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Schlüsseljahre im Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion | APuZ 24/1991 | bpb.de

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APuZ 24/1991 Schlüsseljahre im Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion Fünfzig Jahre danach: Ein historischer Rückblick auf das „Unternehmen Barbarossa“ Der 22. Juni 1941: Anmerkungen eines sowjetischen Historikers Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. Ein Beitrag zur deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte

Schlüsseljahre im Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion

Karl-Heinz Ruffmann

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beginn der deutsch-sowjetischen Beziehungen mit ihrem spezifischen Wechselverhältnis von Kooperation und Antagonismus ist auf das Jahr 1922 zu datieren: dem Vertrag von Rapallo, in dem die beiden Verlierer des Ersten Weltkrieges sich ihrer gegenseitigen Unterstützung versicherten. Mit der zunehmenden Integration in die westliche Diplomatie (Vertrag von Locarno 1925, Aufnahme in den Völkerbund 1926) lockerte das Deutsche Reich diese Beziehungen, während jedoch inoffiziell gute Kontakte zwischen Reichswehr und Roter Armee weiter existierten -trotz der sowjetischen Versuche, über die KPD die deutsche Innenpolitik zu revolutionieren. Es sollte für die sowjetische Führung wie für die KPD ein folgenschweres Verhängnis werden, daß sie ihre ideologischen Hauptgegner im „kapitalistischen“ Bürgertum und in der Sozialdemokratie („Sozialfaschisten“) sahen, nicht jedoch im Nationalsozialismus, der für sie lange Zeit nur als ein beliebig auswechselbares Instrument des „Kapitals“ erschien. Die von Hitler früh erklärte ideologische Todfeindschaft und das im Osten zu realisierende „Lebensraum“ -Konzept wurden nicht emstgenommen. Auch nach dem Kriegsbeginn glaubten Stalin und sein Beraterkreis noch an eine interne militärische Auseinandersetzung kapitalistischer Staaten, von deren wechselseitiger Schwächung er zu profitieren hoffte. Dieses Kalkül war auch der politische Hintergrund für den Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939. Mit diesem „Freundschaftspakt“ versuchte ein Diktator den anderen zu hintergehen bzw. ihn für seine Zwecke zu instrumentalisieren; Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bedeutete eine tiefe Zäsur in der Geschichte beider Länder, die bis heute ihre Beziehungen zueinander prägt. Auf beiden Seiten wurden jedoch mittlerweile historisch-ideologische Erklärungsversuche des jeweiligen Verhaltens als quasi moralische Schutzmauer aufgegeben; bei uns die These vom „Präventivkrieg“, daß die deutsche Wehrmacht den Angriffsabsichten Stalins lediglich zuvorgekommen sei; auf sowjetischer Seite die Erklärung für den Pakt, daß man damit eine „Atempause“ gewinnen wollte, um die eigene Verteidigung aufzubauen. Als historische Tatsache bleibt jedoch festzuhalten, daß Hitler und die nationalsozialistische Führung mit dem Überfall auf die Sowjetunion die Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg in Kauf nahmen, um ihren Weltanschauungskrieg und das utopische „Lebensraum“ -Konzept zu Ende zu führen.

Vorabdruck aus dem von Hans-Adolf Jacobsen und Boris Orlow herausgegebenen Band: Deutschland -Sowjetunion in Europa 1941-1991, der im v. Hase & Koehler Verlag, Mainz, erscheinen wird.

I.

Geschichtswissenschaft wird historisches Geschehen nur dann wirklich voll begreifen und würdigen können, wenn sie es einerseits in seinem Eingebundensein in die Zeit erfaßt, in der es stattgefunden hat, sie seine innergeschichtlichen Proportionen nach der Zeitalterbestimmtheit bemißt. Andererseits ist der Verzicht auf späteres, postumes Wissen weder möglich noch erlaubt. Denn erst im Rückblick sieht man die Ereignisse mit ihren Folgen, die Personen und Institutionen mit ihren Wirkungen, kurzum, sie alle mit der ihnen zugeordneten unvorhergesehenen und erst hernach zu Tage getretenen Zukunft. Es bleibt die Unmöglichkeit bestehen, die Folgen beim Urteil über vergangenes Geschehen, das immer auch vergangene Zukunft ist, außer Betracht zu lassen.

Mit einer solchen Doppeleinsicht als Maxime behandelt mein Beitrag 1922, vor allem aber 1933, 1939 und 1941 als Schlüsseljahre im Sinne grundlegender Weichenstellungen für das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Dazu gehören auch gesamteuropäische Implikationen und Folgewirkungen.

Die erste grundlegende Weichenstellung, die sich keineswegs in wechselseitiger diplomatischer Anerkennung und Normalisierung des zwischenstaatlichen Verkehrs erschöpfte, war von beiden Mächten im April 1922 mit dem Abschluß des Rapallo-Abkommens vollzogen worden. Die Besonderheit bestand darin, daß der Vertrag in der gemeinsamen Ablehnung der Versailler Ordnung seinen Ursprung und seine Basis hatte. Gewiß schwächte sich dieses Sonderverhältnis in dem Maße ab, in dem beide großen Verlierer des Ersten Weltkrieges Anschluß an das internationale Staatensystem fanden, die Weimarer Republik bereits ab 1925/26 durch das Locarno-Abkommen und die Aufnahme in den Völkerbund, die Sowjetunion spätestens ab Ende der zwanziger und bis zum Beginn der dreißiger Jahre durch intensive Mitwirkung bei multilateralen Abrüstungsverhandlungen und durch ein Netz von bilateralen Nichtangriffspakten, darunter 1932 sogar mit Frankreich und Polen. Gleichwohl haben Kreml und Wilhelmstraße die Rapallo-Politik fortgeschrieben im Berliner Vertrag vom April 1926, der beide Partner bei einem Angriff von dritter Seite auf einen von ihnen zu strikter Neutralität und Distanzierung von Boykottmaßnahmen, gleich welcher Art, verpflichtete.

Motive für den Abschluß des Vertrages, der ab 1931 zur Verlängerung anstand, waren -auf sowjetischer Seite die Sorge vor einer zu starken Westorientierung Deutschlands und dessen Einbeziehung in eine mögliche antibolschewistische Einheits-und Einkreisungsfront der kapitalistischen Staaten;

-auf deutscher Seite das Bemühen, eine Balancepolitik nach West und Ost zu betreiben; sowie nicht zuletzt -auf beiden Seiten das Streben nach Revision der durch bzw. im Anschluß an die Pariser Vorortverträge festgelegten Grenzen Polens im Westen wie im Osten. Bis 1933 hatten weder Deutschland noch die Sowjetunion diese Grenzen garantiert. Beide Mächte stimmten insoweit in ihrer Anti-Versailles-Frontstellung eindeutig und kontinuierlich überein.

Ihre auf Revision der Versailler Ordnung bedachte Politik wurde gleichsam flankiert durch militärische Kontakte zwischen Roter Armee und Reichs-wehr, die bereits im Winter 1920/21 angeknüpft worden waren und bis 1926 geheim gehalten werden konnten. Während die Rote Armee von den modernen Organisationsmethoden des deutschen Generalstabs und den technischen Errungenschaften der deutschen Rüstungsindustrie profitierte, erhielt die Reichswehr die Gelegenheit, in drei eigenen Schulen für die Flieger-, Panzer-und Gas-kampftruppe sowie mit Hilfe entsprechender Zweigfabriken der deutschen Rüstungswirtschaft auf russischem Boden ihre Offiziere im Gebrauch solcher Waffen zu unterweisen, deren Herstellung und Besitz Deutschland durch den Versailler Vertrag untersagt war. Die Kooperation erreichte Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre ihren Höhepunkt.

Das galt erst recht für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, deren Umfang und Gewicht innerhalb der deutsch-sowjetischen Beziehungen vor 1933 wohl am höchsten zu veranschlagen ist. Immerhin war Deutschland im Durchschnitt des Jahrzehnts 1922 bis 1932 der wichtigste Handelspartner der UdSSR. Die Basis dafür bildeten Wirtschaftsabkommen von 1925 und 1931; als entscheidende Antriebskräfte erwiesen sich dann ab 1929 die Weltwirtschaftskrise und Stalins planökonomische „Revolution von oben“ mit agrarischer Zwangs-kollektivierung und forcierter Industrialisierung. Während das von der Reichsregierung durch Kredite geförderte und vom Ostausschuß der deutschen Wirtschaft betreute Rußlandgeschäft dem deutschen Partner einen gewissen Ausweg aus den Absatzschwierigkeiten im Ausland eröffnete, bestand auf sowjetischer Seite ein nahezu unbegrenzter Bedarf an industrieller Ausrüstung für alle Bereiche des Wirtschaftslebens. 1932 erreichte der deutsch-sowjetische Handel seinen bis dahin höchsten Stand; die UdSSR bezog -wie 1914 das russische Kaiserreich -47 Prozent ihrer gesamten Importe aus Deutschland, gegenüber 25 Prozent im Jahr 1928, als der Erste Fünfjahrplan gerade anzulaufen begann. Bis zum Ende der Weimarer Republik haben die wirtschaftlichen Beziehungen darüber hinaus wechselseitig als Stütze und Bindemittel für das Gesamtverhältnis zwischen beiden Ländern gedient.

Dessen Kennzeichnung wäre, auch und gerade aus damaliger Sicht, unvollständig ohne die Einbeziehung der Tätigkeit der an Moskau gebundenen KPD bzw.der Wirkungen, die von ihr ausgingen.

Dafür hier nur zwei Belege: 1923 hatte ein von Sowjetmacht und Komintern nachhaltig geförderter kommunistischer Umsturzversuch in Sachsen und Thüringen, der gescheiterte „deutsche Oktober“, die Doppelbödigkeit sowjetischer Außenpolitik jener Zeit grell beleuchtet und das Verhältnis der Vertragspartner von Rapallo zumindest kurzfristig schwer belastet. Dauerhafter und verhängnisvoller waren die Folgen des Kampfes, den Komintern und KPD gegen die in ihrer Terminologie „sozialfaschistische“ SPD als „Hauptfeind“ der Arbeiterklasse führten. Moskau erlag damit einer fatalen Fehleinschätzung der Gefahr, die durch den Aufstieg rechtsradikaler Kräfte, insbesondere der Nationalsozialisten, in Deutschland drohte, während eben hier die Praktiken der KPD, zusammen mit alarmierenden Meldungen über die innersowjetische Entwicklung -darunter das Schicksal der Rußlanddeutschen -die antibolschewistische Strömung Anfang der dreißiger Jahre erneut anheizten.

Gewiß war zu diesem Zeitpunkt das offizielle Verhältnis zwischen Deutschland und Sowjetunion noch nicht durch krisenhafte Zuspitzung gekennzeichnet, wohl aber durch zunehmende Abkühlung des politischen Klimas und Unbestimmtheit hinsichtlich des künftigen Verhaltens beider Partner. Während „die sowjetische Außenpolitik einen Kurs der freien Hand eingeschlagen (hatte), der die grundsätzliche Offenheit für jede politische Option, je nach der gegebenen Lage, bedeutete“ veranlaßte die zur Durchsetzung revisionistischer Ziele verstärkte Wertorientierung der deutschen Außenpolitik in der Zeit der Präsidialkabinette einen höchst sachkundigen Mitarbeiter an der damaligen deutschen Botschaft in Moskau, ebenfalls im historischen Rückblick festzustellen: „In Wirklichkeit... strebte Deutschland unter einer nach außen freundlichen Fassade von Rapallo weg.“

II.

Die inzwischen etwas mehr als ein Jahrzehnt währenden deutsch-sowjetischen Beziehungen schienen somit ohnehin an einer Wegkreuzung angelangt zu sein, als am 30. Januar 1933 die von den Nationalsozialisten als „Machtergreifung“ bezeichnete Ernennung ihres Führers Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler erfolgte. Deshalb ist jetzt zu fragen: Was bedeutete dieser Vorgang für das Verhältnis zwischen beiden Ländern? Inwieweit prägte und bestimmte er es im weiteren Verlauf des Jahres 1933?

Als Antwort ist zunächst festzuhalten und nachdrücklich hervorzuheben: Hitler hat auch als Reichskanzler von Anfang an seine lange vorher entwickelten und der Öffentlichkeit bekannten programmatischen Forderungen vertreten, das bolschewistische Rußland als entscheidenden machtpolitischen wie ideologischen Feind des Deutschen Reiches durch Krieg zu zerschlagen, damit einhergehend die „Judenfrage“ zu lösen und dem deutschen Volk den notwendigen „Lebensraum“ zu beschaffen. So erklärte er bereits am 3. Februar 1933 in einer Ansprache vor den rang-höchsten Offizieren der Reichswehr, das Ziel der Außenpolitik des Dritten Reiches müsse sein, „neuen Lebensraum im Osten“ zu erobern und diesen „rücksichtslos“ zu „germanisieren“; und seine in den folgenden Wochen unter der Losung „Der Marxismus muß sterben“ gehaltenen öffentlichen Reden schlossen die Vernichtung der Sowjetunion teils implizit, teils explizit ein. Schon deshalb markiert 1933 einen tiefreichenden Wendepunkt, eine Zäsur im Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion.

Andererseits haben die Träger und Instrumente politischer Macht in beiden Ländern mit dem, wie sie 1933 agierten, erst ansatzweise eine neue Weichenstellung erkennen lassen und selbst scharfen zeitgenössischen Beobachtern höchst widersprüchliche Eindrücke vermittelt. So stimmte -um mit den deutschen Aktionen zu beginnen -die neue Regierung Hitler ganz rasch (am 25. Februar) durch Übernahme der Bürgschaft einem Kreditabkommen zwischen der Staatsbank der UdSSR und deutschen Bankkonsortien zu, das der Sowjetunion Kredite in Höhe von insgesamt 140 Milhonen Reichsmark gewährte; sie duldete aber gleichzeitig Ausschreitungen von nationalsozialistischen Parteiorganen und Polizeibeamten gegen sowjetische Staatsbürger und Wirtschaftseinrichtungen in Deutschland und nahm bis Ende 1933 einen so drastischen Rückgang des beiderseitigen Handels hin, daß, wie die deutsche Botschaft am 30. Oktober aus Moskau meldete, „auch die Wirtschaftsbeziehungen in diesem Jahr keine politische Hilfestellung geben konnten“ -in (wie hinzuzufügen ist) einem inzwischen krisenhaft verschlechterten Gesamtverhältnis. Schon etwas früher hatte Hitler die sowjetische Initiative, die militärische Zusammenarbeit beider Länder in der bisherigen Form zu beenden, d. h. die deutschen Versuchsstationen auf russischem Boden aufzulösen, zur Anweisung an die Reichswehr benutzt, sämtliche Kontakte zur Roten Armee einzustellen.

Dennoch erhielt der neue deutsche Botschafter in Moskau, Rudolf Nadolny, für seine künftige Tätigkeit bis Mitte November von Hitler uneingeschränkt gebilligte positive Richtlinien des Auswärtigen Amtes, in denen die Sowjetunion als „wertvoller Faktor“ für Außenpolitik und die Beziehungen zu ihr als für das Verhältnis Deutschlands zu Polen „außerordentlich wichtig“ bezeichnet wurden -obwohl fast gleichzeitig (bis zum 20. November) die deutsche Seite den ersten Entwurf eines Abkommens zwischen Berlin und Warschau vorlegte, der auf Hitlers eindeutig antisowjetisch ausgerichteter Unterredung mit Jözef Lipski, dem neuen polnischen Gesandten in Berlin, basierte und eine regelrechte Umkehrung der Grundlagen deutscher Ostpolitik signalisierte.

Den sowjetischen Reaktionen schien bis Ende 1933 ebenfalls eine klare und einheitliche Linie zu fehlen. Hitlers Bestellung zum Reichskanzler hat das offizielle Moskau zwar überrascht, aber nicht sonderlich beunruhigt. Abgesehen von einem gewissen Vertrauen in den Fortbestand der recht intensiven Handelsbeziehungen und offenkundiger russophiler Neigungen bestimmter Reichswehrkreise blieb man gemäß dem eigenen ideologischen Weltbild zunächst weiterhin fest davon überzeugt, die „kleinbürgerlich faschistische Massenbewegung“ NSDAP mit ihrem Führer sei nur ein abhängiges Werkzeug kapitalistischer oder militärischer Machtgruppen in Deutschland, mit denen eine Verständigung je nach ihren spezifischen Gruppeninteressen möglich oder unmöglich sein würde.

Als ernsthafte Belastung des bilateralen Verhältnisses wurde im Verlauf des Jahres 1933 von sowjetischer Seite weder die Zerschlagung der KPD nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 noch der Reichstagsbrandprozeß angesehen, wohl aber die praktizierte Nichtbereitschaft der neuen Regierung in Berlin, -den handelspolitischen Interessen der UdSSR hinreichend Rechnung zu tragen; -Verbindungen zwischen Reichswehr und Roter Armee in gelockerter Form weiterhin zuzulassen; -sich vom expansionistischen antisowjetischen Programm der NSDAP offiziell zu distanzieren.

Hinzu kam als wohl wichtigster Faktor Deutschlands schrittweise Annäherung an Polen.

Aufgrund des durch Japans Expansion im Femen Osten wie durch die wirtschaftliche Anspannung im eigenen Land gesteigerten defensiven Sicherheitsinteresses steuerte die Sowjetunion einerseits -durchaus erfolgreich -den Ausbau bisheriger Einzelverträge mit fast allen ihren Nachbarn zu einer multilateralen Nichtangriffskonvention an und unterzeichnete außerdem am 2. September 1933 einen Nichtangriffspakt mit dem faschistischen Italien, den die sowjetische Presse als Ausdruck des Wunsches der UdSSR interpretierte, mit allen Staaten -ohne Rücksicht auf deren politisches System -friedliche Beziehungen zu unterhalten; zugleich sollte mit dem Pakt, vom Wink in Richtung Berlin einmal ganz abgesehen, das zum Zwecke eigener Zusammenarbeit und gemeinsamer Friedenspolitik im Juli 1933 abgeschlossene, jedoch nie ratifizierte Viererabkommen zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und England neutralisiert und damit der Gefahr einer Regelung europäischer Fragen ohne die UdSSR vorgebeugt werden. Andererseits sind gerade im zweiten Halbjahr 1933, als Hitler für eine weitere Verschärfung der Spannungen mit Moskau sorgte, mehrere -freilich informelle, aber von Stalin offensichtlich gebilligte -Schritte der sowjetischen Diplomatie zu registrieren, die darauf abzielen, einen Ausgleich mit dem nationalsozialistischen Deutschland herbeizuführen.

Desungeachtet wurde der Kurs der eigenen Annäherung an die Westmächte ostentativ fortgesetzt mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA und der Verstärkung politischer Kontakte zu Frankreich sowie vor allem mit der Vorbereitung des Eintritts der UdSSR in den Völkerbund. Ganz in diesem Sinne beschloß am 12. Dezember 1933 das ZK der bolschewistischen Partei, für ein System der kollektiven Sicherheit in Europa zu kämpfen, die Komintern erklärte fast gleichzeitig das Dritte Reich zum „Hauptkriegsbrandstifter“, gegen den es alle Kräfte zu mobilisieren gelte.

Trotzdem traten noch unmittelbar vor Jahresende, am 28. und 29. Dezember 1933, unterschiedliche offizielle Auffassungen über den künftigen Kurs sowjetischer Außen-und Deutschlandpolitik öffentlich zutage. Während sich Außenkommissar Litwinow vor dem zentralen Exekutivkomitee, dem damaligen obersten Staatsorgan der UdSSR, für eine kompromißlose weltweite, völlig am territorialen Status quo orientierte Friedenspolitik einsetzte, befürwortete vor demselben Gremium Regierungschef Molotow eher die traditionelle deutsch-sowjetische Zusammenarbeit, die aus der Opposition gegen die Versailler Vertragsordnung entstanden war.

Wie ist nun die offenkundige Zweigleisigkeit im soeben skizzierten Verhalten der Sowjetunion und Deutschlands zueinander während des Jahres 1933 zu erklären? Die Antwort liefert für beide Länder ihr damaliger innenpolitischer Zustand; sie ergibt sich aus der Interdependenz von Außen-und Innenpolitik.

Bekanntlich ging es Hitler nach dem 30. Januar zunächst vor allem darum, seine Machtstellung im Innern zu festigen und auszubauen, die nationalsozialistische Diktatur zu errichten. Diese Zielsetzung, die von Anfang an einschloß, die innenpolitische Entwicklung des Dritten Reiches zur Grundlage und Funktion eines aggressiven Expansionismus zu machen, veranlaßte, ja nötigte ihn, in der Außenpolitik, und dabei insbesondere in der Politik gegenüber der Sowjetunion, vorerst den Anschein von Kontinuität zu wahren, d. h.der Fortsetzung jenes „revisionistischen“ Kurses, den das Auswärtige Amt mit dem weiter amtierenden Konservativen von Neurath an der Spitze betrieb und verkörperte. In dem Maße, in dem der Weg zur fast uneingeschränkten Macht erfolgreich zurückgelegt wurde, nahm jedoch Hitlers Rücksichtnahme auf das Auswärtige Amt ab, zeichneten sich die Konturen einer Sowjetunion-Politik zunehmend schärfer ab, die den Abbau der Beziehungen auf ein unentbehrliches Minimum verfolgte, ohne die Vernichtung des „Todfeindes“ als Endziel aus dem Auge zu lassen.

Bei der spätestens seit der Konzentration auf den „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ ohnehin unter dem Primat der Innenpolitik stehenden Sowjetunion hatte der ökonomische und soziale Umwälzungsprozeß, den Stalin ab 1928 in Gang gesetzt hatte, einerseits den Dualismus von revolutionärer und Koexistenz-Zielsetzung in der Außenpolitik drastisch reduziert zugunsten eines defensiv ausgerichteten Sicherheits-und wirtschaftlichen Kooperationsbedürfnisses gegenüber der kapitalistischen Umwelt. Andererseits ermöglichte -keineswegs nur, aber eben auch -der Umwälzungsprozeß 1933 das Entstehen eines neuen Dualismus hinsichtlich der Befriedigung dieses Bedürfnisses, weil Stalin in diesem Jahr (und auch noch 1934) als Folge seiner rücksichtslosen Agrarund Industrialisierungspolitik gravierende innenpolitische Schwierigkeiten zu verantworten und sich innerhalb der bolschewistischen Partei Kritik zu regen begonnen hatte. Manches spricht dafür, daß deshalb -Außenkommissar Litwinow einen gewissen Spielraum erhielt, sein außenpolitisches Konzept voranzutreiben, zumal es mit den Auffassungen der Vertreter eines innenpolitischen Versöhnungs-und begrenzten Demokratisierungkurses innerhalb der Parteiführung übereinzustimmen schien; -Stalin hingegen sich im wesentlichen damit begnügte, über Mittelsmänner und seinen Paladin Molotow der prowestlichen Linie Litwinows entgegenzuwirken, und er im übrigen (wie zeitgenössische Beobachtungen von Diplomaten belegen) zögerte, endgültige Richtlinien für den künftigen Kurs sowjetischer Außen-und Deutschlandpolitik zu erteilen.

Wohl mögen die zuletzt gemachten Aussagen angesichts einer auch heute noch im Zeichen von Gorbatschows Glasnost leider immer noch unbefriedigenden Quellenlage nicht hinreichend gesichert sein. Soviel steht jedoch fest: 1933 ist nicht zuletzt deshalb ein Schlüsseljahr, weil erstmals und ganz offenkundig jene beiden Alternativen sowjetischer Außenpolitik -Kooperation mit den Westmächten oder Verständigung mit Deutschland -miteinander konkurrierten, die dann nacheinander und höchst folgenreich für alle Beteiligten zu verwirklichen versucht wurden. Freilich ist dem sofort hinzuzufügen: Verursacht und überhaupt erst ermöglicht hat diese Entwicklung das NS-Regime in Deutschland mit seiner aggressiv sowjetfeindlichen Politik, die zwar 1933 erst ansatzweise in Angriff genommen werden konnte, die aber mit ihrem hemmungslosen Antikommunismus und zutiefst irrationalen Bolschewistenhaß bereits umrißhaft Vernichtungsabsichten erkennen ließ, in die Polen als Handlanger und/oder Opfer mit einbezogen werden sollte.

III.

Unsere weiteren Darlegungen zum Fortgang der deutsch-sowjetischen Beziehungen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dienen einerseits nochmals der Begründung der Schlüsselfunktion des Jahres 1933, bezwecken jedoch in erster Linie eine knappe, aber möglichst präzise Kennzeichnung des 23. August 1939 und des 22. Juni 1941 in ihrer ja nicht allein für unsere beiden Länder und deren Menschen schicksalhaft-epochalen Bedeutung. Sie konzentrieren sich, was zunächst erneut das nationalsozialistische Deutschland anbelangt, auf die Hervorhebung folgender Sachverhalte: 1. Mit dem im Laufe des Jahres 1933 zielstrebig vorbereiteten Nichtangriffsabkommen mit Polen vom 26. Januar 1934, das auf die Zeitgenossen allein schon wegen des radikalen Partnerwechsels in der deutschen Ostpolitik sensationell wirkte, durchbrach Hitler nicht nur eine drohende allgemeine Isolierung und die französische Umklammerung des Deutschen Reiches, sondern „leitete ... bereits vergleichsweise deutlich sichtbar seine gegen Rußland gerichtete, weltanschaulich motivierte Expansionspolitik ein“ 2. Kaum zufällig 1936, dem Jahr des Übergangs von der Phase des inneren Aufbaus der NS-Diktatur zur schrittweisen Gewinnung der Vorherrschaft in Europa, wurde die antisowjetische Ausrichtung der deutschen Außenpolitik ostentativ verstärkt durch -Hitlers (Ende Juli) erneut betonte programmatische Absicht, wonach „der Riesenblock Ruß-landwieder in seine ursprünglichen Teile zerlegt“ werden müsse; -die (ab August/September) unter der Losung „Deutschland -das antibolschewistische Bollwerk des Abendlandes“ forcierte Propaganda des NS-Regimes gegen die Sowjetunion und den Weltkommunismus;

-den (am 25. November) mit Japan abgeschlossenen „Antikominternpakt“, dessen in einem geheimen Zusatzabkommen festgelegter Kern eine Koordinierung der deutschen und japanischen Politik gegenüber der Sowjetunion im Kriegsfall vorsah.

Die militärische Einmischung des Dritten Reiches in den Spanischen Bürgerkrieg (ab Ende Juli 1936) ist ideologisch wie machtpolitisch ebenfalls primär der programmatisch gegen die Sowjetunion gerichteten Politik Hitlers zuzuordnen. 3. Daß Hitlers Pakt mit Stalin vom 23. August 1939 überhaupt keine Revision seiner bisherigen antisowjetischen Grundhaltung und -Zielsetzung bedeutete, belegt seine Äußerung zwölf Tage zuvor, am 11. August, in einem Gespräch mit dem damaligen Hohen Kommissar des Völkerbundes in Danzig, Carl Jacob Burckhardt: „Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden. Ich brauche die Ukraine, damit man uns nicht wieder wie im letzten Krieg aushungert.“ (Von Polen war bezeichnenderweise überhaupt nicht mehr die Rede!) Spricht nicht schon deshalb alles dafür -was inzwischen ohnehin wissenschaftlich verläßlich entschieden ist daß Hitler am 22. Juni 1941 keinen Präventivschlag, sondern einen Angriffs-und Vernichtungskrieg gegen die UdSSR begonnen hat?

Entsprechende Erläuterungen zur sowjetischen Politik bis zum deutschen Überfall lassen sich in ebenfalls drei Punkten so zusammenfassen: 1. Vom Abschluß des deutsch-polnischen Abkommens im Januar 1934 bis zumindest Ende 1938 dominierte in Moskau die schon 1933 von Litwinow repräsentierte Linie, die mit eindeutig pro-westlicher Orientierung auf die Errichtung eines internationalen Systems kollektiver Sicherheit zur Eindämmung des Faschismus-Nationalsozialismus und der japanischen Aggression hinarbeitete sowie über Abrüstungsverhandlungen die Sowjetunion als Garanten des Status quo in die internationale Politik einzuführen trachtete. Im gleichen Zeitraum gab es jedoch daneben fortlaufend diplomatische Vorstöße, denen, ungeachtet der schroff antisowjetischen Politik des NS-Regimes, Verhandlungs-und Verständigungsbereitschaft mit Deutschland zugrunde lag und die als Gemeinsamkeiten beider Mächte das Interesse an intensiven Wirtschaftsbeziehungen und den Kampf gegen die Versailler Friedensordnung hervorhoben.

Mit Recht konnte daher Molotow im September 1939 bei seiner Rede vor dem Obersten Sowjet zur Ratifizierung des Nichtangriffspaktes vom 23. August feststellen, daß sich die sowjetische Regierung seit 1933 darum bemüht habe, normale wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu unterhalten. 2. Beim Zustandekommen der sowjetischen Option im Jahre 1939 erscheint einmal bemerkenswert, daß Stalin jetzt seine außenpolitischen Vorstellungen uneingeschränkt durchsetzen konnte dank seiner gerade durchgeführten „Großen Säuberung“, die, wie im Partei-und sonstigen Staatsapparat, auch im Außenkommissariat nahezu den gesamten höheren Mitarbeiterstab beseitigt und durch eine neue Generation karrierebewußter, dem Diktator verpflichteter Kader ersetzt hatte. Zum anderen -und vor allem -ist vor diesem innersowjetischen Hintergrund zu beachten, daß Hitler Stalin den Wechsel von der bisher defensiven zu einer offensiven Sicherheitspolitik ermöglichte, Stalin Hitler hingegen den Angriff auf Polen aus dem Kalkül, damit einen sich im Sommer 1939 abzeichnenden großen und selbstzerfleischenden Krieg zwischen den kapitalistischen Hauptmächten in Europa „indirekt auszulösen“ (A. Hillgruber); einen Krieg, aus dem sich die Sowjetunion heraus-halten, aber fortgesetzt Nutzen ziehen wollte. 3. Der deutsche Angriff am 22. Juni 1941 brachte Stalin genau in die prekäre Lage, „die er durch den Paktabschluß mit Hitler am 23. August 1939 langfristig hatte ausschließen wollen“. Verantwortlich dafür waren, so paradox das klingen mag, sein dogmatisches ideologisches Weltbild ebenso wie seine zu rationale Einschätzung der praktischen Politik Hitlers, seine Vernachlässigung von sicherheitspolitischen Grundsätzen und Erfordernissen der Landesverteidigung zugunsten territorialer Machterweiterungsinteressen. Der deutsche Angriff traf die Rote Armee deshalb unerwartet und verwickelte die Sowjetunion insgesamt bei für sie äußerst ungünstigen militärischen Ausgangsbedingungen in einen überaus grausamen und verlustreichen Existenzkampf.

IV.

Dem aus diesem kurzen Überblick über die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu, ziehenden Fazit sei das Wort eines polnischen Historikers vom Jahresbeginn 1988 vorangestellt: „Jeder muß für den Bereich der Geschichte der eigenen Nation einen moralischen Standpunkt einnehmen, erst dann mag er sich dafür interessieren, ob es woan-ders ähnliche Phänomen gab“ (Jerzy Borejsza in der Wochenzeitung „Polityka“ vom 2. Januar 1988). Wer als deutscher Historiker bereit ist, diesem Leitmotiv zu folgen, hat beim hier behandelten Thema stets (mit) zu bedenken: Es hieße alle Gewichte in unzulässiger Weise verschieben, ja alles verderben, wenn man die Würdigung der geschilderten Ereignisse und Probleme von 1933 und der folgenden Jahre ohne das Wissen um das Grauen des Vernichtungs-und Ausrottungskrieges des Dritten Reiches gegen die Sowjetunion ab 1941 beginnen wollte. Der Schatten, den die Millionen Toten werfen, kann auf keine Weise getilgt werden. Jeder Versuch, eine Darstellung oder sein Urteil davon freizuhalten, käme einer Fälschung gleich.

Nur mit einer solchen Grundeinstellung werden wir Deutsche den 23. August 1939 und den 22. Juni 1941 als Eck-und Schlüsseldaten in unserer wie der sowjetischen und der gesamteuropäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wirklich erfassen und angemessen würdigen können. Das Wissen darum, was nach 1933 kam und bis heute gekommen ist, prägt und bestimmt uns auch dann, wenn wir uns ganz von der Gegenwärtigkeit des damaligen Geschehens umfangen lassen, uns in sie hineinzusetzen versuchen. Heute wissen wir deshalb: Schon 1933 war für das deutsch-sowjetische Verhältnis ein Schlüsseljahr, weil in ihm in Deutschland ein Mann an die Macht gelangte, der sich von Anfang an die kriegerische Vernichtung des bolschewistischen Rußland und dessen weitgehende Umwandlung in eigenen, rücksichtslos zu germanisierenden Lebensraum zum Ziel setzte. Zugleich war dieses Ziel weder 1933 noch später zu rechtfertigen als Reaktion auf eine dieser Zielsetzung qualitativ entsprechenden Konzeption oder gar praktischen Politik des bolschewistischen „Todfeindes“ gegenüber Deutschland.

Ohne Abschwächung des keineswegs nur, aber eben auch hier manifesten Ausnahmecharakters der Diktatur des Dritten Reiches mit ihrem verbrecherischen Telos ist allerdings sofort danach auf den von der damaligen Kreml-Führung zu verantwortenden Anteil daran zu verweisen, daß Hitler die Verwirklichung seiner gegen die Sowjetunion gerichteten Zielsetzungen in Angriff nehmen konnte. Weil sich genau dazu -zu Stalins Außenpolitik vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und den amtlichen Versionen über Vorgeschichte und Sinn des Nichtangriffspakts vom August 1939 -seit 1988 immer mehr Publizisten und Historiker in der UdSSR mit kritischen Beiträgen für ein breiteres Publikum offen zu Wort melden, läßt sich erneut das für unser Fazit empfohlene Leitmotiv befolgen.

Schonungslos aufgeräumt wird zunächst einmal mit dem gängigen Argument von der im August 1939 für die Sowjetunion gewonnenen „Atempause“: Der Pakt habe vielmehr allein den Plänen Hitlers gedient, zunächst Polen zu zerschlagen, Nord-und Südosteuropa zu besetzen sowie sich gegenüber England und Frankreich Rückendekkung zu verschaffen, um sich dann gegen die UdSSR zu wenden. Hitler sei im Sommer 1939 gar nicht in der Lage gewesen, die Sowjetunion anzugreifen; dagegen stand die Rote Armee dann 1941 einem Feind gegenüber, der jetzt über weit mehr Divisionen, bessere Bewaffnung und neue Mit-streiter verfügte sowie vor allem über das inzwischen eroberte westeuropäische Potential an Industrie und Arbeitskräften. Hätte nicht, so die nun ebenfalls häufiger aufgeworfene Frage, eine 1939 zur Rettung Polens rückhaltlos mit den Westmächten verbündete Sowjetunion Hitler sehr wahrscheinlich vom Krieg abhalten können?

Wie dem auch sein mag -selbst in Moskau wird unter den Vorzeichen von „Perestrojka“, „Glasnost“ und „Neuem Denken“ inzwischen als illegal bezeichnet, was Ribbentrop und Molotow an beiderseitigen „Interessensphären“ im geheimen Zusatzprotokoll zum Pakt nebst Korrekturen in einem „Freundschaftsvertrag“ vom 29. September 1939 festlegten und was für ostmittel-und südosteuropäischen Anrainerstaaten der beiden Groß-(mächte eine politische wie menschliche Katastrophe zur Folge hatte.

Gerade daran läßt sich wiederum unschwer ablesen, daß und warum im Vordergrund der inzwischen endgültig vollzogenen Kursänderung -die Existenz des Zusatzprotokolls unumwunden anzuerkennen -weder in erster Linie noch gar ausschließlich das sowjetische Bemühen um historische Korrektheit steht. Mindestens zwei weitere Aspekte der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der Sowjetunion werden durch die Aufarbeitung der Hintergründe des Stalin-Hitler-Paktes maßgeblich beeinflußt und mitbestimmt: Zum einen stellt er einen zentralen Dreh-und Angelpunkt für die Auseinandersetzung mit der Herrschaft Stalins und dem Stalinismus an sich dar; zum anderen bündeln sich in ihm die Bestrebungen der baltischen und anderer betroffener Völker, ihre eigene Geschichte und ihr künftiges Verhältnis zur Sowjetunion neu zu bestimmen. Der 23. August 1939 bezeichnet mithin ein europäisches Schlüssel-datum von nicht nur historischem Gewicht, sondern auch von aktueller politischer Qualität.

Freilich ist in einer Hinsicht die Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes zu relativieren: Seine offenkundige Funktion für den Kriegsausbruch 1939 sollte nicht dazu verführen, den Gesamtverlauf des Zweiten Weltkrieges ausschließlich vor dem Hintergrund der Abmachung des 23. August zu interpretieren. Die Absprache der Diktatoren machte den Weg zur ersten Phase der Auseinandersetzung, dem noch auf Europa beschränkten Krieg, endgültig frei. Dagegen ist die Ausweitung zum Weltkrieg in Hitlers „Programm“ und seiner Lage-einschätzung nach der Niederwerfung Frankreichs angelegt; der deutsche Diktator und seine Erfüllungsgehilfen haben diese Ausweitung herbeigeführt und tragen dafür die alleinige Schuld und Verantwortung. Unmittelbar daran knüpft meine Schlußfeststellung an: Ohne die grundstürzenden Weichenstellungen 1933, 1939 und 1941 gäbe es bis in unsere Tage nicht so schwere und nur langsam abtragbare historische Lasten im deutsch-sowjetischen Verhältnis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans-Adolf Jacobsen, Primat der Sicherheit, 1928-1938, in: Dietrich Geyer (Hrsg.), Osteuropa -Handbuch. Sowjetunion. Außenpolitik I (1917-1955), Köln 1972, S. 229.

  2. Gustav Hilger, Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918-1941, Frankfurt-Berlin 1955, S. 241.

  3. Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, München 19873, S. 15.

  4. Andreas Hillgruber, Der Hitler-Stalin-Pakt und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, in: Historische Zeitschrift, 230 (1980), S. 357.

Weitere Inhalte

Karl-Heinz Ruffmann, Dr. phil., geb. 1922; o. Professor für Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg; emeritiert seit 1. 4. 1990. Veröffentlichungen u. a.: Sowjetrußland 1917-1977. Struktur und Entfaltung einer Weltmacht, München 19819; Fragen an die sowjetische Geschichte. 1918-1987, München 1987; (Mithrsg.) Osteuropa und die Deutschen, Berlin 1990.