskontrolle und der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen brachte. Die schon 1951 eingeführte paritätische Mitbestimmung in Montanuntemehmen wurde 1976 in modifizierter Form auf alle Kapitalunternehmungen und Genossenschaften mit mehr als 2 000 Beschäftigten ausgedehnt. Die dadurch bewirkte Einschränkung der Verfügungsfreiheit der Kapitaleigentümer hielten Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände für so bedeutend, daß sie eine Verfassungsklage einreichten. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Klage zurückgewiesen. Wirtschaftswissenschaftler sehen in der Mitbestimmung die Gefahr einer Beeinträchtigung der Fähigkeit der Unternehmen, „ihre Funktion in der Marktwirtschaft noch angemessen zu erfüllen“ Allerdings ist dies keine notwendige, sondern lediglich eine mögliche Folge der Mitbestimmung, die dann eintritt, wenn in einer Branche kein funktionierender Wettbewerb existiert und die Unternehmungen die Verantwortung für Verluste über eine Beeinflussung der politischen Entscheidungen der Allgemeinheit aufbürden können.

IV. Bilanz

1. Transformation der Wirtschaftsordnung?

Die Wirtschafts-und Sozialordnung der Bundesrepublik hat sich in ihrer nunmehr 40jährigen Geschichte stark gewandelt. Schon in den siebziger Jahren wurde die Frage aufgeworfen, ob wir noch eine Soziale Marktwirtschaft haben Wie hat sich die Soziale Marktwirtschaft gewandelt und wodurch wurde sie geprägt?

Wenn man die oben skizzierte Entwicklung unter ordnungspolitischer Perspektive analysiert, stößt man auf Entwicklungsetappen der Sozialen Marktwirtschaft, die zeitlich grob mit den Etappen der Beschäftigungsentwicklung übereinstimmen.

Die erste Periode des Wiederaufbaues der Wirtschaft bis etwa 1960 war die Periode der Grundlegung der neuen Wirtschafts-und Sozialordnung. Ohne daß der Aus-und Aufbau der Sozialordnung und des Sozialleistungssystems vernachlässigt wurde, lag das Schwergewicht auf dem Ausbau der Wirtschaftsordnung und auf einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik.

Die ordnungspolitische Entwicklung in der Vollbeschäftigungsperiode wurde durch drei Faktoren geprägt: den aufgrund einer relativen Vernachlässigung gesellschaftlicher und sozialer Aufgaben bis etwa 1960 entstandenen Nachholbedarf, die importierte Inflation und die Rezession 1967/68.

Den sozial-und gesellschaftspolitischen Nachholbedarf wollte Müller-Armack mit Hilfe einer „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft“ decken. Er empfahl — bei weiterhin konsequenter Wachstumspolitik — eine Verstärkung der Investitionen in das „Humankapital“, die Schaffung selbständiger Existenzen, die Verbesserung der betrieblichen, sozialen und räumlichen Umwelt und die Ausweitung der Investitionen im Bildungs-, Gesundheits-, Verkehrs-und Wohnungssektor mit dem Ziel, „den in die Vereinzelung gedrängten Menschen unserer Zeit das Bewußtsein und die objektive Sicherung in einer ganzheitlichen gesellschaftlichen Konzeption“ zu geben. Wenngleich der Versuch Erhards scheiterte, dieses neue gesellschaftspolitische Leitbild unter dem Schlagwort „Bildung einer formierten Gesellschaft“ umzusetzen, wurden die Jahre 1960 bis 1973/75 doch die Zeit eines beschleunigten Aufbaues des Sozialstaates und überproportionalen Wachstums der Investitionen in den Bereichen Verkehr, Bildung, Städte-und Wohnungsbau. Diese Entwicklung widerlegte einerseits die von System-kritikern gegen die Soziale Marktwirtschaft vorgebrachte Behauptung, diese Wirtschaftsordnung verknüpfe privaten Reichtum mit öffentlicher Ar-11 mut, überforderte aber andererseits vor allem gegen Ende der Vollbeschäftigungsperiode die Wirtschaft durch die Breite und das Tempo der Entwicklung des sozialen und öffentlichen Sektors und die damit verbundenen Steuer-, Beitrags-und Schuldenlasten. Die Bundesrepublik stieß auf die „Grenzen des Sozialstaates“

Die importierte Inflation konnte weder durch die Maßhalteappelle Erhards noch durch seinen Versuch eines „Dialogs mit Repräsentanten der Wirtschaft und Sozialverbände“ bewältigt werden. 1966 griff dann die Regierung der Großen Koalition die Idee einer „Konzertierten Aktion“ auf. Sie war das Kernstück der unter dem Etikett „aufgeklärte Soziale Marktwirtschaft“ betriebenen Globalsteuerung.

Der Glaube an die Gestaltbarkeit, an die Steuerbarkeit, an die Vorhersehbarkeit und die Planbarkeit der Makrorelationen nahm nach der erfolgreichen Bekämpfung der Rezession der Jahre 1967/68 zu. Während diese Entwicklung sowohl der Wirtschafts-als auch der Sozialpolitik von manchen Autoren bewertungsfrei und unbestimmt als „weitreichender Wandel der Wirtschaftsordnung“ oder als „dritte Phase“ bezeichnet wird, konstatieren andere einen „Stilverfall“ der Sozialen Marktwirtschaft

Nach meiner Einschätzung ist die ordnungspolitische Entwicklung nach 1966/67 ambivalent. Sie brachte einerseits eine erhebliche Stärkung der sozialen und sozialpolitischen Qualität dieser Ordnung, die mit dem Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft im Grundsatz durchaus vereinbar ist. Andererseits erfolgte die sozialpolitische Entwicklung zu forciert und drohte die Soziale Marktwirtschaft zu gefährden, z. B. durch die Bevorzugung arbeitsrechtlicher anstelle versicherungsrechtlicher Regelungen im Zusammenhang mit der Einführung von Sozialplänen und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie durch sozialpolitische Luxusleistungen, etwa in Form der mittlerweile zurückgenommenen Graduiertenförderung. Ambivalent ist auch die Globalsteuerung: Das Setzen von Rahmenbedingungen und die Beeinflussung der Makrorelationen durch die Fiskal-, Beschäftigungs-, Geld-und Kreditpolitik ist ordnungskonform. Ordnungsgefährdend war jedoch die im Rahmen der Konzertierten Aktion potenten Verbänden zugewiesene Rolle in der Wirtschafts-und Sozialpolitik, das heißt ihre Einbeziehung in die „Vorformung des wirtschaftspolitischen Willens“, die zu Recht die Frage nach der Verfassungskonformität der Konzertierten Aktion provozierte So gesehen, war es nicht nur ein Nachteil, daß die Gewerkschaften die Konzertierte Aktion zum Scheitern brachten, als sie nach der Mitbestimmungsklage der Arbeitgeber 1976 ihre weitere Mitwirkung an einem gesetzlich vorgeschriebenen Instrument der Wirtschaftspolitik versagten.

Die Periode der Wachstumsverlangsamung und der Strukturumbrüche seit 1974 war sowohl eine Periode der Bewährung als auch der Gefährdung der Sozialen Marktwirtschaft. Bewährt hat sich diese Ordnung bei der Verarbeitung und Bewältigung der Ölpreisschocks und durch ihre Fähigkeit, den neu gesetzten Umweltschutznormen gerecht zu werden und umweltschützende Technologien zu entwikkein Gefährdungen der Ordnung ergaben und ergeben sich aus dem stark ausgeprägten Wandel der Produktions-und Beschäftigtenstruktur, dessen Beschäftigungswirkungen und soziale Folgen einerseits den allgemein für nötig gehaltenen Abbau strukturkonservierender Subventionen derzeit erschweren, wenn nicht verhindern und andererseits die Politiker zu der Auffassung verführen, durch eine Politik staatlicher Förderung technischer Entwicklungen den Strukturwandel politisch gestalten zu können.

Versucht man, die Frage nach dem Wandel der Wirtschaftsordnung kurz zu beantworten, dann scheint mir folgende, natürlich durch subjektive Bewertung beeinflußte Antwort möglich: Die Soziale Marktwirtschaft hat sich erheblich gewandelt. Bezugszeitraum für die Bewertung dieses Wandels sollte jedoch nicht die Aufbauphase sein, in der die soziale Komponente notwendigerweise weniger entwickelt werden konnte. Geht man von der geistigen Konzeption dieser Ordnung aus, dann läßt sich feststellen, daß es überwiegend gelungen ist. eine leistungsfähige, beachtliche Freiheitsspielräume gewährende Ordnung zu realisieren, gleichzeitig aber ein im Grundsatz ordnungskonformes, sehr hohes Maß an sozialem Gehalt der institutionellen Regelungen (Betriebs-und Unternehmens-verfassung), der Ordnung der Märkte und des Sozialleistungssystems zu erreichen. In bestimmten Bereichen wurde die Ordnung verwässert und mehr als nötig auf marktwirtschaftliche Lösungen verzichtet, z. B. in der Landwirtschaftspolitik, in der Rentenpolitik und in der Krankenversicherung, in Bereichen also, die längst reformbedürftig sind. Im sozialen Bereich scheint eine quantitative Grenze erreicht zu sein.

Bei der Beurteilung der derzeitigen Sozialleistungsquoten sollte berücksichtigt werden, daß diese Quote seit vielen Jahren zu einem erheblichen Teil durch die Ausgaben für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ihre Folgekosten verursacht ist und daß nicht zuletzt die Sozialleistungen ein wesentlicher Grund dafür sein dürften, daß die seit Jahren anhaltende Millionenarbeitslosigkeit den sozialen Frieden nicht merklich beeinträchtigt hat.

Die häufig zu hörende Forderung nach einer „Wende der Sozialpolitik“ und einer „Erneuerung der Marktwirtschaft“ ist als Aufforderung zu einer systematischen Überprüfung der Wirtschafts-und Sozialordnung in bezug auf die Ordnungskonformität der eingesetzten Instrumente und zur Suche nach Möglichkeiten der Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz ohne Preisgabe bestimmter sozialer Schutznormen nicht nur berechtigt, sondern auch rational. Die Vertreter dieser Forderung überschätzten jedoch meines Erachtens das Gewicht, das der Tarifautonomie, dem Kündigungsschutz, anderen Schutznormen und den Sozialleistungen bzw. Sozialabgaben als Ursachen der Arbeitslosigkeit zukommt — abgesehen davon, daß ein Abbau von Sozialleistungen bei Unterbeschäftigung rezessive Tendenzen verstärken könnte Effizient kann eine Wende der Sozialpolitik im Sinne nicht eines Abbaues, sondern eines Umbaues der Sozialpolitik sein, der darauf hinausläuft, „daß das sozial Erstrebte unter geringerer Vergeudung volkswirtschaftlicher Ressourcen auch tatsächlich erreicht und gehalten werden kann“ Ein solcher Umbau scheint allein schon deswegen notwendig zu sein, um gravierende soziale Probleme lösen zu können. 2. Ungelöste Probleme und Aufgaben Im sozialpolitischen Bereich müssen nicht nur bestimmte Mängel des Sozialleistungssystems beseitigt werden, z. B. die Steuerungsdefizite in der gesetzlichen Krankenversicherung und Mißbrauchstatbestände bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie im Falle der Arbeitslosigkeit, vielmehr ist wegen der bevorstehenden Bevölkerungsschrumpfung und insbesondere wegen der Änderung der Altersstruktur eine Reform der Rentenversicherung unausweichlich. Dabei geht es nicht nur um eine finanzielle Konsolidierung, sondern um die Anpassung der Rentenversicherung an veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, z. B. an das veränderte Erwerbsverhalten der Frauen, an das Ziel der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau, an neue Arbeitszeitformen, an den Beitrag kinderversorgender und -erziehender Frauen für die Sicherung des Drei-Generationen-

Vertrages

Ordnungspolitisch erscheint vor allem ein Ausbau und eine Weiterentwicklung der Familienpolitik einschließlich der Verbesserung der sozialen Sicherung kindererziehender, nicht erwerbstätiger Frauen geboten — nicht jedoch aus bevölkerungspolitischen Zielen, sondern um die für die Gesellschaft bedeutenden Leistungen kinderversorgender und erziehender Eltern anzuerkennen und die großen Unterschiede in der Lebenslage von Familien mit Kindern gegenüber Familien bzw. Alleinstehenden ohne Kinder auszugleichen Die Mittel für eine solche Politik müssen durch Umstrukturierungen in den öffentlichen und in den Sozialhaushalten sowie durch den Abbau strukturkonservierender Subventionen freigesetzt werden. Dieser Aufgabe-unmittelbar benachbart ist die Aufgabe einer familienfreundlichen Ausgestaltung der Arbeitswelt. insbesondere der Arbeitszeiten, die es den Familien erleichtert. Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit besser miteinander zu vereinbaren.

Das unter sozialen und wirtschaftlichen Aspekten zentrale Problem ist die Überwindung der Arbeitslosigkeit. Entgegen den in den sechziger Jahren genährten Erwartungen ist dieses gesellschaftliche Übel auch aus einer Sozialen Marktwirtschaft so wenig wie aus anderen entwickelten Wirtschaftsgesellschaften endgültig zu verbannen, wenn die Arbeitslosigkeit — wie im letzten Jahrzehnt — durch eine Vielzahl gleichzeitig wirksamer wirtschaftsendogener und wirtschaftsexogener Faktoren verursacht ist, die sich einer kurz-und mittelfristigen Beeinflussung entziehen.

Es sollte aber, wenn das Attribut „sozial“ wirklich ernst genommen wird, darüber nachgedacht werden. ob nicht das Ausmaß der unvermeidbar erscheinenden Arbeitslosigkeit verringert werden kann: durch eine stärkere Ausrichtung des Bildungssystems am Beschäftigungssystem, durch die Herstellung größerer Flexibilität bei den Arbeitsmarktparteien in bezug auf Arbeitszeitflexibilisierungen und in bezug auf eine Abkoppelung der persönlichen Arbeitszeiten von den Betriebszeiten, durch eine Verbesserung des Berufsbildungssystems, durch Verbesserung der Effizienz der Arbeitsverwaltung und durch die Suche nach wirksa-meren organisatorischen Formen der Arbeitslosenversicherung, die der beschäftigungspolitischen Verantwortung der Sozialpartner besser gerecht werden als die geltenden Regelungen

Ein seit Jahren aktuelles Problem, das die Soziale Marktwirtschaft in ihrem Wesenskern trifft, nämlich in ihrem Anspruch, eine auf Dezentralisierung beruhende, freiheitliche, machtfreie und soziale Ordnung zu sein, ist die Konzentration im Unternehmenssektor Sie ist seit den fünfziger Jahren gewachsen. Auf ihre Bekämpfung hat die Wettbewerbspolitik bereits viel Aufmerksamkeit verwandt — nicht ohne Erfolg. Dennoch müssen weiterhin alle denkbaren Anstrengungen unternommen werden, um die Wettbewerbsordnung, ein Kernstück der Sozialen Marktwirtschaft, vor Verfälschungen durch die Bildung und den Mißbrauch von Marktmachtstellungen zu schützen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Konzentration im Bankensektor.der wegen der Finanzierungsfunktion der Banken für die übrigen Sektoren der Wirtschaft, wegen der Beteiligungen der Banken an Nichtbankunternehmen, wegen der Ausübung von Depotstimmrechten, wegen ihrer Vertretung in Aufsichtsräten und wegen der dadurch hergestellten personellen Verflechtungen zwischen Großuntemehmungen besondere Bedeutung zukommt. Daher ist es nicht erstaunlich, daß unter anderem der Präsident des Bundeskartellamtes, Wolfgang Kartte, Otto Schlecht sowie Kurt Biedenkopf für eine ordnungspolitische Neuorientierung des Bankensektors plädieren.

Inwieweit diese und andere, hier nicht darstellbare Reformaufgaben gelöst werden können, hängt vom Gestaltungswillen und der Gestaltungsfähigkeit, vom Reformpotential unseres politischen Systems ab. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit stimmen nicht optimistisch. Die Entwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Rentenversicherung und der seit vielen Jahren auch von den Politikern geforderte, aber nicht realisierte Subventionsabbau sind nur drei von vielen Beispielen. die vermuten lassen, daß mehr als marginale Änderungen erst dann gewagt werden, wenn die Lage bedrohlich und eine Reform unausweichlich geworden ist. Sollte diese Erfahrung auch für die Ordnungspolitik gelten, dann dürfte man erst mit ordnungspolitisch nennenswerten Reformen rechnen, wenn die Unordnung so weit fortgeschritten ist, daß aufgrund weit verbreiteter Unsicherheit Mehrheiten von einer Reform eher Vorteile als Nachteile erwarten Es ist zu hoffen, daß dieser Pessimismus widerlegt wird; denn die in der Bundesrepublik verfolgten fünf gesellschaftspolitischen Grundziele, nämlich persönliche und politische Freiheit, wirtschaftlicher Wohlstand der einzelnen und der Gesellschaft, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. sozialer Friede und Demokratie sind gleichzeitig und in vergleichbarem Umfang durch eine andere Wirtschafts-und Sozialordnung nicht erreichbar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. C. Wallich. Triebkräfte des deutschen Wiederaufstiegs, Frankfurt/M. 1955, S. 1.

  2. G. Stolper, Die deutsche Wirklichkeit. Hamburg 1949, S. 159 f.

  3. O. Schlecht, Die Genesis des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, in: O. Issing (Hrsg.), Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 1981, S. 9 ff.

  4. G. Eisermann/A. Rüstow, Persönlichkeit und Werk, in: Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (Hrsg.). Wirtschaftsordnung und Menschenbild, Köln 1960, S. 151.

  5. A. Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bem—Stuttgart 1974, S. 212 f.

  6. W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Bern-Stuttgart 19795, S. 177.

  7. Ebda., S. 23.

  8. Müller-Armack (Anm. 5), S. 85 u. 90.

  9. Röpke (Anm. 6). S. 166f.

  10. Ebda., S. 189.

  11. Ebda., S. 354.

  12. Ebda., S. 160ff.

  13. A. Rüstow, Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, in: Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (Hrsg.), Was wichtiger ist als Wirtschaft, Ludwigsburg 1960, S. 8.

  14. R. Blum, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 5, Stuttgart u. a. S. 153 ff.

  15. Müller-Armack (Anm. 5).

  16. L. Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957, S. 7.

  17. Vgl. zur Konzeption Blum (Anm. 14); Erhard (Anm. 16); Müller-Armack (Anm. 5); H. Lampert, Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 8. Stuttgart u. a. 1980. S. 705 ff; ders. Die Wirtschafts-und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland. München 19889.

  18. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Statistisches Taschenbuch 1978.

  19. G. Kleinhenz/H. Lampert. Zwei Jahrzehnte Sozialpolitik in der BRD. Eine kritische Analyse, in: Ordo — Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 22. Düsseldorf—München 1971. S. 103ff; H. Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin u. a. 1985, S. 92 ff.

  20. Vgl. Anm. 18, und Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Statistisches Taschenbuch 1987.

  21. Schlecht (Anm. 3), S. 27 ff.

  22. Vgl. zur Kritik E. Hoppmann (Hrsg.), Konzertierte Aktion, Kritische Beiträge zu einem Experiment, Frankfurt/M. 1971; H. O. Lenel, Haben wir noch eine Soziale Marktwirtschaft. in: Ordo. 1971, S. 29 ff; zur Bewertung der Stabilitätspolitik: N. Kloten. Erfolg und Mißerfolg der Stabilisierungspolitik (1969— 1974), in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.). Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876— 1975, Frankfurt/M. 1976, S. 643 ff.

  23. Dazu ausführlicher Lampert (Anm. 19).

  24. Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.), Fundamentalkorrektur statt Symptomtherapie. Von der Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft. Bonn 1978; W. Stützel, Marktpreis und Menschenwürde. Thesen zur Wirtschafts-und Bildungspolitik. Bonn 1981; R. Soltwedel. Mehr Markt am Arbeitsmarkt. München—Wien 1984; K. Weigelt. Die Soziale Marktwirtschaft erneuern, Mainz 1986; H. F. Zacher. Entstehung. Wandel und Fehlentwicklung des Sozialstaats in der Bundesrepublik Deutschland, in: K. Weigelt (Hrsg.). Die Soziale Marktwirtschaft erneuern. Mainz 1986. S. 27 ff.

  25. H. Bonus, Zur Transformation der Marktwirtschaft durch Sozialkomponente und Demokratisierung, in: O. Issing (Hrsg.), Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin 1981, S. 240; W. Hamm. Erfahrungen mit der Mitbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland, Zürich

  26. Vgl. Lenel (Anm. 23); E. Tuchtfeldt. Soziale Marktwirtschaft und Globalsteuerung, in: ders. (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft im Wandel, Freiburg 1973, S. 159ff.

  27. Vgl. Weigelt und Zacher (Anm. 25).

  28. H. Möller, Zur Theorie und Politik der Wirtschaftsordnung, Tübingen 1983, S. 22.

  29. P. Herder-Dorneich. Wirtschaftsordnungen, Berlin 1974. S. 75 f.

  30. Tuchtfeldt (Anm. 27), S. 164 ff.

  31. ) K. Biedenkopf. Ordnungspolitische Probleme der neuen Wirtschaftspolitik, in: Jahrbücher für Sozialwissenschaft. 1968, S. 308 ff.

  32. Vgl. dazu Stützel (Anm. 25), S. 14 f.

  33. H. Lampert, Sozialpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft bei reduziertem Wirtschaftswachstum und Unterbeschäftigung. Anmerkungen zur „Wende“ in der Sozialpolitik. in: R. Blum/M. Steiner (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Marktwirtschaft in gesamt-und einzelwirtschaftlicher Sicht, Berlin 1984, S. 51 ff.

  34. Stützel (Anm. 25), S. 37.

  35. H. -J. Krupp, Perspektiven einer Strukturreform der sozialen Alterssicherung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35/87, S. 3 ff.

  36. H. Lampert, Ordnungs-und verteilungspolitische Aspekte der Familienpolitik, in: Walter-Raymond-Stiftung (Hrsg.), Familie und Arbeitswelt, Köln 1986, S. 173ff.

  37. H. Lampert, Arbeitsmarktpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft, in: O. Issing (Hrsg.). Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 1981. S. 753 ff.

  38. W. Fassing. Konzentration und Soziale Marktwirtschaft, in: O. Issing (Hrsg.). Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 1981. S. 157ff.

  39. G. Kirsch. Ordnungspolitik als Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, in: O. Issing (Hrsg.). Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft, Berlin 1981. S. 255 ff.

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