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Sozialpolitik — Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft? | APuZ 17/1988 | bpb.de

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APuZ 17/1988 Artikel 1 Die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland — Ursprung, Konzeption, Entwicklung und Probleme — Ethik und Soziale Marktwirtschaft Der Staat in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland Sozialpolitik — Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft?

Sozialpolitik — Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft?

Werner Zohlnhöfer

/ 40 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft versteht sich — sehr verkürzt ausgedrückt — als Synthese aus Marktwirtschaft und Sozialpolitik. Dabei besitzt die Marktwirtschaft nicht nur den Vorzug, mit den verfassungsrechtlich verankerten Freiheiten des Individuums kompatibel zu sein. Sie ist bei sachgerechter Rahmensetzung durch den Staat auch durch hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Doch ist sie von sich aus nicht in der Lage. Forderungen sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit zu genügen. Deshalb wird als Ergänzung der Marktsteuerung eine Politik des sozialen Ausgleichs befürwortet. Diese Politik soll sich aber nur solcher Maßnahmen bedienen, die den Funktionsbedingungen der Markt-steuerung Rechnung tragen (Postulat der Markt-oder Systemkonformität), um nachteilige Rückwirkungen auf die Leistungsfähigkeit der Wettbewerbswirtschaft zu vermeiden. Im vorliegenden Beitrag wird geprüft, inwieweit die Praxis der Sozialpolitik dem Postulat der Systemkonformität entspricht. Als Schwerpunkte der Analyse werden Teile des Systems der sozialen Sicherheit und sozialpolitisch motivierte Interventionen auf dem Arbeitsmarkt gewählt. Die kritische Durchleuchtung dieser Aktionsfelder der Sozialpolitik kommt zu dem Ergebnis, daß bei der Wahl der Maßnahmen den Wirkungszusammenhängen eines im wesentlichen dezentral gesteuerten Wirtschaftssystems bisher nicht die gebotene Beachtung geschenkt wurde. Als Folgen wird nicht nur eine unzureichende Zielwirksamkeit im Bereich der Sozialpolitik diagnostiziert, sondern auch Unterbeschäftigung und Wachstumsschwäche. Als Therapie werden systemgerecht konzipierte Regelungen vorgeschlagen, von denen man sich eine effiziente Berücksichtigung sozialer Belange verspricht.

I. Einleitung

Die am Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft orientierte Wirtschaftspolitik hat bis in die siebziger Jahre hinein die an sie gerichteten Erwartungen weitgehend erfüllt. So gelang es ihr nicht nur. die stabilitätspolitischen Ziele — Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung — bei kontinuierlichem Wachstum in erheblichem Umfang zu realisieren. Sie konnte auch das System der sozialen Sicherung ausbauen, ohne dessen finanzielle Solidität zu gefährden. Inzwischen fallen zunehmend Schatten auf diese frühe(re) Erfolgsbilanz der Sozialen Marktwirtschaft. Da ist nicht nur die hartnäckige Arbeitslosigkeit größeren Umfangs. Da ist auch der nicht mehr zu leugnende Tatbestand, daß praktisch alle Bereiche sozialpolitisch motivierter Interventionen an Grenzen der Finanzierbarkeit stoßen.

Deshalb drängt sich die Frage auf, ob diese Entwicklungen nicht vielleicht einen Komplex gemeinsamer Ursachen haben. Insbesondere fragt man sich, ob diese Leistungsdefizite gleichsam auf einen Konstruktionsfehler der Sozialen Marktwirtschaft zurückzuführen sind oder auf eine (zunehmende) Diskrepanz zwischen Leitbild und Praxis dieses Wirtschaftssystems beruhen.

Angesichts der verfolgten Fragestellung wird der Begriff Sozialpolitik hier in einem umfassenden Sinne verstanden: Er steht für die Gesamtheit der Maßnahmen, die „sozial motiviert“ sind, das heißt, mit der Begründung ergriffen werden, einen Beitrag zur Verwirklichung sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit (im Sinne von Bedarfsgerechtigkeit) zu leisten.

II. Die soziale Komponente im Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft

1. Die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft Wie bereits die Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft“ nahelegt, versteht sich diese Konzeption als „neuartige Synthese“ im Sinne einer „ordnungspolitischen Idee“, „deren Ziel es ist. auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“ Die vier — hier besonders betonten — Konzepte können als Schlüsselbegriffe für das Verständnis und zur Charakterisierung der Sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftspolitischer Konzeption betrachtet werden: Die Wettbewerbswirtschaft setzt individuelle Freiheit voraus und ist gleichzeitig selbst Voraussetzung für eine wirksame Entfaltung privater Initiative zur Steigerung der gesamtwirt-schaftlichen Leistungsfähigkeit, die ihrerseits wieder eine notwendige Vorbedingung für „sozialen Fortschritt“ darstellt.

Die grundlegende Idee der Sozialen Marktwirtschaft besteht somit darin, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ Damit freilich ist nur eine Zielvorstellung formuliert. Die entscheidende Frage ist die nach den Möglichkeiten einer Realisierung dieser angestrebten Synthese.

Tatsächlich haben die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft von Anfang an ihr besonderes Augenmerk gerade auf diese Frage gerichtet. Gefordert wird eine Steuerung des gesamtwirtschaftlichen Geschehens, die sich der Marktwirtschaft als eines leistungsfähigen Koordinationssystems bedient und sie — nicht zuletzt durch ergänzende Wirtschaftspolitik — auch gezielt in den Dienst sozialer Zielsetzungen stellt. Eine erfolgreiche Verwirklichung des anspruchsvollen Zielbündels bedarf nach dieser Auffassung einer neuartigen Ge-staltung staatlicher Wirtschaftspolitik. Dies gilt zunächst für die Setzung der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen, die für die Entfaltung und Sicherung einer leistungsfähigen Marktwirtschaft von konstitutiver Bedeutung sind (Ordnungspolitik). Es gilt aber auch für die Gestaltung des Instrumentariums staatlicher Wirtschaftspolitik, das zur Ergänzung „der Freiheit auf dem Markte“ im Interesse „des sozialen Ausgleichs“ einzusetzen ist (zum Beispiel im Rahmen der Sozialpolitik oder der Strukturpolitik).

Wie diese Darlegungen bereits implizieren, kommt der Marktwirtschaft „als staatlicher Veranstaltung“ (L. Miksch) die Funktion eines wirtschaftlichen Fundaments der Sozialen Marktwirtschaft zu: Nur in dem Maße, wie „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte“ materiellen Wohlstand schafft, kann auch eine Politik „des sozialen Ausgleichs“ erfolgswirksam betrieben werden. Gleichzeitig anerkennt die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft aber auch, daß die Marktsteuerung Forderungen sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit unmittelbar nicht Rechnung zu tragen vermag und daher der Ergänzung bedarf. Doch ist nach dieser Auffassung die Marktsteuerung im Interesse eines sozialen Ausgleichs eben nicht nur ergänzungsbedürftig, sondern grundsätzlich auch ergänzungsfähig, ohne ihre besonderen Vorzüge einzubüßen. Voraussetzung dafür ist freilich, daß solche Maßnahmen ergänzender staatlicher Wirtschaftspolitik dem Kriterium der Marktkonformität genügen, das heißt, „den sozialen Zweck sichern, ohne störend in die Marktapparatur einzugreifen“ 2. Zum Verhältnis von Marktwirtschaft und Sozialpolitik Dabei soll über die Notwendigkeit ergänzender Wirtschafts-und Sozialpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip entschieden werden: Nur soweit dezentrale Entscheidungsträger (wie besonders die Haushalte und Unternehmen) ein Problem nicht mehr zu bewältigen vermögen, sollen übergeordnete Instanzen im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe eingreifen. Die Betonung des Subsidiaritätsprinzips macht deutlich, daß zunächst und vor allem das einzelne Mitglied der Wirtscbaftsgesellschaft gefordert ist: Jedes Individuum hat nicht nur das Recht auf freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes, es hat auch die Pflicht, grundsätzlich selbst für sein wirtschaftliches Wohlergehen zu sorgen. Es hat nicht nur das Recht, seine privaten Zwecke zur Richtschnur seines Handelns zu machen, es ist primär auch selbst für die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz verantwortlich. Deshalb ist in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nicht der Versorgungsstaat angelegt, in dem individuelle Initiative und Eigenvorsorge durch staatliche Fürsorge ersetzt werden, sondern eine Gesellschaft freier Bürger, die auch zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz zunächst und vor allem eigenverantwortlich handeln.

Für die Leitbildvorstellung der Sozialen Marktwirtschaft bedeutet dies: Das vielzitierte Ziel „Wohlstand für alle“ (L. Erhard) soll nicht in erster Linie durch Umverteilung realisiert werden, sondern durch eine aktive und produktive Teilnahme möglichst vieler am Prozeß der wirtschaftlichen Leistungserstellung. Nur in Fällen, in denen der einzelne aufgrund seiner Lebenssituation oder aus anderen Gründen, die er nicht zu vertreten hat. kein (ausreichendes) Einkommen zu erzielen vermag, soll eine Politik des sozialen Ausgleichs Platz greifen. Deshalb sollen Maßnahmen des sozialen Ausgleichs Markteinkommen, wo immer dies möglich ist, nicht (völlig) ersetzen, sondern ergänzen und als Hilfe zur Selbsthilfe gestaltet werden. So soll der einzelne möglichst dazu gebracht werden, für die Zeiten ohne Arbeitseinkommen selbst Vorkehrungen zu treffen; dabei ist staatlicher Zwang auf das unabdingbare Maß zu beschränken und dem einzelnen Bürger Wahlfreiheit zwischen Alternativen zu belassen, weil nur so individuelle Präferenzen Berücksichtigung finden können.

Diese Implikationen des Subsidiaritätsprinzips im Lichte der verfassungsrechtlich verankerten wirtschaftlichen Freiheit des Individuums unterstreichen einmal mehr das Primat der liberalen, marktwirtschaftlichen Komponente. Es resultiert allein schon daraus, daß sozialer Ausgleich die Erstellung wirtschaftlicher Leistungen voraussetzt, weil nur das verteilt werden kann, was an Gütern und Dienstleistungen produziert wird. Insofern ist eine leistungsfähige Marktwirtschaft die realökonomische Grundlage für jede Politik des sozialen Ausgleichs. Gleichzeitig kommt der marktwirtschaftlichen Komponente im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft aber auch dadurch eine prädominante Funktion zu. daß sie den Bedarf an sozialem Ausgleich wesentlich mitbestimmt: Je leistungsfähiger die Marktwirtschaft ist, desto geringer ist grundsätzlich der Bedarf an Sozialpolitik. Wenn es gelingt, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum zu verwirklichen, so entlastet dies das System der sozialen Sicherung nicht nur durch steigende Einnahmen, sondern auch durch sinkende Ausgaben. Mit Recht wird wieder darauf hingewiesen, daß allein die hohe Effizienz und die daraus resultierende höchsten Ansprüchen genügende Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen eine „soziale Leistung“ ersten Ranges darstellt. Insoweit ist die immer wieder zu hörende Feststel-lung, die beste Sozialpolitik sei eine zielwirksame Wirtschaftspolitik, durchaus zutreffend: Eine Politik des sozialen Ausgleichs wird dadurch zwar nicht überflüssig, aber doch erheblich entlastet. 3. Systemkonformität als Gestaltungsprinzip und Beurteilungsnonn Wenn die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft nicht müde werden, diese Zusammenhänge herauszustellen, so hat dies auch noch einen weiteren Grund: Gemeint ist die Befürchtung, daß die grundsätzlich befürwortete Politik des sozialen Ausgleichs zum Einfallstor eines Interventionismus werden könnte, der die Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems erheblich beeinträchtigt.

Um dieser Gefahr vorzubeugen, soll nach der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft (staatliche) Wirtschaftslenkung marktkonform gestaltet werden. Wie bereits erwähnt, bedeutet dies: Eingriffe zur Steuerung des wirtschaftlichen Geschehens sind so zu gestalten, daß sie den Funktionsbedingungen der Marktsteuerung Rechnung tragen, das heißt, einzelwirtschaftliches Verhalten so beeinflussen, daß unter Berücksichtigung der betroffenen Interessen und der ein Marktsystem kennzeichnenden Wirkungszusammenhänge die verfolgte(n) Zielset-zung(en) erreicht werden. Dabei ist besonders zu beachten, daß individuelles Verhalten durch Interventionen nicht festgelegt, sondern nur bestimmten Beschränkungen unterworfen wird und daher Entscheidungsspielräume verbleiben, die zu (unerwünschten) Ausweichreaktionen genutzt werden, wenn anders ökonomische Belange der betroffenen Entscheidungsträger nicht realisiert werden können.

Da die grundlegende Aufgabe jeder Wirtschaftspolitik in einer freien Gesellschaft darin besteht, einzelwirtschaftliche Interessen im Sinne gesamtwirtschaftlicher Ziele zu koordinieren, deckt sich das Kriterium der Marktkonformität mit dem der Ziel-konformität. sofern unerwünschte Nebenwirkungen vermieden werden. Interventionen, die den Funktionsbedingungen und den Wirkungsmechanismen einer dezentralen Steuerung der mikroökonomischen Beziehungen Rechnung tragen und daher geeignet sind, das angestrebte Ziel(bündel) zu erreichen, ohne andere Ziele zu verletzen, sollen im folgenden daher kurz als systemkonform oder systemgerecht bezeichnet werden. „Nur eine Sozialpolitik, die sich zur Durchsetzung ihrer sozialen Ziele im Prinzip auf das Instrument offener Direkt-transfers (an Haushalte!) konzentriert, ist mit einer Marktwirtschaft systemkonform. Bei allen anderen Verfahren . . . sind zumindest die sozialen Kosten größer als der soziale Nutzen . . ,“

Als systeminkonform sind entsprechend vor allem Interventionen zu betrachten, die Preise als Indikatoren relativer Knappheiten verfälschen und/oder den Preismechanismus der Fähigkeit berauben, auf den einzelnen Märkten — vermittelt durch freie Preisbildung — Angebot und Nachfrage tendenziell zum Ausgleich zu bringen. Hierzu gehören alle Eingriffe in Form von preis-und/oder mengenpolitischen Festlegungen: Sie beschränken die Flexibilität der Preisbildung oder die Reagibilität von Angebot und Nachfrage und bewirken durch die Setzung falscher Steuerungsimpulse eine Irreführung des einzelwirtschaftlichen Anpassungsverhaltens. Systeminkonforme Interventionen erweisen sich daher regelmäßig nicht nur als wenig zielwirksam; sie tragen — aufgrund der durch sie bedingten Fehlentwicklungen — stets auch den Keim für weitere Eingriffe in sich, ja sie bewirken eine regelrechte Interventionsspirale, wenn der systemwidrige Eingriff als Auslöser einer solchen Entwicklung nicht zurückgenommen wird. So kommt es letztlich zu einer erheblichen Fehlleitung knapper Ressourcen, zumal die wirklich Bedürftigen meist am wenigsten begünstigt werden, wenn sie per Saldo nicht sogar stärker belastet als entlastet werden — eine Frage, die vor allem bei einer durch allgemeine Abgaben finanzierter Umverteilungspolitik oft kaum stichhaltig zu beantworten ist.

Die folgende Untersuchung wichtiger Aktionsfelder der Sozialpolitik soll Aufschluß darüber geben, inwieweit die im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft verfolgte Politik des sozialen Ausgleichs dem Postulat systemkonformer Gestaltung entspricht. Dabei sollen zunächst die zwei wichtigsten Bestandteile des Systems der sozialen Sicherheit, nämlich die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV). zur Sprache kommen. Anschließend sollen dann sozialpolitisch motivierte Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt (Lohnnivellierung. Arbeitnehmerschutz und Arbeitszeitverkürzung) ordnungspolitisch beleuchtet werden.

III. Schwerpunkte der Politik des sozialen Ausgleichs in der Praxis der Sozialen Marktwirtschaft

1. Grundzüge des Systems der sozialen Sicherung Die Anfänge des heute existierenden Systems der sozialen Sicherung gehen bekanntlich auf die Ära Bismarck zurück. Die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen Pflichtversicherungen (Kranken-und Rentenversicherung) wurden in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts um die Arbeitslosenversicherung ergänzt und bilden mit dieser Ergänzung bis heute (nicht nur) in der Bundesrepublik Deutschland die Grundpfeiler des Systems der sozialen Sicherung (vor allem) für Arbeiter und Angestellte. Sie haben also nicht nur politische Zäsuren größten Ausmaßes überdauert, sie sind auch in mannigfacher Weise weiterentwikkelt und ausgebaut worden

Gemeinsam ist allen drei Sparten bis heute die gesetzlich festgelegte Zwangsmitgliedschaft: Die in Frage stehenden Arbeitnehmer müssen die Mitgliedschaft in diesen Versicherungen erwerben, sofern ihr Einkommen nicht bestimmte Höhen überschreitet. Diese Regelung stellt für die Betroffenen eine massive Einschränkung des Rechts auf freie Einkommensverwendung dar. Begründet wird dieser Eingriff damit, daß mit der gebotenen wirtschaftlichen Vorsorge für die in Frage stehenden Lebenssituationen (Krankheit. Invalidität. Alter. Arbeitslosigkeit) nicht allgemein und zuverlässig zu rechnen ist. wenn sie der freien Entscheidung des einzelnen überlassen bleibt. Da es aufgrund des von E. von Böhm-Bawerk so genannten „Gesetzes der Minderschätzung künftiger Bedürfnisse“ zu erheblichen Versorgungslücken und damit zur Belastung Dritter bzw.der Gesamtgesellschaft kommt, wird die Einführung einer diesbezüglichen Versicherungspflicht nicht nur als gerechtfertigt, sondern als geboten betrachtet.

Die so begründete Notwendigkeit einer begrenzten Versicherungspflicht findet weithin Zustimmung. Dieser gesellschaftliche Konsens beschränkt sich jedoch aufden Grundsatz der Versicherungspflicht. Zur konkreten Ausgestaltung der verschiedenen Pflichtversicherungen gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Fragen dieser Art zogen in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit auf sich, ja sie sind inzwischen zu Schwerpunkten der politischen und der wissenschaftlichen Diskussion geworden. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen. daß zunehmend Konstruktionsfehler virulent werden, die die weitere Finanzierbarkeit bislang praktizierter Sozialversicherungen gefährden und Reformen unaufschiebbar machen. Äuslöser dieser Entwicklungen sind einerseits die bekannten demographischen Veränderungen, andererseits die hartnäckige Arbeitslosigkeit erheblichen Ausmaßes und die forcierte Arbeitszeitverkürzung. Besonders betroffen sind die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV). Dies verdeutlicht bereits die folgende elementare Analyse. 2. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) Alle Arbeiter und Angestellten, deren Bruttoeinkommen eine bestimmte (dynamisierte) Höhe nicht überschreiten, sind gesetzlich verpflichtet, der GKV beizutreten. Dabei haben nur Angestellte die Wahl zwischen der AOK und einer Reihe von Ersatzkassen.deren Angebote durchaus Unterschiede sowohl in der Prämienhöhe als auch im Leistungsangebot aufweisen. Doch stehen solche Wahlmöglichkeiten einerseits keineswegs allein Versicherungspflichtigen offen. Andererseits ist allen sich bietenden GKV-Alternativen ein zentrales Merkmal gemeinsam: Die Höhe der qua Quellen-abzug zu entrichtenden Prämien ist in jedem Fall nicht an den zu erwartenden Risiken orientiert (wie in der privaten Krankenkasse), sondern sie ist allein von der Einkommenshöhe des zu Versichernden abhängig: Die Inanspruchnahme von Leistungen erfolgt somit nach (dem zum Beispiel von der Familiengröße abhängigen) Bedarf, die Finanzierung der daraus resultierenden Aufwendungen dagegen nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (gemessen an der Höhe des Arbeitseinkommens) des einzelnen Pflichtversicherten. Der damit intendierte soziale Ausgleich bringt aber, wie mit zunehmendem Gesundheitsbewußtsein immer deutlicher wurde, weitreichende Probleme mit sich.

Da zwischen der Prämie, die der Versicherte zu zahlen hat. und dem Umfang der Leistungen, die er in Anspruch nimmt, unmittelbar kein Zusammenhang besteht, ist die viel zitierte „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ vorprogrammiert. Der Pflichtversicherte hat nämlich keinerlei Anreiz, sich bei der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen Zurückhaltung aufzuerlegen. Das Gegenteil ist zu erwarten: Da sein finanzieller Beitrag — zumindest absolut — mit steigendem Einkommen auch dann wächst, wenn er keine Leistungen in Anspruch nimmt, hat sich verständlicherweise zunehmend die Neigung verbreitet, für den fixen Zwangsbeitrag auch möglichst viel „herauszuholen“.

Die dadurch bedingte Tendenz eines kontinuierlich steigenden Leistungsbedarfs schlägt sich dann zwar früher oder später in steigenden Beiträgen nieder. Da der einzelne Pflichtversicherte jedoch durch eine zurückhaltende Inanspruchnahme des Leistungsangebots allein daran nichts zu ändern vermag, ja der eigentlich Leidtragende der „Beitragsinflation“ ist, wenn die anderen GKV-Mitglieder seinem Beispiel nicht folgen, wird er sich dem Trend anschließen; denn er kann nicht damit rechnen, daß sein Vorbild Schule macht. So sitzt die Versichertengemeinschaft in der sogenannten Rationalitätenfalle Selbst wer die Zusammenhänge durchschaut, vermag dem Dilemma nicht zu entgehen: Er sieht sich im Zweifelsfall geneigt, einer Entwicklung Vorschub zu leisten, die er nicht wollen kann! Folglich belaufen sich die GKV-Beiträge in einigen Kassen heute bereits auf 15 Prozent der Bruttolohnsummen der Versichertengemeinschaft. Angesichts der demographischen Veränderungen, die absehbar sind, ist mit einem weiteren kräftigen Kostenschub zu rechnen — wenn eine wirksame Reform nicht gelingt.

Diese Diagnose macht deutlich, daß das für die GKV konstitutive Konstruktionsprinzip in klarem Widerspruch zu einer wichtigen Bedingung der Funktionsfähigkeit dezentraler Steuerung wirtschaftlicher Prozesse steht: Gemeint ist das Postulat einer weitgehenden Kongruenz von Kompetenz und Verantwortung bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Tatsächlich ist die GKV durch eine weitgehende Verwischung dieser Zusammenhänge gekennzeichnet: Der Pflichtversicherte artikuliert den Bedarf an medizinischen Leistungen, der Arzt konkretisiert ihn und die Kassen bezahlen, verteilen die Kosten auf ihre Mitglieder, aber nicht nach dem Verursacherprinzip, sondern nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Damit sind nicht nur falsche Anreize gesetzt, es fehlt auch an wirksamen Leistungskontrollen. Daraus resultieren die skizzierten Fehlentwicklungen, die damit letztlich auf eine Mißachtung ordnungspolitischer Gestaltungsprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückzuführen sind. Ähnliches gilt auch für eine ganze Reihe weiterer „Bauelemente“ der GKV, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann. Erwähnt sei nur das sogenannte Sachleistungsprinzip und die anteilige Finanzierung der Pflichtbeiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Da diese Regelungen dem einzelnen Versicherten Informationen über die volle Höhe sowohl der Kosten einer (medizinischen) Behandlung als auch der zu entrichtenden Beiträge vorenthalten, verhindern sie die grundsätzlich wünschenswerte Markttransparenz und wirken daher sicherlich nicht eben kostendämpfend. Die davon ausgehenden Auswirkungen dürften jedoch gering sein, solange das Gemeinlastprinzip dominiert und wirksame Anreize für ein kostenbewußtes Nachfrageverhalten ohnedies fehlen.

Nun wird nicht selten die Auffassung vertreten, die Möglichkeiten einer Kostendämpfung im Gesundheitswesen seien ohnedies gering, da die „Kostenexplosion“ vor allem dadurch bedingt sei, daß mit steigendem Wohlstand auch die Ansprüche an die medizinische Versorgung (quantitativ und qualitativ) überproportional (zum Einkommen) wachsen. Diese These überzeugt jedoch nicht. Sicherlich erklärt der wohlstandsbedingte Anstieg des Anspruchsniveaus einen Teil der Kostenexplosion, ein erheblicher Rest aber ist vermutlich Folge der skizzierten Konstruktionsfehler der GKV. Wie hoch die unvermeidbaren Kosten der medizinischen Versorgung in der Wohlstandsgesellschaft sind, stellt sich erst heraus, wenn die Rahmenbedingungen so gestaltet sind, daß auch im Gesundheitswesen Effizienz gewährleistet ist.

Wie könnten Schritte in diese Richtung aussehen? Die skizzierte Diagnose impliziert ziemlich eindeutig die gebotene Therapie. Zunächst sollte — auf eine kurze Formel gebracht — aus der Pflichtversicherung für viele Arbeitnehmer eine Versicherungspflicht für alle werden: Jeder Bürger sollte zwar grundsätzlich verpflichtet werden, sich in einem gewissen Mindestumfang gegen Krankheitsrisiken zu versichern. Er sollte dabei die freie Wahl zwischen verschiedenen Versicherungsuntemehmen und Tarifen besitzen. Dadurch könnte er zwischen Tarifalternativen mit und ohne Möglichkeiten der Selbstbeteiligung und der Beitragsrückerstattung nach eigenen Präferenzen entscheiden.

Dies setzt voraus, daß das Sachleistungs-durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzt wird und der vom einzelnen zu zahlende Beitrag nicht mehr nach der Höhe seines Einkommens, sondern nach den ihn als Versicherungsnehmer kennzeichnenden Risikofaktoren bestimmt wird.

Daraus resultiert freilich auch ein Problem: Versicherungsnehmer mit geringem Einkommen werden (zum Beispiel aufgrund ihres Gesundheitszustandes oder der Familiengröße) möglicherweise in einem solchen System mit spürbar höheren Beiträgen konfrontiert. die vielleicht auch ihre Zahlungsfähigkeit übersteigen. Deshalb müßte in Härtefällen dieser Art mit direkten Transfers (nach dem Muster des Wohngelds) gezielt und wirksam geholfen werden.

Wenn sich die bisherigen Versuche einer Kosten-dämpfung im Gesundheitswesen als wenig wirksam erwiesen haben, so liegt dies vor allem daran, daß das zentrale Konstruktionsprinzip im wesentlichen unangetastet blieb. Entsprechend erschöpften sich Korrekturen bislang weitgehend in einem Kurieren der Symptome, was sich zumindest teilweise geradezu als kontraproduktiv erwies. So bewirkte die Einführung der Rezeptgebühr weniger eine Dämpfung der Nachfrage nach Medikamenten als vielmehr eine spürbare Tendenz zum Kauf von Groß-packungen.

Schon ein kurzer Blick auf die gegenwärtig geplanten Änderungen der GKV-Regelungen zeigt, daß auch hier von einer Reform kaum gesprochen werden kann Zwar sind erste zaghafte Schritte in die richtige Richtung vorgesehen. So soll zum Beispiel in Modellversuchen die Wirksamkeit von Tarifen mit Möglichkeiten einer begrenzten Beitragsrückgewähr erprobt werden. Da Vorsorgemaßnahmen aber nicht angerechnet werden sollen, ist mit einem Anstieg dieser Art von medizinischen Leistungen zu rechnen, so daß die zu erwartenden Spareffekte wenig überzeugend ausfallen dürften. Im übrigen erschöpft sich die geplante Novelle weitgehend in Maßnahmen zur Leistungsbegrenzung durch administrative Festlegungen. Als Schritt in die definitiv falsche Richtung ist der vorgesehene Abbau von Unterschieden im Mitgliedschafts-. Beitrags-und Leistungsrecht zwischen Gesetzlichen und Ersatz-kassen zu betrachten. Ähnlich ist der geplante landes-oder sogar bundesweite Finanzausgleich bei einzelnen Kassenarten zu beurteilen. In beiden Fällen nämlich werden die ohnedies nur wenig ausgeprägten Wettbewerbselemente des Systems der GKV weiter eingeschränkt und damit ansatzweise vorhandene Anreize — zur Sparsamkeit in Verwaltung oder zur Verbesserung des Preis-Leistungsverhältnisses — weiter geschwächt. So ist auch in dieser „Reform“ die nächste Drehung der Interventionsspirale bereits vorprogrammiert. 3. Die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV)

Die GRV ist im Gegensatz zur GKV grundsätzlich nicht unmittelbar auf „sozialen Ausgleich“ angelegt: Sie basiert vielmehrzumindest insoweit grundsätzlich auf dem Äquivalenzprinzip, als die Höhe der Rente nach Dauer und Höhe der Beitragsleistungen bestimmt wird. Seit 1957 ist die GRV als sogenannter Generationenvertrag konzipiert: Entsprechend werden die Renten — finanztechnisch gesprochen — nicht aus einem Kapitalstock finanziert, der durch (die während des Arbeitslebens entrichteten) Beiträge der späteren Rentenbezieher gebildet wird, sondern qua Umlageverfahren: Aus den in einer Periode eingehenden Beiträgen (der im Arbeitsleben stehenden Generation) werden die in derselben Periode fälligen Renten bezahlt. Die zahlende Generation erwirkt somit — zumindest politisch und moralisch — den Anspruch auf eine Altersrente, die sich nach Dauer und Höhe der Beitragszahlungen bemißt. Die Pflichtbeiträge ihrerseits sind in ihrer Höhe (bis zu einer flexibilisierten Höchstgrenze) von der Höhe der Einkommen der Versicherungsnehmer abhängig.

Gleichzeitig sah die Reform des Jahres 1957 eine sogenannte Dynamisierung der Altersrente vor: Auch die Rentner sollten am wachsenden Wohlstand teilhaben. Deshalb wurden grundsätzlich jährliche Erhöhungen der Renten beschlossen, und zwar zunächst in dem Umfang, in welchem das durchschnittliche Nettoeinkommen der versicherungspflichtigen Arbeitnehmer stieg. Damit wurde ein — wie sich noch zeigen sollte — sehr virulentes Element des sozialen Ausgleichs in das GRV-System eingebaut: Da die Rentenerhöhungen sich am Zuwachs nicht der Netto-, sondern der Bruttobezüge orientieren und nur sehr begrenzt der Einkommensteuer unterliegen sollten, führte diese Regelung dazu, daß die Rentnergeneration — gemessen am verfügbaren Einkommen — am wirtschaftlichen Wachstum stärker partizipierte als die diese Zuwächse erarbeitende Generation.

Dieser äußerst großzügige soziale Ausgleich setzt ein entsprechend dynamisiertes Mittelaufkommen voraus. Damit aber machte diese einschneidende Rentenreform die Finanzierbarkeit der GRV gegenüber Störungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anfälliger. Weitere (zum Teil nur temporäre) gesetzliche Modifikationen der Zugangsbedingungen und Anspruchsgrundlagen taten ein übriges. um diese Störanfälligkeit zu erhöhen, ja die GRV den Grenzen ihrer Finanzierbarkeit näher zu bringen. Gemeint sind vor allem recht generös bemessene Regelungen über die Anrechenbarkeit von sogenannten Ausfallzeiten (für Ausbildung. Bundeswehr, Arbeitslosigkeit und Kindererziehung, um nur die wichtigsten zu nennen) sowie über eine unter bestimmten Bedingungen vorgesehene Aufbesserung der Altersrente (sogenannte Rente nach Mindesteinkommen). Die dadurch bedingten Belastungen brachten die GRV bereits in den letzten Jahren zunehmend in Zahlungsschwierigkeiten, noch ehe sich die absehbaren Veränderungen im Altersaufbau auf das Budget der GRV auswirkten. Die durch die hartnäckige Arbeitslosigkeit bedingten Beitragsausfälle genügten, um die Brüchigkeit der finanziellen Basis der GRV manifest zu machen. Symptomatisch ist, daß seit einiger Zeit praktisch jährlich ein Rentensanierungsgesetz erforderlich ist

Handelt es sich bei diesen Sanierungsaktionen im wesentlichen um marginale Modifikationen der Einnahmen-und Ausgabenströme, so macht der seit Mitte der sechziger Jahre beobachtbare Geburtenrückgang und die gleichzeitige Erhöhung der Lebenserwartung Regelungen erforderlich, die erhebliche Anpassungslasten mit sich bringen. Zu entscheiden bleibt freilich, wer sie in welchem Ausmaß zu tragen hat.

Nach der heute absehbaren demographischen Entwicklung ist zu erwarten, daß in etwa von der Jahrtausendwende an das Verhältnis zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der Rentenberechtigten zunehmend ungünstiger wird Kamen im Jahre 1985 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter noch 37 Personen mit über 60 Jahren, so werden es im Jahre 2025 voraussichtlich 70 sein, das heißt, der sogenannte Altersquotient wird sich fast verdoppeln. Selbst wenn sich die „Nettoreproduktionsrate der Bevölkerung“ etwas erhöhen würde, ist zu erwarten, daß in der Dekade zwischen 2030 und 2040 der Altersquotient auf über 80 steigt. Noch dramatischer verändert sich voraussichtlich und auf der Basis des geltenden Rechts das Verhältnis zwischen der Zahl der (Pflicht-) Versicherten und der Zahl der Rentner: Kamen auf 1 000 Beitragszahler im Jahre 1986 noch 328 Rentner, so werden es im Jahre 2030 vermutlich 826 sein.

Die Auswirkungen, die aus dieser Entwicklung auf der Basis des geltenden Systems für die (künftigen) Mitglieder der GRV resultieren, lassen sich prognostizieren: Das System wäre unter den genannten Bedingungen nur zu finanzieren, wenn — um die beiden Extremfälle zu quantifizieren — entweder die Beiträge (von derzeit 18, 7 Prozent auf etwa 37 Prozent) annähernd verdoppelt oder die Renten im Niveau (im Vergleich zum Nettoeinkommensniveau der erwerbstätigen Versicherten von heute knapp 72 Prozent) etwa halbiert würden. Dabei liegt diesen Werten noch ein relativ günstiges Szenario zugrunde: Unterstellt man eine weniger positive wirtschaftliche Entwicklung, wird der erforderliche Beitragssatz sogar auf 42 Prozent veranschlagt. Da man davon ausgehen muß, daß — schon aufgrund des zunehmenden Anteils älterer Personen an der Gesamtbevölkerung — auch die Beiträge für die GKV steigen und die Lohnsteuersätze nicht sinken werden, wird geschätzt, daß die Gesamtbelastung der Arbeitseinkommen (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) für einen durchschnittlichen Lohnempfänger von gegenwärtig gut 50 Prozent auf fast 70 Prozent im Jahre 2030 (bei ungünstiger gesamtwirtschaftlicher Entwicklung sogar auf über 80 Prozent!) wachsen wird

Angesichts der relativ gesicherten Grundlagen dieser Prognosen, sind zumindest die Größenordnungen der auf die GRV zukommenden Problematik ernst zu nehmen; die von noch nicht absehbaren Entwicklungen bedingte Schwankungsbreite der genannten Indikatoren um einige Prozentpunkte kann deshalb praktisch vernachlässigt werden: Die in der GRV seit 1957 angelegte Logik der Umverteilung von Einkommen zugunsten der Rentnergeneration ist unter den sich abzeichnenden Verschiebungen der Altersstruktur nicht mehr finanzierbar und führt sich so selbst ad absurdum. Damit aber ist folgenreicher Entscheidungsbedarf angezeigt: Da die GRV in ihrer Existenz bedroht ist, sind die erforderlichen Korrekturen mit bloß kosmetischen Eingriffen nicht mehr zu bewerkstelligen. Die — bislang vorwiegend akademisch-wissenschaftliche — Diskussion über Reformkonzepte ist inzwischen voll im Gange. Sie kann hier nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr soll hier versucht werden. anhand einiger zentraler Fragestellungen aufzuzeigen, welche Grundsätze für eine Reform der GRV im Sinne der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft maßgeblich sein sollten.

Prinzipiell ist — wie im Fall der GKV — auch hier von der Notwendigkeit einer Versicherungspflicht auszugehen. Aufgrund der langen Fristen, um die es in der Altersvorsorge geht, sowie der damit verbundenen Risiken (nicht zuletzt auch politischer Art) einerseits und dem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung andererseits ist auch die Schaffung bzw. Aufrechterhaltung einer gesetzlichen Pflichtversicherung vertretbar. Da diesen Risiken jeder ausgesetzt ist, sollten prinzipiell auch alle Bürger zur Mitgliedschaft in einer solchen GRV gesetzlich verpflichtet werden. Doch sollte dadurch die Eigenverantwortlichkeit so wenig wie möglich entmutigt und für Eigenvorsorge möglichst viel Spielraum belassen werden. Die für alle obligatorische Rentenversicherung sollte sich daher auf eine Grundsicherung beschränken, die — bei „nor-maler" Dauer der Beitragszahlung — für die „dritte Lebensphase“ in jedem Fall ein Mindesteinkommen in Höhe des kulturellen Existenzminimums gewährleistet. Freiwillige Höherversicherung sollte möglich sein.

Doch sollte jede über die Pflichtversicherung hinausgehende Vorsorge für das Alter der Eigenverantwortung des einzelnen überlassen bleiben. Jeder könnte dann nach seinen persönlichen Präferenzen entscheiden, inwieweit er für ein über die obligatorische Mindestsicherung hinausgehendes Einkommen im Alter bereit ist, während seines Erwerbslebens den — als Preis zu betrachtenden — Verzicht auf an sich möglichen Konsum zu leisten. Aber nicht nur den Umfang, auch die Form der Zusatz-vorsorge könnte jeder einzelne frei wählen: Vor allem könnte er durch den Erwerb von Immobilien und/oder Wertpapieren einen Kapitalstock ansammeln, den er je nach Bedarf im Alter liquidieren, aber auch seinen Nachkommen vererben kann. Gleichzeitig könnte eine Altersvorsorge dieser Art einen wesentlichen Beitrag zur Deckung des volkswirtschaftlichen Kapitalbedarfs leisten.

Die Finanzierung eines solchen Systems der GRV als Grundsicherung kann — wie die bestehende GRV — nach dem Umlageverfahren finanziert werden. Grundlage der Beitragsbemessung kann jedoch nicht mehr das (Arbeits-) Einkommen sein. Vielmehr ist von einer einheitlichen Beitragshöhe für alle auszugehen. Für eine Hinterbliebenenversorgung müßten angemessene Zusatzbeiträge entrichtet werden. Für Bürger, die dazu nicht in der Lage sind, sollten aus allgemeinen Steuermitteln entsprechende Transfers an den Versicherungsträger abgeführt werden. Mit dem Grundsatz der Beitragsäquivalenz vereinbar wäre aber auch eine Variation der Beiträge in Abhängigkeit vom Eintrittsalter: Je später der Eintritt erfolgt, um so höher wären die Monatsbeiträge zu bemessen, um sicherzustellen, daß der Anspruch auf die angestrebte Mindestsicherung für das Alter (zum Beispiel für Studierende, die relativ spät ins Arbeitsleben eintreten) auch erworben werden kann. Entsprechend sollte es — zumindest in Grenzen — dem einzelnen überlassen bleiben, wann er seine Altersrente in Anspruch nimmt.

Diese Flexibilisierung des Rentenalters sollte sich in Form angemessener Zuschläge bzw. Abzüge — aber auch in der Rentenhöhe niederschlagen. Da der Rentenanspruch auf Beitragszahlungen beruht, sollten andere Einkünfte keinen Einfluß auf die Rente haben.

Betrachtet man diese Leitbildvorstellung als Maßstab, so zeigt sich, daß die bislang vorgelegten Reformkonzepte — bei allen zum Teil grundlegenden Unterschieden — immerhin nicht nur in einigen. nicht unwesentlichen Postulaten zumindest tendenziell übereinstimmen, sondern auch mit dem skizzierten Modell kompatibel sind. So besteht — was angesichts der schon genannten Prognosen zwar nicht verwunderlich, aber doch bemerkenswert ist — weithin Konsens darüber, daß die in den GRV angelegte Umverteilung zumindest im Ausmaß reduziert und das Beitragsäquivalenzprinzip (wieder) konsequenter realisiert werden muß. Entsprechend wird auch allenthalben gefordert, daß sogenannte versicherungsfremde Leistungen (wie zum Beispiel die Anrechnung der durch Ausbildung bedingten Ausfallzeiten bei der Ermittlung der Rentenhöhe) erheblich zu kürzen oder entsprechende Beiträge (zum Beispiel aus Mitteln der staatlichen Studienförderung) zu entrichten sind.

Weitgehendes Einvernehmen scheint inzwischen auch darüber zu bestehen, daß mit der Einführung einer sogenannten Maschinensteuer zur Rentenfinanzierung wenig gewonnen werden kann Zum einen vermag nämlich der bloße Übergang zu einer anderen Grundlage für die Beitragsbemessung allein nichts daran zu ändern, daß die in der GRV angelegte Umverteilung in absehbarer Zeit nicht mehr zu finanzieren ist. Zum anderen würde das Beitragsäquivalenzprinzip durchbrochen. Schon aus dem zuletzt genannten Grunde findet auch der Vorschlag einer staatlichen Grundversorgung kaum Zuspruch: Eine solche aus allgemeinen Steuermitteln finanzierte „Volksrente“ würde nicht nur Eigenvorsorge entmutigen, sie würde ohne ersichtlichen Grund auch alle Bürger zu Empfängern öffentlicher Transferzahlungen machen. Außerdem wäre diese Art der Alterssicherung dem Zugriff politisch mobilisierbarer Interessen uneingeschränkt ausgesetzt. Angesichts der in Demokratien beobachtbaren Tendenzen der Umverteilung, die ja theoretisch durchaus erklärbar und daher prognostizierbar sind, ist zu erwarten, daß eine derartige staatliche Altersversorgung mit chronischen Finanzierungsproblemen verbunden wäre: Die Grenzen der Finanzierbarkeit einer solchen „Volksrente“ würden vermutlich nicht nur zu einem Dauerthema politischer Auseinandersetzungen, sondern auch zu einem wichtigen Aktionsparameter im Parteienwettbewerb um Wählerstimmen werden.

Die erwähnten Gemeinsamkeiten können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bislang vorgelegten Reformkonzepte (noch) recht verschieden strukturiert sind und die Anpassungslasten sehr unterschiedlich verteilen. Zur Illustration sei auf zwei Vorschläge verwiesen, die auf dem Spektrum publizierter Reformkonzepte an den entgegengesetzten Polen angesiedelt sind. Der Vorschlag des Kronberger Kreises verfolgt als Ziel eine „über Jahrzehnte gestreckte Umformung der Rentenversicherung in eine unverändert im Wege des Umlageverfahrens finanzierte Mindestsicherung, die alle Bürger umfaßt, auf Beiträgen gleichen Umfangs beruht und deren Höhe circa 40 Prozent des durchschnittlichen Nettolohnes ausmacht Diese „Existenzsicherungsrente“ soll auch im Jahre 2030 mit dem heutigen Beitragssatz (von durchschnittlich etwa 19 Prozent) zu finanzieren sein. Die Anpassungslast hat in diesem Vorschlag also weitgehend die (spätere) Rentnergeneration zu tragen. Die angestrebte Alterssicherung entspricht somit weitgehend dem oben skizzierten Modell. Der Vorschlag zielt aber nicht nur auf eine tiefgehende Umstrukturierung des geltenden Systems der GRV ab. er umfaßt auch bereits konkrete Vorstellungen darüber, wie der Übergang vom geltenden zum angestrebten Rentenrecht gestaltet werden könnte.

Demgegenüber tastet der Vorschlag des VDR die Grundstruktur der GRV kaum an. Er will lediglich die voraussehbaren Belastungen der GKV „in ausgewogener Weise“ auf Beitragszahler, Rentner und Staat verteilen. Dies soll durch ein Bündel von Maßnahmen erreicht werden, die im wesentlichen darauf hinauslaufen, die Einkünfte der GRV durch Beiträge und Staatszuschüsse zu erhöhen und die Leistungsansprüche zu beschneiden. Allerdings mutet der VDR den (künftigen) Rentnern lediglich jene Einkommenseinbußen zu, die sich daraus ergeben, daß die jährliche Rentenanpassung nach den Zuwachsraten nicht mehr an der Brutto-, sondern der Nettoeinkommensentwicklung erfolgen soll. Entsprechend geringer fallen die Entlastungen der (künftigen) Beitragszahler aus: Der durchschnittliche Lohnempfänger hätte im Jahre 2030 selbst bei günstiger wirtschaftlicher Entwicklung immerhin mit einer Gesamtbelastung (durch Lohnsteuer und Sozialabgaben einschließlich der Arbeitgeberbeiträge) von 62, 1 Prozent, bei ungünstiger wirtschaftlicher Entwicklung sogar von 72, 5 Prozent zu rechnen.

Schon die Gegenüberstellung dieser nur sehr skizzenhaft umrissenen Konzepte zeigt, wie weit der in der politischen Diskussion sicher gewichtige Vorschlag des VDR von einer systemgerechten Reform entfernt ist. Freilich dürfte er schon deshalb in der vorliegenden Form kaum realisierbar sein, weil die Belastung, die den Lohnempfängern zugemutet wird, zu Ausweichreaktionen (Abwanderung in die Schattenwirtschaft und starke Bevorzugung von Freizeit) führen dürfte, die für die GRV existenzbedrohend werden könnten. Die schon heute überzogene und ökonomisch nicht zu rechtfertigende Umverteilung zugunsten der Rentner wird in jedem Fall einer stärkeren Korrektur bedürfen.

Andererseits ist die vom Kronberger Kreis vorgeschlagene Existenzsicherungsrente vermutlich mit einer zu weitgehenden Korrektur verbunden. Vor allem ist das Konzept des Kronberger Kreises so innovativ, um nicht zu sagen revolutionär, daß es politisch kaum umsetzbar sein dürfte. Deshalb wird der zu suchende Kompromiß wohl zwischen den hier skizzierten „Eckpfeilern“ gefunden werden. Wenn systemgerechte Regelungen eine gute Chance haben, so liegt dies vor allem daran, daß sie besser als konservierende Maßnahmen geeignet sind, die Funktionsfähigkeit der GRV langfristig zu sichern.

Eine Entlastung der Reformzwänge könnte freilich noch von einer Seite kommen, die bisher noch kaum beachtet wurde: Die Verformung der Alters-pyramide könnte durch Einwanderung wenigstens partiell korrigiert werden. Auch wenn damit erhebliche Probleme verbunden sind, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ist nicht zu bestreiten, daß der absehbare Verteilungskonflikt zwischen den Generationen durch Zuwanderung nicht unerheblich entschärft werden könnte. Es ist daher wohl nur eine Frage der Zeit, bis das Thema Einwanderungspolitik zu einem „heißen Eisen“ der politischen Auseinandersetzung wird.

IV. Sozialpolitik auf dem Arbeitsmarkt

Ein bevorzugtes und daher besonders bedeutsames Aktionsfeld sozialpolitisch motivierter Interventionen ist der Arbeitsmarkt. Zwar wird die Zulassung wettbewerbsbeschränkender Marktverbände (bis hin zum bilateralen Monopol) als Träger der Lohn-bildung vor allem damit begründet, daß ein sich selbst überlassener Arbeitsmarkt — nicht zuletzt aufgrund einer anormalen Reaktion des Angebots an Arbeit — zur Ausbeutung der Arbeitnehmer führe. Dies bedeutet jedoch nicht, daß dadurch legitimierte Arbeitnehmervertreter sich darauf beschränken (müssen), durch die Forderung knappheits-und damit marktgerechter Löhne Ausbeutung zu verhindern. Das ist weniger darauf zurückzuführen, daß bei fehlendem Wettbewerb die Marktpreise prinzipiell unbekannt sind, die sich bei wirksamer Konkurrenz ergeben würden; denn durch Versuch und Irrtum ließen sich Annäherungswerte der relevanten Gleichgewichtspreise durchaus finden, da sie ja durch einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage gekennzeichnet sind. Nein, die Neigung der Gewerkschaften, nicht marktgerechte, sondern möglichst hohe Löhne durchzusetzen, resultiert vielmehr vermutlich vor allem aus ihrem Selbstverständnis: Gewerkschaftsführer wollen mehr sein als Vollstrecker einer marktgerechten Preisbildung auf dem Arbeitsmarkt, und dies auch durch Ideologie, Verhalten und Resultate konkret unter Beweis stellen.

Gegengewichte zur Neutralisierung gewerkschaftlicher Macht bei Lohnverhandlungen sollen Arbeitgeberverbände bilden. Sie sind jedoch nicht ohne weiteres in der Lage und motiviert, die Lohnforderungen ihrer Verhandlungspartner auf „Gleichgewichtspreise“ zurückzuführen. Zum einen ist die Waffengleichheit zwar geboten, aber nicht eindeutig definierbar und daher (vermutlich) selten gegeben, zumal deren Determinanten ständigen Veränderungen unterworfen sind. Zum anderen kann es für Arbeitgeber durchaus sinnvoll sein, auch überhöhte Lohnforderungen zu akzeptieren, um des sozialen Friedens willen. Schließlich haben Unternehmen prinzipiell die Möglichkeit, sich an steigende Arbeitskosten (pro Output-Einheit) anzupassen: Sind alle Anbieter eines relevanten Marktes mit einer solchen Entwicklung konfrontiert, werden sie versuchen, diesen Kostenanstieg, soweit er nicht durch Produktivitätsfortschritte kompensierbar ist, in Form höherer Preise im Gleichschritt weiterzugeben. Wenn die Geldpolitik die damit verbundene Lohn-Preis-Spirale im Interesse einer Sicherung der Geldwertstabilität nicht zu finanzieren bereit ist, kommt es zu Arbeitslosigkeit. Dabei sind die Unternehmen zu solchen Anpassungsstrategien gezwungen. um ihre Existenz zu sichern; denn sie vermögen nur solange zu überleben, wie sie — grob gesprochen — Erlöse erwirtschaften, die ihre Kosten decken. So führt der Einsatz von Marktmacht zur Durchsetzung überhöhter Preise auch auf dem Arbeitsmarkt zu dem bekannten Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, das heißt in diesem Fall zu Arbeitslosigkeit. Diese sogenannte Mindestlohnarbeitslosigkeit ist solange nicht zu beseitigen. wie die sie verursachende Lohnbildung nicht zu knappheitsgerechter Lohndifferenzierung zuruckfindet. Sie erweist sich daher als ebenso hartnäckig wie die sie bedingende verteilungspolitische Orientierung der Lohnpolitik und wird daher weiterhin als Zeichen dafür gewertet, daß „Arbeitsplätze immer knapper werden“.

In Wahrheit werden aber nicht Arbeitsplätze knapper. sondern die Fähigkeiten möglicher Arbeitgeber, für bestimmte Arbeitsleistungen die geforderten Mindestlöhne zu zahlen, so daß Unterbeschäftigung entsteht

Damit wird deutlich, daß die Tarifautonomie der Sozialpartner eine offene Flanke der Sozialen Marktwirtschaft darstellt: Sie kann durchaus im Sinne einer Simulation marktgerechter Lohnbildung gehandhabt werden und schafft damit eine der zentralen Voraussetzungen für Vollbeschäftigung. Ein Beispiel dafür ist die Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften in den fünfziger und sechziger Jahren. Sie kann aber auch in den Dienst einer Umverteilungspolitik gestellt werden, die dann zu verbindlichen Mindestlöhnen führt, die auf dem Arbeitsmarkt all jene unerwünschten Entwicklungen in Gang setzen, die bei (partieller) Ausschaltung des Preismechanismus zu erwarten sind, wenn die festgelegten Mindestpreise über den Gleichgewichts-preisen liegen. Diesem Muster entspricht die Lohn-politik der deutschen Gewerkschaften in den siebziger und den frühen achtziger Jahren. 1. Die Politik der Lohnnivellierung Den gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkt gibt es nur als Fiktion. Realiter besteht er aus einem System von regionalen Teilmärkten, die zusätzlich nach Qualifikations-bzw. Tätigkeitsmerkmalen zu unterteilen sind. Entsprechend erfolgt die Lohnbildung differenziert auf diesen Teilmärkten: Die resultierende Lohnstruktur reflektiert daher bei flexiblen Löhnen die relativen Knappheitsverhältnisse auf den verschiedenen Teilmärkten: Übersteigt die Nachfrage nach Arbeitsleistungen einer bestimmten Qualifikation das Angebot, wird es zu Lohnerhöhungen kommen und umgekehrt. Dadurch werden, wie auf anderen Märkten auch, erwünschte Anpassungsreaktionen in Gang gesetzt, wie zum Beispiel die Substitution von Arbeit durch Kapital (auf der Arbeitgeberseite), der Erwerb zusätzlicher Qualifikationen (auf der Arbeitnehmerseite) oder Wanderungsbewegungen (aufbeiden Marktseiten). Deshalb ist es für das Funktionieren des skizzierten Marktausgleichs auch auf dem Arbeitsmarkt entscheidend, daß die relativen Preise auf den verschiedenen Teilmärkten knappheitsgerecht sind bzw. sich Änderungen der relativen Knappheiten flexibel anpassen können. Der erforderliche Differenzierungsbedarf wird somit von den Knappheitsverhältnissen auf den relevanten Teilarbeitsmärkten bestimmt. Konstante, ja sogar (leicht) zunehmende Lohndifferenzierungen können daher sehr wohl „ökonomisch gesehen Nivellierungen sein, wenn den Markterfordernissen entsprechend* viel stärkere Differenzierungen angezeigt. .. wären“

Das bedeutet aber auch, daß eine Lohnpolitik, der diese Lohndifferenzierung ein Dom im Auge ist und die daher eine stärkere Nivellierung der Löhne anstrebt auf den davon betroffenen Teilarbeitsmärkten all jene Entwicklungen auslöst, die mit überhöhten Mindestpreisen verbunden sind: Das Arbeitsangebot überschreitet die Nachfrage und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit löst die bekannte Interventionsspirale aus, wenn die diese Fehlentwicklung auslösenden falschen (relativen) Preise nicht korrigiert werden.

Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist eine Lohnpolitik, die im Namen sozialer Gerechtigkeit für Bezieher niedriger Einkommen relativ größere Lohnzuwächse (als für den Rest der Beschäftigten) durchzusetzen versucht. Dies ist bekanntlich auch ein Anliegen der deutschen Gewerkschaften, dem sie stets besondere Aufmerksamkeit schenkten: Solange die Tariflöhne weithin unter den Marktlöhnen lagen, konnte sich die erforderliche Lohndifferenzierung in den effektiv bezahlten Löhnen (tendenziell) durchsetzen. Seit sich die Lohnpolitik (Ende der sechziger Jahre) aber zunehmend an dem Ziel der Umverteilung orientierte und die Unternehmen (auch von den Absatzmärkten her) unter massiven Kostendruck gerieten, wurde das Defizit an Lohndifferenzierung virulent, zumal es auch in den siebziger Jahren insgesamt eher vergrößert als verringert wurde: Deshalb stellten sich nunmehr auch die zu erwartenden Probleme ein, und die Interventionsspirale wurde in Gang gesetzt.

Die relativ (zu) hohen Löhne für „Leichtlohngruppen“ brachten eine forcierte Substitution von Arbeitsleistungen minderer Qualifikation durch Kapitaleinsatz mit sich. Außerdem wurden — aufgrund des relativ ungünstigen Preis-Leistungsverhältnisses — bei betrieblichen Anpassungsmaßnahmen die in Frage stehenden Arbeitskräfte als erste entlassen und die Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten für gering qualifizierte Arbeitnehmer blieb hinter dem — zunehmenden — Bedarf zurück. So zeigte sich bald, daß die Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Arbeitskräfte weit überproportional anstieg und der größte Teil der (langfristig) Arbeitslosen ohne ausreichende Qualifikation ist 2. Maßnahmen des Arbeitnehmerschutzes Diese voraussehbare Entwicklung löste erwartungsgemäß bald weitere Eingriffe aus. die im ganzen ebenso marktinkonform wie kontraproduktiv waren. Als sich herausstellte, daß staatliche Beschäftigungsprogramme wirkungslos blieben, gab man zunehmend intensiveren Eingriffen zur „Sicherung von Arbeitsplätzen“ den Vorzug. Zu nennen ist hier vor allem der weitgehende Kündigungsschutz: Er gilt zwar generell, schützt aber am meisten diejenigen Inhaber von Arbeitsplätzen, die am stärksten von Entlassung bedroht sind — aber eben zu Lasten Dritter. Deshalb führte der Kündigungsschutz zwar zu einer anderen Selektion der im Falle von Massenentlassungen Betroffenen, zumal diese Auswahlentscheidungen durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte heute weitgehend nicht mehr von der Unternehmensleitung, sondern von Arbeitnehmervertretungen und externen Instanzen (bis hin zum Sozialamt) getroffen werden. Im Ergebnis kam es durch diese und ähnliche Maßnahmen des Arbeitnehmerschutzes zu einer erheblichen Erschwerung. Verzögerung und — nicht zuletzt auch — Verteuerung personalpolitischer Anpassungsmaßnahmen Sichern aber lassen sich Arbeitsplätze auf diese Weise letztendlich nicht. Freilich werden bei Entlassungen dann im Rahmen von sogenannten Sozialplänen Abfindungen von bis zu 18 Monatsgehältern fällig.

Daß diese und andere Maßnahmen, die eine Sicherung von Arbeitsplätzen durch weitreichende Arbeitnehmerschutzrechte anstreben, kontraproduk-tiv sind, liegt auf der Hand: Sie schränken die Anpassungsflexibilität der Unternehmen ein und erschweren gleichzeitig die Investitionsfinanzierung — und das in einer Periode tiefgreifenden Struktur-wandels bei intensivem, internationalem Wettbewerb, in der allein durch erfolgreiche Innovation Arbeitsplätze gesichert und neu geschaffen werden können. Nicht zuletzt aber entmutigt eine Politik, die versucht, Arbeitsplätze durch massive Beschränkungen unternehmerischer Freiheit zu sichern, die Bereitschaft und die Fähigkeit der Arbeitgeber. Neueinstellungen vorzunehmen. Mehr als alle anderen trifft dieser „Bumerangeffekt“ die Problemgruppen des Arbeitsmarktes selbst, die eigentlich geschützt werden sollten. Daraus erklärt sich vermutlich auch die Neigung der Unternehmen. zunehmenden Arbeitskräftebedarf (zunächst) durch Überstunden zu decken; diese nämlich sind (kostenlos) wieder reduzierbar, wenn der Markt dies erforderlich macht, während Neueinstellungen einen Fixkostenblock mit sich bringen, der kaum mehr abbaubar ist, solange dem Unternehmen das Wasser nicht bis zum Halse steht.

Konsequenterweise fordern die Vertreter der hier kritisierten Arbeitsmarktpolitik als nächsten Interventionsschritt ein (weitgehendes) Verbot von Überstunden. Wenn es zu diesem Eingriff bisher noch nicht kam. so liegt dies wohl daran, daß er niemandem nützen würde. Die in Beschäftigung befindlichen Arbeitnehmer würden die von ihnen offenbar durchaus geschätzte Möglichkeit „flexibler“ Arbeitszeiten verlieren. Positive Beschäftigungseffekte wären jedoch auch davon kaum zu erwarten, denn die Unternehmen dürften lieber auf die nur durch Überstunden zu erledigenden Aufträge verzichten als — unter den skizzierten Bedingungen — Neueinstellungen von (gering qualifizierten) Arbeitslosen vorzunehmen. 3. Verkürzung der Wochenarbeitszeit Der Ausschaltung des Preismechanismus folgen regelmäßig ebenso marktinkonforme Eingriffe mengenpolitischer Art. Waren klassische Preiskartelle, soweit sie funktionierten, regelmäßig mit Mengen-, Quoten-oder Gebietskartellen verbunden, so folgte auch in der Agrarpolitik der verbindlichen Festlegung zu hoher Agrarpreise die staatliche Abnahmegarantie. und — wenn diese nicht mehr zu finanzieren ist —, wird die staatlich geförderte Stillegung von Nutzflächen (wie jetzt gerade in den EG!) in Erwägung gezogen. Ganz ähnlich verläuft die Interventionsspirale auf dem Arbeitsmarkt: Nach der Durchsetzung zu hoher Mindestlöhne wurde versucht, die daraus resultierende Freisetzung der zu teuren Arbeitskräfte durch Arbeitsplatzgarantien (qua Kündigungsschutz) zu verhindern. Als dies naturgemäß nicht gelang, waren Interventionen zur künstlichen Verknappung des Arbeitsangebots an der Reihe: Gemeint sind die Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung verschiedener Art und Ausprägung, von denen hier aber nur die Verkürzung der Wochenarbeitszeit aus beschäftigungspolitischer Sicht kurz gewürdigt werden soll.

Diese Politik ist offenbar ganz wesentlich Resultat der Ratlosigkeit der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitsmarktproblemen, die sie weitgehend selbst (mit) geschaffen haben. Nachdem sich Lohnerhöhungen bei hoher Arbeitslosigkeit nur noch schwer durchsetzen ließen, verfiel man auf die — schon in den zwanziger Jahren favorisierte — Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die sich beschäftigungspolitisch besser „verkaufen“ läßt. Da die Arbeitnehmer aber weniger an Arbeitszeitverkürzung interessiert sind als an Einkommensverbesserungen, fordert man gleichzeitig (mindestens) den vollen Lohnausgleich!

Substantiell ist diese Politik der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich im wesentlichen eine Fortsetzung der seit den siebziger Jahren praktizierten marktinkonformen Lohnpolitik mit anderen Mitteln. Daß damit keine neuen Arbeitsplätze zu schaffen sind, hat sich inzwischen weitgehend herumgesprochen. Aber auch die davon ausgehende „Umverteilung der Arbeit“ zugunsten Arbeitsloserdürfte kaum ins Gewicht fallen, zumal die negativen Beschäftigungseffekte, wie gleich darzulegen sein wird, vermutlich überwiegen.

Letztlich dürfte diese „qualitative Tarifpolitik“ die Beschäftigungschancen besonders gering qualifizierter Arbeitskräfte sogar weiter reduzieren. Dafür sprechen mindestens zwei Überlegungen. Zum einen erschweren Arbeitszeitverkürzungen, die im Grunde von den zu Begünstigenden — vorsichtig ausgedrückt — weit weniger geschätzt werden als Lohnerhöhungen, Tarifabschlüsse, die den Produktivitätsfortschritt nicht voll ausschöpfen und damit zu einer Reallohndifferenzierung nach unten führen könnten, die zur Verbesserung der Beschäftigungschancen der sogenannten Problemgruppen des Arbeitsmarktes dringend geboten erscheint. Zum anderen dürfte die — formal betrachtet — globale Arbeitszeitverkürzung (für die Arbeitnehmer eines Unternehmens oder einer Branche) eine gewisse Umverteilung der Arbeitszeit zwischen den Inhabern von Arbeitsplätzen mit verschiedenem Qualifikationsniveau bewirken, die realiter eine Lohnnivellierung begünstigt.

Dies ist deshalb zu erwarten, weil die Unternehmen nicht umhin können, auf diese globale Vorgabe differenziert zu reagieren: Minderqualifizierte kommen wohl noch am ehesten in den Genuß verkürzter Wochenarbeitszeit; Mehrbedarf wird jedoch — zumindest in erheblichem Umfang — durch Rationalisierung gedeckt. Bei Facharbeitskräften kommt es dagegen — von strukturschwachen Branchen und existenzgefährdeten Unternehmen abgesehen — per Saldo wohl kaum zu der vorgesehenen Verkürzung der Wochenarbeitszeit; denn Mehrbedarf wird zunächst — aus den bereits skizzierten Gründen — durch Überstunden gedeckt, so daß sich die auf dem Papier stehende Arbeitszeitverkür-zung weitgehend in einer zusätzlichen Lohnerhöhung (für Überstunden) niederschlägt, die vermutlich die hohe Grenzbelastung der Lohnzuwächse (mit Lohnsteuer und Sozialabgaben) kompensiert. Im besten Falle kommt es daher zu einer gewissen Umverteilung des künstlich geschaffenen Mangels an Arbeit zu Lasten unzureichend qualifizierter Arbeitsloser. Dabei wurde bisher unterstellt, daß die Höhe des Arbeitseinkommens tatsächlich als Produkt aus Stundenlohn und Arbeitszeit resultiert. Davon kann aber zumindest bei Führungskräften nicht ausgegangen werden. Deshalb ist auch zu erwarten, daß die Verkürzung der Wochenarbeitszeit materiell zu einer Umverteilung von Arbeitsleistungen zu Lasten jener Arbeitnehmer führt, die nicht nach Zeit, sondern für die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben honoriert werden; diese nämlich können nicht nur ihre eigene Arbeitszeit nicht (ohne weiteres) reduzieren, sondern müssen zumindest in gewissem Umfang auch jene Hilfstätigkeiten zusätzlich übernehmen, die von Mitarbeitern nicht mehr erledigt werden, die zunehmend früher ihren Schreibtisch räumen. Realiter führt dies tendenziell zunächst zu einer Einkommensnivellierung zwischen den genannten Gruppen von Beschäftigten; mittelfristig ist jedoch eher eine Arbeitszeitnivellierung zu erwarten, wenn nicht die erforderliche Einkommensdifferenzierung durch entsprechende Gehaltserhöhungen wiederhergestellt wird und/oder die Hilfs-und Routinetätigkeit arbeitssparend rationalisiert wird. In keinem Fall dürfte es zu der erforderlichen Korrektur der Lohnnivellierung nach unten kommen, so daß auch aus dieser Sicht mit einer nennenswerten Mehrbeschäftigung von gering qualifizierten Arbeitslosen kaum zu rechnen ist.

Deshalb ist auch der von O. Lafontaine gemachte Vorschlag kaum geeignet, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich ist zwar grundsätzlich eher geeignet, Neueinstellungen zu begünstigen. Wenn allerdings nur die „Besserverdienenden“ Lohnverzicht leisten sollen, so kommt es zunächst ex definitione zu einer weiteren Einkommensnivellierung zugunsten der Bezieher unterer (und mittlerer?) Einkommen mit den bekannten Folgen. Zum anderen entsteht dadurch in erster Linie „Ersatzbedarf“ für (nunmehr relativ „billigere“) hochqualifizierte Arbeitskräfte, es sei denn man unterstellt, daß diese ebenso leicht durch Kapitaleinsatz zu substituieren sind, bisher nicht (voll) ausgelastet waren und/oder zu (unbezahlter) Mehrleistung bereit sind.

Da diese Prämissen kaum generell als realistisch zu betrachten sind, zumal qualifizierte Fach-und Führungskräfte ohnedies — auf den meisten regionalen Arbeitsmärkten — bereits fehlen, dürfte dieses Konzept vor allem eine bereits vorhandene Mangellage verschärfen. Eine Verwirklichung dieses Vorschlags mag deshalb im Staatssektor gewisse Beschäftigungseffekte haben, wenn man — außer vielleicht in einigen Bereichen des primären und sekundären Erziehungssystems — bereit und in der Lage ist, bei Neueinstellungen Zugeständnisse in den Qualifikationserfordernissen zu machen. Aufs Ganze gesehen aber dürfte auch eine Verwirklichung dieser vor allem verteilungspolitisch motivierten Arbeitszeitverkürzung beschäftigungspolitisch wenig bewegen; vermutlich wären die Beschäftigungswirkungen auch solcher Regelungen per Saldo eher negativ.

Damit zeigt sich, daß die durch marktinkonforme Mindestlöhne (zumindest für die sogenannten Problemgruppen) ausgelöste Interventionsspirale auch auf den betroffenen Teilarbeitsmärkten bereits zu voller Entfaltung gekommen ist. ohne freilich einen nennenswerten Abbau der Arbeitslosigkeit zu bewirken. Wie im Agrarbereich kommt es auch hier zu einer zunehmenden Dichte und Intensität der Interventionen, die sich in einem kontinuierlichen Kurieren an Symptomen erschöpfen, während die grundlegenden Ursachen unangetastet bleiben, ja tabuisiert werden.

Wenn diese Diagnose zutrifft, so liegt die Therapie auf der Hand: Geboten erscheint eine Entkoppelung von Lohnbildung und Sozialpolitik (im Sinne einer Änderung der an Marktleistungen orientierten Primärverteilung nach Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit) — eine Aufgabenteilung, die dem Postulat der Systemkonformität wirtschaftspolitischer Eingriffe allein entspricht. Danach müßte sich die Lohnpolitik am jeweiligen Gleichgewichtslohn, der Angebot und Nachfrage auf den verschiedenen Teilarbeitsmärkten zum Ausgleich bringt, orientieren, wie sie dies bis zum Ende der sechziger Jahre weithin getan hat. Demgegenüber wäre es Sache staatlicher Sozialpolitik, durch systemkonforme Maßnahmen der Umverteilung (wie zum Beispiel die Kindergeld-und die Wohngeldregelung) Gesichtspunkte sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit praktisch zur Geltung zu bringen. Nur so ist der in seinem Umfang letztlich politisch zu bestimmende soziale Ausgleich möglich, ohne das Ziel der Vollbeschäftigung ernsthaft zu gefährden. Gefordert ist damit nicht die „Ellbogengesellschaft“, sondern die Rückkehr zu einer Tarif-und Sozialpolitik, die — wie in den fünfziger und sechziger Jahren — von praktischer Vernunft und gesamtwirtschaftlicher Verantwortung getragen ist

V. Arbeitslosigkeit durch systeminkonforme Sozialpolitik

Versucht man eine Gesamtwürdigung der hier skizzierten Entwicklungen der Politik des sozialen Ausgleichs, so sticht die Gemeinsamkeit der Gestaltungsmuster ins Auge: Das grundlegende Postulat, bei der Gestaltung wirtschaftspolitischer Eingriffe den Funktionsbedingungen einer wirksamen Marktsteuerung Rechnung zu tragen, wird im Bereich der Sozialpolitik in erheblichem Umfang mißachtet! Dies gilt besonders für den Arbeitsmarkt: Das Ziel einer Umverteilung von Einkommen und Rechten bestimmt weitgehend das Geschehen, ohne den damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Folgen die gebotene Beachtung zu schenken. Die aufgezeigten Interventionsspiralen legen davon beredtes Zeugnis ab: Trotz zunehmender Dichte und Intensität der Eingriffe in einzelwirtschaftliche Entscheidungsspielräume wird weder das jeweils punktuell anvisierte Ziel erreicht, noch gelingt es, die unerwünschten Nebenwirkungen eines solchen systeminkonformen Interventionismus unter Kontrolle zu bringen. Eher ist das Gegenteil beobachtbar. Sozialpolitik ist ex definitione mit der Umverteilung von Einkommen und/oder Rechten verbunden. Marktinkonforme Interventionen, die mehr soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit anstreben, bedingen aber darüber hinaus kostspielige Fehlsteuerungen und damit Verschwendung von knappen Ressourcen. So erzwingen zu hohe Mindestlöhne für Problemgruppen des Arbeitsmarktes nicht nur (über den Marktpreis hinausgehende) Lohnzahlungen von Unternehmen an begünstigte Arbeitnehmer, sondern auch erhebliche Aufwendungen für die dadurch von (hartnäckiger) Arbeitslosigkeit Betroffenen, die aus Sozialabgaben und Steuermitteln aufzubringen sind. Die Finanzierung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (der Mitglieder) und großzügig definierte Leistungsansprüche im Rahmen der GKV führen, um ein zweites Beispiel zu nennen, nicht nur zu einem Beitragsniveau, das höher ist als es bei konsequenter Anwendung des Aquivalenzprinzips wäre, sondern auch zu zusätzlichen Aufwendungen zur Kompensation von Lohnausfällen, die über Sozialabgaben und/oder allgemeine Steuermittel aufzubringen sind.

Somit wirkt sich diese unangemessene Gestaltung sozialpolitisch motivierter Eingriffe durchweg in einer Belastung der Einkommen mit Steuern und Sozialabgaben aus, die erheblich höher ist, als sie bei konsequenter Nutzung systemkonformer Regelungen — bei mindestens gleichem Zielerreichungsgrad — wäre. Die daraus resultierende Gesamtbelastung eines Durchschnittslohnes mit Steuern und Sozialabgaben wurde bereits betont. Noch aufschlußreicher ist folgende Rechnung: Da schon jetzt die vom Arbeitgeber zu tragenden Lohnnebenkosten (vor allem für Sozialabgaben, betriebliehe Altersvorsorge, Vergütungen für Urlaub, Feiertage, Krankheitstage, Ausbildung und Verpflegung) fast 80 Prozent eines durchschnittlichen Bruttolohnes betragen und der Arbeitnehmer im Durchschnitt selbst noch etwa 40 Prozent des Bruttolohnes für Steuern und Sozialabgaben zu zahlen hat, erhält der Lohnempfänger nur etwa ein Drittel der Summe zur freien Verfügung ausgezahlt, die als Arbeitskosten anfallen: Nicht weniger als zwei Drittel dieses Betrags sind erforderlich, um Staatstätigkeit und Sozialpolitik (im weiteren Sinne) zu finanzieren. Damit dürften die Grenzen der Belastbarkeit von Lohneinkommen bereits überschritten, zumindest aber erreicht sein. Symptomatisch dafür ist die (vermutlich wachsende) Schattenwirtschaft, die offensichtlich hohe Präferenz der Arbeitnehmer für Lohnerhöhungen (statt Arbeitszeitverkürzung) und Überstunden sowie eine abnehmende Leistungsbereitschaft, zumal Sozialeinkommen in ihrer Höhe nicht selten mit Nettolöhnen vergleichbar sind oder sie gar überschreiten.

Gleichzeitig hat die zunehmende Dichte und Intensität der systemwidrigen Interventionen auch die Entscheidungspielräume und damit die Anpassungsflexibilität und Investitionsneigung der Unternehmen mehr und mehr verringert. Darüber hinaus hat lohn-und sozialpolitisch bedingter Kostendruck über eine abnehmende Eigenkapitalquote die Investitionsfähigkeit besonders mittlerer und kleinerer Unternehmen weithin reduziert. Das Resultat ist eine Dämpfung der Innovations-und Investitionstätigkeit der Unternehmen, die sich gesamtwirtschaftlich in Wachstumsschwäche und hartnäckiger Arbeitslosigkeit niederschlägt. Hier liegt nicht Marktversagen, sondern Politikversagen vor: Eine in ihrem Ausmaß überzogene und in ihrer Gestaltung weitgehend unzweckmäßig konzipierte Sozialpolitik hat Bedingungen geschaffen, die es in einer Marktwirtschaft mit wirksamem Wettbewerb verhindern, daß alle Arbeitskräfte, die dazu fähig und willens sind, auch die Möglichkeit erhalten, einen Beitrag zur Erstellung des Sozialprodukts zu leisten. Damit ist die im Thema dieses Beitrags gestellte Frage eindeutig zu beantworten: Die Sozialpolitik hat sich tatsächlich als Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft erwiesen. Der „Mythos des Sozialen“ (B. Molitor) ist auf dem besten Wege, Fragen der sozialen Sicherheit und der Umverteilung Vorrang einzuräumen. Damit aber wird die der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft immanente Zuordnung von Marktwirtschaft und sozialem Ausgleich, von Leistungserstellung und Einkommens-verteilung auf den Kopf gestellt und die Grundlagen der Leistungsfähigkeit nicht nur der Markt-steuerung. sondern auch der Sozialpolitik unterminiert. Insofern trägt die heute praktizierte Politik des sozialen Ausgleichs wesentlich dazu bei. daß die Ergiebigkeit der Quellen spürbar zurückgeht, aus denen sie selbst gespeist wird und allein gespeist werden kann. Deshalb befindet sich die Sozialpolitik und mit ihr das Gesamtsystem der Sozialen Marktwirtschaft in einer Sackgasse. Wie gezeigt wurde, ist die heute praktizierte Politik des sozialen Ausgleichs in absehbarer Zeit vermutlich nicht mehr finanzierbar. Solange sich Korrekturen, wie bisher, darauf beschränken, Wucherungen und Auswüchse des sozialpolitisch motivierten Interventionismus zurückzuschneiden, werden sich die verschiedenen Interventionsspiralen weiterdrehen und die Werte der Arbeitslosenstatistik eher nach oben bewegen. Erst eine Reform im Sinne einer gezielten, maßvollen (das heißt dauerhaft finanzierbaren) und den Funktionsbedingungen der Marktsteuerung umfassend Rechnung tragenden Sozialpolitik wird die Voraussetzungen zu mehr Beschäftigung und Wachstum schaffen und damit mehr als weitere Maßnahmen der Umverteilung jenen Bürgern zugute kommen, denen die Politik des sozialen Ausgleichs in besonderem Maße gilt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Daß diese Thematik zumindest für die Wirtschaftswissenschaft nicht neu ist, zeigt sich schon daran, daß B. Molitor schon vor Jahren einen Aufsatzband mit diesem Titel veröffentlichte.dem inzwischen zwei weitere folgten: Lohnpolitik und Arbeitsmarkt. Hamburg 1977; Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat, Hamburg 1981.

  2. A. Müller-Armack, Art. Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Tübingen-Göttingen 1956, S. 390.

  3. A. Müller-Armack. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg/Br. 1966, S. 243.

  4. A. Müller-Armack (Anm. 2). S. 391.

  5. W. Stützel. Systemkonforme Sozialpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft, in: Wirtschaftsdienst. (1980) IX. S. 455.

  6. Neuere Darstellungen des Systems der sozialen Sicherheit im einzelnen bringen: J. Frerich. Sozialpolitik. München-Wien 1987; B. Molitor. Soziale Sicherung. München 1987.

  7. Vgl. Ph. Herder-Dorneich, Der Sozialstaat in der Rationalitätenfalle. Stuttgart u. a. 1982; sowie ders.. Gesundheitsökonomik. Systemsteuerung und Ordnungspolitik im Gesundheitswesen, Stuttgart 1980.

  8. Vgl. auch Frankfurter Institut für wirtschaftliche Forschung. Die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung. Argumente zur Wirtschaftspolitik. (1988) 16; dass., Markt im Gesundheitswesen. Schriftenreihe Bd. 13. Bad Homburg v. d. H. . 1987.

  9. Vgl. J. Frerich (Anm. 6). S. 357 ff.

  10. Die im Text zitierten Zahlenangaben entstammen einer Modellrechnung des Verbandes Deutscher Versicherungsträger (VDR). Vgl.ders. (Hrsg.), Zur langfristigen Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung, o. O., Juni 1987, S. 26 ff.

  11. Diese Werte der Gesamtbelastung wurden auf der Basis der VDR-Veröffentlichung (Anm. 10) von U. v. Suntum ermittelt; vgl.ders., Reformvorschläge zur gesetzlichen Rentenversicherung, in: Wirtschaftsdienst, (1987) VIII, S. 397 (Tab. 3). Bei der Interpretation dieser Zahlen ist zweierlei zu beachten: Zum einen werden die Sozialabgaben zur Hälfte vom Arbeitgeber gezahlt, gehen daher in diesem Umfang rechnerisch nicht vom Bruttolohn ab. Auf den Bruttolohn des durchschnittlichen Lohnempfängers bezogen, beläuft sich die Gesamtbelastung daher auf 35. 3 Prozent (1986) und auf 44, 5 Prozent bzw. 50, 9 Prozent (2030). Zum anderen handelt es sich um Durchschnittswerte; da die Lohnsteuer stark progressiv gestaltet ist, sind die Grenzbelastungswerte der Bruttoverdienste, die für die Leistungsbereitschaft vermutlich am bedeutsamsten sind — je nach Einkommensniveau —, wesentlich höher zu veranschlagen.

  12. Vgl. dazu W. Schmähl/K. -D. Henke/H. M. Schellhaaß, Änderung der Beitragsfinanzierung in der Rentenversicherung?, Baden-Baden 1984.

  13. Vgl. Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung. Reform der Alterssicherung. Schriftenreihe Bd. 14, Bad Homburg v. d. H. 1987.

  14. Ebda.. S. 60.

  15. VDR (Hrsg.), Zur langfristigen Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung (Anm. 10), S. 229.

  16. Vgl. W. Engels. Arbeitslosigkeit — Woher sie kommt und wie man sie beheben kann. Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für wirtschaftspolitische Forschung. Bd. 5, Bad Homburg v. d. H. 1984.

  17. S. F. Franke. Arbeitsmarktpolitik in der Demokratie. Zur Auseinandersetzung um Ursachen und Therapie der Arbeitslosigkeit, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 35 (1986). S. 265: vgl. dazu auch ders.. Der Einfluß von Lohn-höhe und Lohnstruktur auf Beschäftigungsvolumen und -Struktur, in: Wirtschaftsdienst. (1983) I. S. 29ff.

  18. Daß sich die deutschen Gewerkschaften in ihrer Lohnpolitik sehr viel stärker an Indikatoren der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als an den zum Teil sehr unterschiedlichen Bedingungen der einzelnen Regionen und/oder Sektoren orientieren, ist empirisch belegt. Vgl. dazu neuerdings A. Beyer. Gewerkschaftliche Tarifpolitik in strukturschwachen Branchen. Eine empirische Analyse für den Zeitraum von 1960— 1986. dargestellt am Beispiel der Druckerei-und Textilindustrie, Diss. Mainz 1988, sowie die dort verarbeitete Literatur.

  19. Dieser Zusammenhang ist auch empirisch belegt. Vgl. R. Thiehoff, Lohnnivellierung und qualifikatorische Arbeitslosigkeitsstruktur. Baden-Baden 1987. Diese methodisch sehr anspruchsvolle Studie kommt für den Untersuchungszeitraum (1957— 1978) zu dem Ergebnis: „Verbesserungen der Lohnposition wurden von Verschlechterungen der Arbeitsmarktposition begleitet, während analog dazu sinkende Arbeitslosigkeitsrisiken in der Regel mit rückläufigen relativen Lohnpositionen einhergehen.“ Zitat, ebd.. S. 256.

  20. Vgl. dazu A. M. Stöckert. Wirkungen von Rechtsnormen auf Personalanpassungen. Stuttgart 1987. S. 207. Diese gründliche empirische Untersuchung personalpolitischer Entscheidungen in Unternehmen kommt zu dem Ergebnis, „daß aufgrund vielfältiger Belastungen durch Rechtsnormen-wirkungen . . . die Flexibilität der Anpassung an Beschäftigungsschwankungen stark eingeschränkt ist. Gerade die Analyse der Maßnahmen zur Erhöhung der personellen Kapazität zeigt, daß die von ihrer ursprünglichen Konstruktion her flexiblen Anpassungsmaßnahmen, nämlich die zeitlichen Anpassungen, aufgrund von Rechtsnormenwirkungen besonders belastet sind. Die geltende Rechtsnormenstruktur besitzt für diese Anpassungsmaßnahmen einen anwendungsfeindlichen Charakter. Dies gilt auch für Maßnahmen zur Senkung der personellen Kapazität. Gerade diese Maßnahmen zeigen, daß kapazitätsmäßige und zeitliche Anpassungen in gleichem Maße starken Rechtsnormenwirkungen ausgesetzt sind. Es fehlt an einer Abstufung der Sanktionierung der Anpassungsmaßnahmen, die eine flexible Personalplanung möglich macht.“

  21. Zur rechtlich-institutionellen Rahmensetzung des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik Deutschland und den Veränderungen, die im Interesse einer marktkonformen und damit am Ziel der Vollbeschäftigung orientierten Lohnbildüng erforderlich erscheinen, vgl. die beiden Beiträge von R. Soltwedel. Arbeitsmarktverfassung. S. 171 ff., und Reform des Arbeitsmarktes. S. 388ff., in: R. Vaubel/H. D. Barbier, Handbuch der Marktwirtschaft. Pfullingen 1986.

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