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Der 22. Juni 1941: Anmerkungen eines sowjetischen Historikers | APuZ 24/1991 | bpb.de

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Der 22. Juni 1941: Anmerkungen eines sowjetischen Historikers

Andrej N. Mercalov

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Zusammenfassung

Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bedeutete nicht nur die Ausweitung der regionalen Kriegshandlungen zum Weltkrieg, sondern er war auch einer der Wendepunkte der neueren Geschichte überhaupt. Die Folgen sind bis in die jüngste Vergangenheit hinein bemerkbar. Während in der westlichen kriegsgeschichtlichen Literatur vor allem die Motive Hitlers für den Überfall diskutiert worden sind -ob es sich hier um einen „Präventivschlag“ handelte oder um eine unbegründete Aggression bzw. um einen weltanschaulichen Eroberungskrieg konzentrierte sich die neuere sowjetische Militärgeschichtsschreibung vornehmlich auf die Frage, warum der deutsche Überfall die sowjetische militärische und politische Führung derart überraschen konnte -mit katastrophalen Folgen für die Rote Armee wie für die Zivilbevölkerung. Entgegen immer noch anzutreffender Rechtfertigungsbemühungen für das eigensinnige Verhalten Stalins durch Verweise auf sogenannte „objektive“ Erklärungsursachen -etwa die angebliche technische Überlegenheit der deutschen Wehrmacht -unternimmt diese Studie den Versuch, die verantwortungslose persönliche Haltung Stalins und seiner engsten Berater in den kritischen Wochen und Monaten nach dem Überfall aufzuzeigen. Der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion war keine „Überraschung“ -wie sie gern von Stalins Apologeten bezeichnet wird -, sondern durch diplomatische wie Geheimdienstberichte sehr präzis datiert. In ihrem Allmachtswahn ignorierten Stalin und seine Berater diese Warnungen, und auch nach dem Einmarsch waren sie unfähig, sachgerechte, koordinierte Entscheidungen für eine rechtzeitige und effektive Abwehr zu treffen.

Der Überfall des faschistischen Blocks auf die UdSSR war einer der Wendepunkte der neueren Geschichte. Es prallten „zwei der kolossalsten Armeen, wie sie die Weltgeschichte bis dahin nicht gekannt hatte“, aufeinander, und der Ausgang dieses Zusammenstoßes bestimmte „die neuen politischen Kräfteverhältnisse in der ganzen Welt bis in unsere Tage hinein“ Bei den Worten „ 22. Juni“ drängen sich Fragen auf: Warum geschah dieser Angriff? Welchen Stellenwert hatte er für den Verlauf des Krieges? Wie hat er sich auf die Entwicklung der UdSSR und Deutschlands ausgewirkt? Bislang ist all dies von der internationalen Geschichtsschreibung in unzureichendem Maße erforscht worden. Die westdeutsche Historiographie war da in der Regel in einer glücklicheren Lage, denn das offizielle politische Prinzip der kritischen Vergangenheitsbewältigung war ihren wissenschaftlichen Aufgaben förderlich. Ein relativ freier Meinungswettstreit führte dazu, daß Objekte Einschätzungen über die Genese des Krieges sich schließlich durchsetzten. In der sowjetischen Geschichtsschreibung hingegen dominierte die apologetische Herangehensweise

I.

Wie kam es zum Krieg Deutschlands und seiner Verbündeten gegen die UdSSR? Bereits am 22. Juni 1941 tauchte in den Reden Hitlers und seiner Helfershelfer die These vom „präventiven“ und folglich auch gerechten Angriff auf. Deutschland sei unmittelbar vom „aggressiven Kommunismus“ und von „slawischen Horden“ bedroht gewesen und gezwungen, sich durch einen Angriff zu verteidigen. Diese Version bewies außerordentliche Zählebigkeit. Sie wird nicht nur in der neofaschistischen Publizistik, sondern mitunter auch von professionellen Historikern aufgegriffen. So bemühten sich etwa Ernst Nolte und seine Kollegen, sie in den achtziger Jahren im Zusammenhang mit der bekannten Diskussion, in der sie die Verbrechen der Faschisten mit dem Hinweis auf die „Verbrechen der Bolschewiken“ zu relativieren bzw. zu erklären suchten, wiederzubeleben. In letzter Zeit kam auch ihre subtilste Variante, die von zwei „Präventivkriegen“ (von Seiten Deutschlands als auch der UdSSR), auf. Zu Ehren der westdeutschen Geschichtsschreibung muß jedoch gesagt werden, daß diese Deutungsversuche eine starke negative Reaktion ausgelöst haben. Alles in allem ist der Versuch, den Faschismus mit Hinweisen auf den Stalinismus zu rechtfertigen, bei Historikern und anderen Gesellschaftswissenschaftlern auf Ablehnung gestoßen

In der Bundesrepublik und in den westlichen Ländern begann man in den fünfziger Jahren, der Legende vom „Präventivkrieg“ den Boden zu entziehen. Es waren vor allem die Arbeiten von H. -A. Jacobsen, die aufzeigten, daß dieser Krieg eine unverhohlene Aggression war, und die UdSSR im Sommer 1941 keinen Angriff auf Deutschland plante. Der Autor äußerte dabei den Vorbehalt, daß es ungewiß bleiben werde, wie Stalin sich im Falle eines ersten Mißerfolgs Hitlers im Krieg mit den Engländern verhalten hätte. Im nachhinein wurde Jacobsens Einschätzung in verschiedenen westdeutschen Publikationen, die die wahren Ziele der Faschisten im Osten Europas aufdeckten, untermauert. Ein Teil der sowjetischen Fachleute unterstützte aktiv diese Haltung. Die Mehrheit der Militärhistoriker mit P. A. Zilin an der Spitze wollte diese neue Tendenz in der westdeutschen Historiographie jedoch nicht zur Kenntnis nehmen und widmete sich mit unangemessen großer Aufmerksamkeit der Zurückweisung der erwähnten Legende. Dies war darauf zurückzuführen, daß man der Stalinschen Diplomatie in der sowjetischen Militärhistoriographie stets vorbehaltlos begegnete und der nichtmarxistischen Literatur gegenüber eine distanzierte Haltung einnahm.

Der Angriff auf die UdSSR ist ein Teil des Zweiten Weltkrieges. Die Ursachen und die Verantwortung dafür sind organisch miteinander verbunden. Die Lage in Europa kurz vor dem 1. September 1939 sah der französische Wissenschaftler H. Michel durchaus begründet als ein Dreieck Berlin-London-Moskau, wobei jedes Land auf Kosten des anderen einen Ausweg aus der Krise zu finden bestrebt war. Deutschland beabsichtigte, sich die Welt zu unterwerfen. Das war neu, denn bis zu diesem Zeitpunkt erstreckten sich hegemoniale Pläne auf bestimmte Regionen, und diesen Zielen entsprachen die Mittel. Die neuen Eroberer wurden durch keinerlei ethische oder rechtliche Normen gezügelt. Der deutsche Faschismus, der radikale Formen von Imperialismus, Militarismus, Rassismus und moderne militärtechnische Errungenschaften in sich vereinte, verfügte über eine beispiellos starke Kriegsmaschinerie. Seine Diplomatie hatte die Widersprüche der Gegner geschickt in ihre Strategie einzusetzen verstanden. Seiner Propaganda war es gelungen, die tatsächliche Stärke der Wehrmacht nicht nur in den Augen der Bürger, sondern auch vieler Staatsmänner des Westens und des Ostens um ein Vielfaches aufzubauschen. Nach Ansicht der meisten Historiker aller Länder und aller Einstellungen ist Deutschland der Haupt-schuldige des Krieges. Darum nimmt man heute von der These der drei „Kriegsherde“ Abstand. Italien wandelte sich bald vom Verbündeten Deutschlands zu seinem Satelliten. Japan führte im gewissen Grade einen „autonomen Krieg“, knüpfte eigenen allerdings an Erfolg den erwarteten Sieg Deutschlands. Es liegt bislang kein Dokument vor, welches das Globalprogramm des faschistischen Deutschland in seiner Gesamtheit wiedergäbe. Offenbar kann man in der Kette der Wehrmacht-Raubzüge auch Improvisation nicht ausschließen. Aber einzelne Dokumente und viele Geschehnisse bestätigen die Schlußfolgerung von der allen Völkern der Welt drohenden Gefahr. Ein besonderer Platz kam in diesem Programm der Eroberung Osteuropas zu, der Vernichtung der UdSSR wie übrigens auch jeden anderen Staatsgefüges, der Schaffung einer starken Basis für den Kampf mit den USA und die Unterwerfung der übrigen Welt. Es waren in erster Linie westdeutsche Wissenschaftler, die nicht nur die Ziele des Faschismus, sondern auch die Kontinuität dieser Ziele von Bismarck bis zu Hitler, die Interessen der Großindustriellen sowie anderer Machtelitegruppen an der Aggression und die vielfältigen Kriegsvorbereitungen offengelegt haben.

Großbritannien und sein wichtigster Verbündeter Frankreich hatten mit ihrer Taktik der Kompromisse wohl noch zu Beginn der dreißiger Jahre in Asien begonnen. Danach kamen Äthiopien, Spanien, Österreich und München. Was lag dieser Politik, die unkorrekt als „Appeasement“ bezeichnet wird, zugrunde? In dieser Politik sind gewisse Züge des britischen Kurses des „Gleichgewichts“ auf dem Kontinent und die Furcht vor radikal-demokratischen Bewegungen zu erkennen. Als Gegengewicht dazu sollte der Faschismus gestärkt werden, was dieser erfolgreich für sich auszunutzen wußte. Diese Politik berücksichtigte die Stimmung von Millionen von Menschen, die keinen neuen Krieg wollten. In diese Politik gingen auch einfache Fehler von Menschen, die in der Politik nicht sonderlich versiert waren, ein. In dieser Politik lag aber auch zynische Berechnung: Wenn „Große“ schachern, dienen Völker als Wechselgeld. England und Frankreich waren nichtaggressive Mächte. Nach ihem Sieg im Ersten Weltkrieg richtete sich ihr Streben lediglich darauf, ihren Status quo zu wahren. Die Ansprüche der „revisionistischen“ Mächte versuchten sie auf Kosten der UdSSR und dritter Länder zu befriedigen, was durchaus auch ideologischen Überlegungen entgegenkam. Die meisten Forscher sehen die „Appeasement“ -Mächte als am Kriege mitschuldig an. Apologeten sind hierbei ebenso selten wie Verfasser, die die Verantwortung allein bei Deutschland sehen. Die Schuld Deutschlands wird nur in der neofaschistischen Publizistik in Abrede gestellt. Bisweilen auch die kleinen werden Staaten irrtümlich mit den großen in dieselbe Verantwortung gestellt. Man kann jene wohl nicht nur als Statisten betrachten, allerdings waren sie es auch nicht, die das europäische Orchester dirigiert haben.

Die Haltung der USA in den Jahren 1939-1941 findet bei einigen Autoren vorbehaltlose Zustimmung, andere sehen dieses Land ebenfalls mitverantwortlich für München, aber alle Extreme sind wenig brauchbar. Roosevelt war ohne Zweifel ein großer Politiker. Früher als andere hatte er begrif-fen, daß die Interessen der westlichen Demokratien sich mit denen der UdSSR -ungeachtet ideologischer Gegensätze -deckten. Er hatte mehr als irgend jemand sonst zum Zusammenschluß der Kräfte im Namen allgemeinmenschlicher Interessen beigetragen. Es ist bezeichnend, daß Stalin, der sonst nicht dazu neigte, Unterschiede zwischen bürgerlichen Fraktionen und ihren Führern wahrzunehmen, noch vor dem Krieg Roosevelt „die mächtigste Gestalt“ in der modernen kapitalistischen Welt genannt hatte. Normalerweise rechnete er den Präsidenten der USA nicht denen zu, welche Aggressoren gegenüber Nachsicht übten. Allerdings erübrigt sich damit nicht die Frage, ob die amerikanische Regierung rechtzeitig alle für die Bildung einer antifaschistischen Koalition und somit zur Kriegsabwendung möglichen Schritte unternommen hatte, ob diese Alternative überhaupt vorlag oder die Völker erst die Erfahrungen von Coventry, Brest und Pearl Habor machen mußten, um sich von der Notwendigkeit eines geschlossenen Auftretens überzeugen zu lassen.

Man sollte sich jetzt aber auch der dritten Spitze des Mächte-Dreiecks zuwenden. Im Westen wird manchmal auch der Sowjetunion Schuld am Krieg gegeben. Einige Worte und Handlungen Stalins und seiner Umgebung bestätigen dies mehr oder minder. Die sowjetische Außenpolitik wurde von Lenin und seinen Kampfgefährten nach Beendigung des Bürgerkriegs und der Intervention ge-

prägt. Ende 1920 verzichtete Lenin, entgegen der Meinung der Mehrheit in der Partei, auf die These, die Welt befände sich kurz vor Ausbruch der Revolution und formulierte den Gedanken von der friedlichen Koexistenz zweier Gesellschaftssyste-Ime. Er sah diese Koexistenz nicht nur als eine Atempause, sondern als eine langwährende Entwicklungsphase. Noch zu Lebzeiten Lenins wurde dieser Gedanke beispielsweise im Auftreten der sowjetischen Delegation auf der Konferenz von Genua und im Abschluß des Rapallo-Vertrages 1922 mit Deutschland praktiziert. Diese Politik der Koexistenz hatte organische Verbindung zur Neuen Ökonomischen Politik (NEP): Die Wechselbeziehungen zweier Systeme wurden nicht nur auf den Bereich der Politik eingeschränkt, sie sahen auch Handel, Konzessionen, konvertierbare Währung u. a. vor. Nicht von ungefähr wurde die Politik der Koexistenz und NEP den fundamentalen Gesetzen der Epoche zugerechnet.

Stalin und seine Umgebung jedoch interpretierten diese Prinzipien auf ihre Art bzw. verwarfen sie einfach, obwohl sie in der Außenpolitik sonst mehr Umsicht walten ließen. Stalin, der seine Despotie mit der Flagge des Marxismus-Leninismus tarnte, konnte nicht offen militaristische Positionen beziehen. Nach dem Weltkrieg und dem Blutvergießen der Jahre 1914-1922 war der Gedanke an Krieg in der sowjetischen Bevölkerung wenig populär. Zu alledem gab es außerhalb des Landes sehr vieles, worauf Stalin keinen Einfluß zu nehmen vermochte und hier also nicht den „großen Umschwung“ bewerkstelligen konnte. Die Leninsche Tradition dominierte in der sowjetischen Außenpolitik;

ierin und/Litvinov waren es, die sie unmittelbar umsetzten. Sie konnten mit der Unterstützung Bucharins, Rykovs und in Militärkreisen mit der Tuchaevskijs rechnen. Ihre Bemühungen waren auf die Zusammenarbeit mit allen Staaten und gesellschaftlichen Kräften, die den Frieden wahren wollten, gerichtet. Mit dem Erscheinen der „havenots“ auf der Weltbühne wurde der Aufbau kollektiver Sicherheit zur Hauptaufgabe der UdSSR. Zu ihren Aktivposten zählen hier ihr Beistandspakt mit Frankreich, der Tschechoslowakei u. a.

Diese Realpolitik hat durch den Kurs Stalins stark gelitten. Seine Ausgangspunkte waren die Thesen von der Unvermeidlichkeit eines weiteren Weltkrieges, einer neuen antisowjetischen Intervention, dem nahen Ende des Kapitalismus und dem Sieg der Revolution in anderen Ländern. Seinen Weg der forcierten, mit brutalen Methoden durchgeführten Industrialisierung rechtfertigte Stalin mit der drohenden Kriegsgefahr. Sie bestand tatsächlich, aber nicht permament. Die UdSSR war zwar von kapitalistischen Staaten umgeben, aber sie waren ihr nicht alle gleichermaßen feindselig gesinnt. Noch Lenin rief dazu auf, sich auch an pazifistischen bürgerlichen Kreisen zu orientieren. Aber das Leninsche Geschick für politische Blockbildungen und Kompromisse (der Frieden von Brest-Litovsk mit Deutschland, der Friede von Riga mit Polen) mußte allmählich dem primitiven und erfolglosen Schema „Wer nicht mit uns ist, der ist unser Feind, der muß fallen“ weichen.

Stalin und seine Berater hatten nicht die Gabe, die Welt so zu sehen, wie sie tatsächlich war. Da sie von der Beschaffenheit des modernen Kapitalismus falsche Vorstellungen hatten, sprachen sie ihm generell den Friedenswillen ab. Wunschbilder wurden als Realität ausgegeben, Erfolge der UdSSR und der Befreiungsbewegungen übertrieben. Informationen, vor allem ausländische, wurden nach diesen Vorstellungen „aufbereitet“ und verloren damit an Objektivität. Die Suche nach neuen Wegen und entsprechende politische Initiativen galten als ketzerisch. Viele Alternativen, die sich in der Vorkriegszeit anboten, wurden ausgeschlagen. Von großem Nachteil war auch, daß man die Spezifik des Faschismus nicht begriff: Stalin hielt die falsche These Zinovevs von der Identität des Faschismus als der gefährlichsten Form des Imperialismus mit der Sozialdemokratie aufrecht und verpflichtete ihr im Prinzip alle Kommunisten. Im September 1924 bezeichnete Stalin die Sozialdemokraten als den „gemäßigten Flügel des Faschismus“. Neben diese „Zwillingsbrüder“ stellte er die Pazifisten, denen er alle humanitären Möglichkeiten absprach. Er warf den Parteien der II. Internationale vor, sie seien „Sklaven des Imperialismus“. In seiner Rede zur internationalen Lage auf dem 18. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) machte Stalin selbst zwischen der Politik der Westmächte und der Achsenmächte keinen wesentlichen Unterschied.

Mit einigen seiner Reden gab Stalin zu Vorwürfen Anlaß, daß er die ausländischen Staaten gegeneinander aufhetzen wollte, so 1925 mit der These vom „entscheidenden Gewicht“, das er im kritischen Moment eines Krieges zwischen Imperialisten in die Waagschale werfen wollte, um als Sieger her-vorzugehen. Dabei erwähnte er beiläufig Friedenspolitik der UdSSR. Sein Hauptgedanke war jedoch ein anderer: „Sollte aber der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können -wir werden auftreten müssen, allerdings zuletzt auftreten.“ In Wirklichkeit hatte Stalin nur eines damit erreicht, nämlich daß diese These seit Jahrzehnten erfolgreich gegen die Sowjetunion verwendet wird. So behauptete A. Hillgruber -eingedenk der Worte Stalins über „das entscheidende Gewicht“ -, daß der „Diktator“ bestrebt gewesen wäre, die „nichtrevisionistischen kapitalistischen Mächte als folgsame Ausführer seines Willens“ gegen die faschistischen Mächte auszuspielen. Daher, folgerte der Autor zu Recht, rührte das Mißtrauen gegenüber der UdSSR.

Entgegen Stalins unverantwortlichen Überlegungen spielten die Rolle des „lachenden Dritten“ im Zweiten Weltkrieg leider andere. Mein Land hatte bei Kriegsausbruch, hauptsächlich durch Stalins Schuld, keinen einzigen Verbündeten und geriet daher sofort in eine ausgesprochen schwierige Lage. Es hatte die Hauptlast der später entstandenen Anti-Hitler-Koalition zu tragen. Die Wehrmacht mußte an der Ostfront mehr als 70 Prozent ihrer Verluste hinnehmen.

Natürlich ließ es Stalin nicht nur bei Überlegungen bewenden, die hier teilweise schon vorgestellt worden sind. Er unternahm auch Schritte, die man losgelöst von diesen Überlegungen nicht zu begreifen vermag. Die Positionen von friedliebenden Kräften in der ganzen Welt wurden durch die Aktivitäten Stalins und seiner (nicht nur sowjetischen) Anhänger in der Komintern stark geschwächt. Nach dem Tode Lenins fand eine ungerechtfertigte Einmischung in innere Angelegenheiten von Parteien statt; eine fremde politische Linie wurde ihnen aufgezwungen. Stalin und seine Mittäter haben sich der Repressionen gegen viele Aktivisten der kommunistischen Bewegung und sogar gegen ganze kommunistische Parteien schuldig gemacht. Er ist auch schuld daran, daß man den 1935 auf dem VH. Komintern-Kongreß verurteilten Dogmatismus in der Praxis nur zu langsam ausmerzte. Dieses Verhalten wiederum stand der Entstehung einer Volksfront im Wege. Stalin hatte den größten Teil des Apparats der Komintern in sein Werkzeug verwandelt. Aber die Komintern waren in erster Linie ausländische Parteien, die sich durchaus nicht alle Stalins Diktat gebeugt hatten. Es sei an dieser Stelle an gemeinsame Aktionen von Kommunisten Österreichs und Frankreichs mit den Sozialisten, an die Beschlüsse des VII. Komintern-Kongresses und an den Beitrag der anderen Kommunisten -zusammen mit Demokraten -zur Vernichtung des Faschismus erinnert.

Stalin war außerstande, sich grundsätzlich Gedanken von Marx, Engels und Lenin über die Dialektik des Allgemeinmenschlichen mit dem Klassen-bedingten anzueignen. Der humanitäre Bereich war nahezu in Vergessenheit geraten, so daß so wichtige Kampfmittel gegen den Krieg wie die Abscheu vor Gewalt, Angst vor neuem Gemetzel, die in Europa nach dem Weltkrieg noch vorherrschten, sowie die pazifistischen Bewegungen ignoriert wurden. Sehr bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Aussagen herausragender Schriftsteller und Humanisten. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges schrieb Romain Rolland in sein Tagebuch über die UdSSR: „Dort hat sich ein Regime absoluter, unkontrollierter Gewalt, ohne auch nur eine Spur von Garantien der elementarsten Freiheiten etabliert... Ich unterdrücke in mir das Bedürfnis, darüber zu reden und zu schreiben ..., damit meine Worte Irrsinnigen in Frankreich und in der ganzen Welt nicht als vergiftete Waffen für die schlimmsten verbrecherischen Ziele dienen.“ Thomas Mann notierte am 23. November 1941 in seinem Tagebuch: „Man sah der neuen, irgendwie kommunistischen Welt, wie sie sich andeutete, mit Sympathie entgegen. In die Hände welches Halunken ist ihre Bewerkstelligung geraten!“ Zugleich sprach Thomas Mann in seinen Radiosendungen mit großer Achtung vom Helden-mut des sowjetischen Volkes.

II.

Von allen Handlungen Stalins in der Vorkriegszeit sind sein Pakt mit Hitler vom 23. August 1939 und die damit verbundenen Aktivitäten die umstrittensten. Dieses Thema steht nach wie vor auf der Tagesordnung vieler internationaler politischer und wissenschaftlicher Konferenzen. Besondere Bedeutung kommt dem Streit darüber zu, ob die geheimen Zusatzprotokolle tatsächlich existierten. Eigentlich ist er scholastisch, denn die Quintessenz der Protokolle war noch im September 1939 in der Presse offengelegt worden. Die Dokumente über die Demarkationslinie zwischen sowjetischen und deutschen Truppen an den Flüssen Pissa, Narew, Weichsel und San wurden in der Sowjetunion sofort nach dem Einrücken der Roten Armee in die westlichen Gebiete der Ukraine und Weißrußlands veröffentlicht. Direkt oder indirekt zeugten auch zahlreiche andere Fakten der Geschichte von der Existenz des Geheimabkommens, so z. B.der Abzug der deutschen Armee aus den von ihr besetzten Gebieten (Brest u. a.) und Einmarsch der Roten Armee dort. All dies hindert einige sowjetische Historiker jedoch nicht daran, die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zu leugnen, wie auch den Beschluß des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR zu dieser Frage zu mißachten

Wie schon damals Stalin behaupten diese Autoren, daß sich der Sowjetunion 1939 außer den Verträgen mit Deutschland keine annehmbare Alternative bot, obwohl sich eigentlich niemand bislang ausschließlich mit dieser Frage befaßt hat. Es hat bis heute auch niemand den Beweis erbracht, daß die Sowjetunion ihre Verhandlungsmöglichkeiten mit England und Frankreich -sogar bei gleichzeitiger Fortführung der Gespräche mit Deutschland -voll ausgeschöpft hätte; daß ohne Zustimmung der polnischen Regierung zum Durchmarsch der sowjetischen Truppen eine militärische Übereinkunft mit diesen Staaten ausgeschlossen war; daß die UdSSR bei Verzicht auf ein Abkommen mit Deutschland sofort von den faschistischen oder sogar den vereinten bürgerlichen Staaten überfallen worden wäre; daß der Nichtangriffspakt mit Deutschland sich unbedingt zu dem odiosen Freundschaftsvertrag auswachsen mußte; daß eine vollständige Neutralität der UdSSR nicht möglich war.

Im Lichte der neuen Erkenntnisse klingen die alten Behauptungen, Stalin sei „gezwungen“ gewesen, sich für ein Abkommen mit Hitler zu entscheiden, naiv -es war ein Vertrag gleichberechtigter Partner. Einseitig oder schlicht falsch sind auch die Aussagen über „Sondierungen“ und Hitlers „Ultimatum“. Der sowjetische Wissenschaftler Daiev hat aufgezeigt, daß unmittelbar nach dem Münchner Abkommen beide Diktatoren begannen, aufeinander zuzustreben. Es ist auch absurd, Stalins These wieder aufzugreifen, der Krieg sei vom Weltimperialismus mit England an der Spitze „ursprünglich als Krieg gegen die Sowjetunion“ geplant worden. Den Zweiten Weltkrieg hat der faschistische Block, angeführt von Deutschland, vorbereitet und ausgelöst; der Krieg richtete sich nicht ausschließlich gegen die UdSSR.

Die sowjetisch-deutschen Pakte von 1939 stehen in einer Reihe mit dem Münchner Abkommen. Stalin hat den „Appeasement“ -Kurs aufgenommen und fortgesetzt. Sowohl in München als auch in Moskau sind nichtaggressive Großmächte -auf Kosten der Unabhängigkeit von kleineren Staaten und einander zum Nachteil -mit dem Aggressor handelseinig geworden. Was nicht dahingehend ausgelegt werden kann, daß der Pakt vom 23. August 1939 Hitler grünes Licht für den Krieg gab. In Deutschland sind wichtige Materialien veröffentlicht worden, die zeigen, daß Hitler den Angriff auf Polen spätestens zum 1. September -lange vor der Unterzeichnung des Paktes und unabhängig davon -festgelegt und gebilligt hatte. Diese Entscheidung erfolgte nach Gewährung der britischen Garantien für Polen, denen Hitler nach München keinen allzu großen Wert beimaß. Außerdem war die Sowjetunion in die regionalen Kriege, die dem Weltkrieg vorausgingen und ihn vorbereiteten, nicht verwickelt.

Die Bedeutung der sowjetisch-deutschen Verträge wird tendenziös überbewertet. Man stellt zwischen ihnen und der gesamten Geschichte -angefangen mit dem Stalinschen konterrevolutionären Umsturz an der Wende zu den dreißiger Jahren bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 -eine künstliche Verbindung her. Diese tendenziöse Haltung wird noch dadurch bestärkt, daß Stalin und seine Nachfolger die Verträge in Politik und Historiographie verfälscht haben. Bis heute wird dieses unzureichend erforschte Thema von Gegnern der Union der Sowjetrepubliken und ihres sozialistischen Wegs mit Bedacht ausgenutzt. Es scheint zumindest zweifelhaft, eine direkte Verbindung zwischen den Stalin-Hitler-Verträgen und der Wiedereingliederung Lettlands, Litauens und Estlands in die UdSSR herstellen zu wollen. Ohne die stalinistischen Verbrechen gegen die Bevölkerung dieser Länder beiseite schieben zu wollen, bin ich dennoch der Ansicht, daß 1918 die Regierungskreise dort -als sie unter deutscher Okkupation den Austritt aus Rußland vollzogen -auf die Meinung ihrer Völker genauso wenig Rücksicht nahmen wie 1940, als sie den Ultimaten Molotovs Folge leisteten.

Es gibt zwei extreme Standpunkte: den traditionellen Stalinschen und den nicht minder einseitigen der Separatisten. Unter der Flagge der Volksverbundenheit lassen sie Jahrhunderte gemeinsamen Lebens der Völker in Rußand/UdSSR völlig außer acht. Das Gesagte gilt auch für die Wiedervereinigung Bessarabiens. Bislang sind diese Probleme von extrem ideologischen Gesichtspunkten aus behandelt worden; ihre wissenschaftliche Erforschung, frei von politischen Ambitionen, steht noch aus. Ein präziseres Urteil kann man bereits heute über die Wiederangliederung der ehemaligen westlichen Gebiete der Ukraine und Weißrußlands, die 1920 von Polen annektiert wurden, abgeben, die viele Historiker und Politiker verschiedener Orientierung in der ganzen Welt für gerecht erachten. Von der „Teilung“ Polens kann nur dann gesprochen werden, wenn man die von Ribbentrop und Molotov festgelegte Abgrenzung der beiden Armeen voneinander durch die Weichsel meint. Tatsächlich verlief die Demarkationslinie aber im September 1919 den Bug entlang, d. h., eine ethnische Grenze zwischen Polen einerseits und der Ukraine mit Weißrußland andererseits wurde wiedererrichtet. Mit derselben Sicherheit ist andererseits die Feststellung zu vertreten, daß der „Winterkrieg“ Stalins gegen Finnland eindeutig ein ungerechter Krieg war.

Auch in der Erforschung anderer Aspekte der Verträge von 1939 steht die Historiographie ebenfalls am Anfang. Wem waren sie von Nutzen? Nach Stalin dienten sie ausschließlich der Sowjetunion; aber bereits jetzt steht fest, daß dem nicht so war. Die Konservativen in der UdSSR verteidigen besonders eifrig die These, die Verträge hätten die Bildung der Anti-Hitler-Koalition vorbereitet. Allerdings kann so ein Gedanke nur autoritärem Denken entstammen, daß man mit dem Faschismus eine Übereinkunft erzielt, um sich mit Antifaschisten zu verbünden. Die Entstehung der Koalition 1942 ist vor allem auf Widersprüche zwischen zwei Gruppierungen in der kapitalistischen Welt zurückzuführen. Es gab keinen „glänzenden Sieg unserer Diplomatie“ am Vorabend des Krieges. Diese These hat der sowjetische Wissenschaftler N. G. Pavlenko mit Recht als „Dummheit“ bezeichnet.

Man wiederholt ferner Stalins Worte, daß der Anschluß von Gebieten die UdSSR Zeit gewinnen ließ. Ja, die Möglichkeit bestand, ebenso aber auch die Gefahr, daß man Aufmerksamkeit, Kräfte und Mittel auf die neu erworbenen Gebiete anstatt auf die Befestigung der alten Grenzen konzentrierte. Der Pakt hat die UdSSR nicht vor dem Angriff „gerettet“. Objektiv gesehen, hat er Hitler gestattet, den für die Aggression geeigneten Augenblick frei zu wählen. Der Pakt wirkte sich nicht nur auf die Genese des Krieges, sondern auch auf seinen Verlauf aus. So hat er eindeutig nicht dazu beigetragen, daß England und Frankreich ihre Positionen festigen konnten; ferner hat er keinesfalls die Widersprüche, die zum Krieg führten, verschärft. Ohne den Pakt wäre nach dem deutschen Überfall auf Polen das Eintreten der Westmächte in den Krieg sogar noch wahrscheinlicher gewesen.

Auf den ersten Blick scheinen einige andere Aktivitäten Stalins und seiner Umgebung für aggressive Absichten zu sprechen. So gab Stalin der Armee öffentlich die Parole aus, im Falle eines Krieges ausschließlich offensiv vorzugehen. Diesen Gedanken hat er auch in seiner Rede beim Treffen mit Absolventen von Militärakademien im Kreml am 5. Mai 1941 nachdrücklich betont. Ob das nun ein auf Hitler gemünzter Bluff war oder den realen Plänen entsprach, ist schwer zu sagen. Aber Historikern ist Genaueres bekannt. V. M. KuliS und N. G. Pavlenko berichten davon, daß der angesehene Militär A. V. Chrulev im Verlaufe einer Begegnung in der Redaktion der Zeitschrift „Voenno-istoriöeskij zumal“ zu Beginn der sechziger Jahre folgendes erzählte: „Oben“ wurde der Vorschlag geprüft, die strategischen Reserven an die Wolga zu verlegen; es war ein vernünftiger Vorschlag. Mechlis (Chef der politischen Hauptverwaltung), der darin beinahe Defätismus zu sehen vermeinte, sprach sich entschieden dagegen aus. Seine Ansicht fand Stalins Unterstützung, und die Reserven wurden in Grenznähe untergebracht (gleich in den ersten Kriegslagen fielen sie in die Hände des Gegners). Spricht das für Präventivschlagpläne gegen Deutschland oder ist das nur ein banales Beispiel für militärische Ignoranz und Dogmatismus?

Dasselbe ist auch über die Dislozierung der Truppen in den westlichen Bezirken, worauf in der Regel Anhänger der Präventivschlaglegende verweisen, zu sagen. Man könnte tatsächlich einige wichtige Elemente dieses nicht vollendeten Aufmarsches der Truppen als offensiv auslegen. Ein Großteil der Truppen war im operativ-taktischen Bereich entlang der Grenzen stationiert worden. An die Grenzen wurde ein Großteil der Waffen verlegt. Aber schon die ersten Kriegstage zeigten, daß die Armee weder zur Offensive noch zur Abwehr bereit gewesen war. In den letzten Jahren haben D. A. Volkogonov, V. V. Karpov und andere Historiker unter Hinweis auf Archive von ukovs „Vorschlag“ berichtet, einen Präventivschlag gegen die in der Nähe der sowjetischen Grenze stationierten deutschen Truppen auszuführen. Dieser Gedanke läßt sich auch aus den Erinnerungen einiger sowjetischer Heerführer wie z. B. A. I. Eremenko herauslesen. Der Entwurf eines solchen Dokuments existiert tatsächlich; er trägt aber nicht die Unterschrift des Generalstabschefs, und es bleibt ungewiß, ob diese Idee Stalin vorgetragen worden war. Man muß offenbar von der Ausarbeitung verschiedener Varianten ausgehen; das ist die Aufgabe eines jeden Generalstabs. Gleichwohl betrieb, insgesamt gesehen, der absolute Herrscher Stalin im Sommer 1941 zweifelsohne Defensivstrategie.

Des weiteren darf man nicht von strategischen Überlegungen für Kampfhandlungen und anderen rein militärischen Faktoren auf politische Ziele eines Staates schließen. Der deutsche Historiker M. Messerschmidt unterstreicht: „Aus der Dislozierung der Roten Armee kann allein nicht auf Angriffsabsichten 1941 geschlossen werden.“ Theoretisch läßt sich dieser Gedanke bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Einer der größten Militärhistoriker, H. Jomini -der in der Schweiz, Frankreich und Rußland gewirkt hatte -, widmete ein Kapitel seines Hauptwerks den „Verteidigungskriegen im politischen, jedoch Angriffskriegen im militärischen Sinne“. Die Schlußfolgerungen über die Art des Krieges, ob gerecht oder verbrecherisch, zog der Autor aus den politischen Zielen, nicht aber aus der Art des militärischen Handelns

Die am 22. Juni 1941 von Hitler begonnene Aggression kann nicht damit gerechtfertigt werden, daß Stalin irgendwann einmal Deutschland hätte angreifen können. Die faschistische Aggression hatte tiefe imperialistische Wurzeln. Von diesem Standpunkt aus kann man die Ansicht K. Hildebrands, daß die militärischen Ziele der UdSSR und Deutschlands in den Jahren 1939-1941 jeweils „autonom und doch zwillingshaft gleich“ waren, nicht so stehen lassen. Waren die annexionistisehen Ziele Hitlers nicht nur weithin bekannt und in vielen Bereichen auch bereits verwirklicht worden (Eroberung von nahezu ganz Europa), so konnte man Stalins Ziele 1939-1941 lediglich erahnen.

In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, daß in der sowjetischen Publizistik der letzten Jahre die These aufgetaucht ist, der Krieg sei „nicht ums Überleben des sowjetischen Volkes, sondern um die Wahrung und Festigung der diktatorischen Macht Stalins“ geführt worden. Real gesehen, war der Faschismus weit mehr als nur eine Bedrohung für Stalin, sein Leben und seine Macht. Der Krieg gegen den Faschismus ist daher ganz gewiß zu Recht zum „Vaterländischen Krieg“ erklärt worden. Die Ziele Stalins und des Volkes stimmten unter jenen konkreten Bedingungen noch überein, aber die Vernichtung des Faschismus wendete eben nicht nur die Gefahr der Abhängigkeit ab, sondern brachte auch die Festigung der Tyrannei in der Sowjetunion mit sich.

Die Verfasser der aufgeführten These -Stalin habe den Krieg zur Festigung seiner Macht gebraucht -betrachten das Phänomen, entgegen den Forderungen der Dialektik, statisch. Stalins Ziele wechselten jedoch -von panischer Angst über die Bereitschaft zum schändlichen Separatfrieden im Jahre 1941 bis zur Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und imperialen Ambitionen 1945. Diese Autoren bringen nicht die Gabe mit, Widersprüche zu vereinbaren. Denn die Taten Stalins dürfen nicht die heroische Tat von Millionen von Menschen in den Schatten stellen.

Begründeter erscheinen da die Einschätzungen H. -A. Jacobsens. Zur Erinnerung: Er lehnte die These von Eroberungsplänen Stalins im Sommer 1941, allerdings mit Vorbehalt, ab. Die neueste Kritik am Stalinismus verleiht diesem Vorbehalt durchaus Gewicht, obwohl anhand der Quellenlage nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden kann, daß Stalin Deutschland bei erstbester Gelegenheit überfallen hätte. Zum jetzigen Zeitpunkt kann lediglich davon gesprochen werden, daß die unkluge, verbrecherische Politik Stalins, Molotovs und der anderen politischen und militärischen Berater die faschistische Aggression provoziert und beschleunigt hatte. Der Überfall wäre nicht -zumindest nicht im Sommer 1941 -erfolgt, wenn Stalin und seine Helfershelfer nicht kurz vorher die Rote Armee und die Rüstungsindustrie ihrer Spitze beraubt hätten und das Abenteuer Stalins in Finnland Hitler nicht endgültig im Glauben bestärkt hätte, die Kampffähigkeit sowjetischer Truppen habe stark nachgelassen. Als Ermunterung diente Hitler auch, daß Stalin selbst ein Mindestmaß an Vorkehrungen unter der Devise „kei-nen Anlaß zu geben“ untersagte, ebenso wie andere direkte und indirekte Konzessionen gegenüber den Faschisten.

III.

Der 22. Juni 1941 nimmt in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs eine Schlüsselposition ein. Eine neue Phase des Krieges begann, obwohl sie nicht sofort als solche zu erkennen war. In den ersten Monaten verlief der Ostfeldzug der Wehrmacht nach dem üblichen Schema; sie befolgte wie immer ihr Konzept der Blitzkriege. Gerade auf sie setzte man die größten Hoffnungen, da Deutschland wegen knapper wirtschaftlicher und menschlicher Ressourcen für einen langen Krieg nicht gerüstet war. Vertreter der deutschen militärischen Führung, die gesunden Menschenverstand besaßen, hatten bereits während der ersten Kämpfe begriffen, daß die Wehrmacht es im Osten mit einem vollkommen andersgearteten Gegner zu tun hatte. Nichtsdestoweniger begleitete die Deutschen auch hier zunächst ein schwindelerregender Erfolg. Womit läßt sich dies erklären? Meiner Meinung nach vor allem mit dem überraschenden Angriff.

Vorab sollten wir uns jedoch auf Definitionen einigen. Stalin war bestrebt, dem Volk den Gedanken des Überraschungsangriffs zu suggerieren. Als er jedoch den Begriff „Überraschung“ in seiner herkömmlichen Bedeutung benutzte, um seine Kapitalfehler zu rechtfertigen, log er. Apologeten des Stalinismus betonen auch heute noch vor allem die wortbrüchige und überraschende Art des Über-falls (als ob man von Faschisten eine in der zivilisierten Welt übliche Kriegserklärung hätte erwarten können!). Genauso wie Stalin vermeiden sie, präzise zu definieren, was unter „Überraschung“ zu verstehen ist. Nach Ansicht einiger Autoren waren sowjetische Führer durchaus nicht dem Irrtum verfallen, zu glauben, ein Krieg mit Deutschland ließe sich vermeiden; Stalin bezweifelte allerdings, daß Hitler es wagen würde, einen Krieg zu beginnen. Andere wiederum meinen, daß Stalin fest daran glaubte, das Unheil abwenden zu können. Es gibt auch den Standpunkt, daß von Überraschung keine Rede sein konnte, da die UdSSR allseitige Abwehrvorkehrungen traf. Es kam auch die Behauptung auf, die nicht einmal Stalin für sich in Anspruch zu nehmen wagte, daß die „Geschichte“ der UdSSR zu wenig Zeit gelassen hätte.

In Wirklichkeit verhielt es sich damit jedoch so, daß sehr viele -von Stalin bis zu Millionen von Rotarmisten und friedlichen Bürgern in den westlichen Grenzbezirken -nicht nur um die allgemeinpolitischen Ziele Hitlers in Osteuropa, sondern auch um die direkt auf die Sowjetunion zielenden Absichten der Wehrmacht wußten. Es war allerdings nicht erlaubt, daran zu glauben, und Äußerungen darüber wurden geahndet. Wie dem auch sei, der Überfall war eine Überraschung mit der man gerechnet hatte. Der wirkliche Überraschungseffekt lag woanders: Ein Großteil der Truppen war nicht gefechtsbereit. Der Kriegsausbruch überraschte die Armee in Kasernen oder Zeltlagern, zum Zeitpunkt des Überfalls schliefen viele ganz einfach. Das war die beste Methode, die Truppen in den Tod oder die Gefangenschaft zu schicken. Die Überraschung lag darin, daß sich Stalin und seine Gruppe am Vorabend des Über-falls und danach im Schockzustand befanden. Alles in allem waren sie außerstande, die militärische Lage, den Gegner und seine Absichten adäquat einzuschätzen.

Darüber legen zahlreiche, der Wissenschaft bereits bekannte Fakten Zeugnis ab. So war es der Wehrmacht gelungen, die sowjetische Führung hinsichtlich ihrer Angriffsschwerpunkte und darüber, daß sie hier über eine sechs-bis achtfache Überlegenheit verfügte, zu täuschen. Das konnte jedoch nur geschehen, weil Stalin die rechtzeitige und zutreffende Lagebeurteilung des Generalstabs verwarf, die davon ausging, daß der Hauptstoß im Westen erfolgen würde. Stalin und seine Berater haben vor dem Angriff nicht das erforderliche Mindestmaß an Vorkehrungen getroffen, und sie zeigten sich danach vollkommen verwirrt. Es sei beispielsweise nur an die absurde Weisung Nr. 2 vom 22. Juni 1941 erinnert, die Grenzüberschreitungen untersagte. Die Rote Armee zog sich beinahe an der ganzen Frontlinie zurück, die Wehrmacht war auf dem Vormarsch, und Moskau bewegte nach wie vor die Sorge, „keinen Anlaß zu geben“. Erst gegen Mitternacht des 22. Juni 1941 erhielten die Militärbezirksstäbe den Mobilisierungsbefehl des Generalstabes. Aber auch hier erging die Warnung, „sich nicht provozieren zu lassen“. Von oben kamen jedoch auch ganz anderslautende Anordnungen. Am 22. Juni 1941 um 21. 15 Uhr unter-schrieb der Volkskommissar für Verteidigung die Weisung Nr. 3, die lautete, der Feind sei zu vernichten und die Kampfhandlungen auf sein Territorium zu verlegen.

Die Berichte über Stalins Verhalten in den ersten Kriegstagen sind widersprüchlich. Meiner Ansicht nach hat I. S. Isakov das zutreffendste Urteil abgegeben; der Admiral berichtet über Stalin, daß dessen Zustand an hochgradige Erschöpfung gegrenzt habe. Andere Augenzeugen beschreiben eine seelische Erschütterung oder sogar einen ganz gewöhnlichen Trinkexzeß. Die Armee war im Untergang begriffen, und der „Große Feldherr“ wartete in der Sicherheit seiner Datscha in Kuncevo ab. Das ganze Hauptquartier, erinnert sich Chrulev, konnte sich in den ersten Wochen nicht von seinem Lähmungszustand befreien. Diese Eindrücke versucht man mit Hinweisen auf Stalins Besucherheft für den 21. -28. Juni 1941 zu widerlegen. Dazu sei angemerkt, daß dieses von Stalins Sekretär geführte „Heft“ nicht als zuverlässige Quelle gelten kann, da darin Eintragungen fehlen. Und das Allerwichtigste ist -viele Entscheidungen, die in der „Kuncevo“ -Woche fielen, sind, weil sie unbrauchbar waren, nicht zur Ausführung gekommen oder einfach verworfen worden. So verfuhr man etwa mit dem Beschluß des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der VKP(B) vom 23. Juni 1941 über die Ernennung S. K. Timoenkos zum Leiter des Hauptquartiers des Oberkommandos der Streitkräfte. Bereits am 10. Juli übernahm Stalin persönlich die Leitung des Hauptquartiers. Dem „Führer“ fiel es offensichtlich schwer Juli übernahm Stalin persönlich die Leitung des Hauptquartiers. Dem „Führer“ fiel es offensichtlich schwer, seinen Platz innerhalb der militärischen Führung zu finden. Darin zeigt sich ebenfalls die Überraschung des Angriffs. Ein anderes Beispiel: Die am 24. Juni festgelegte Zusammensetzung des Rates für Evakuierung wurde schon am 16. Juli wesentlich abgeändert 9).

Sehr plastisch werden die „Niedergeschlagenheit“ und die Hilflosigkeit Stalins und seiner Umgebung am Vorabend sowie zu Beginn des Krieges in den Erinnerungen des Generals L. M. Sandalov, der Marschälle N. N. Voronov, K. S. Moskalenko und K. K. Rokossovskij gezeichnet. Vor kurzem sind Angaben veröffentlicht worden, nach denen die meisten Befehlshaber der westlichen Grenzbezirke über den Plan zur Verteidigung der Staatsgrenze und den Aufmarsch der Truppen vor Beginn der Kriegshandlungen nicht informiert waren. Aufschlußreich ist eine ganze Serie von Befehlen, die in den ersten Kriegsmonaten aus der Feder von Stalin, Timoenko, Zukov und den anderen Berater Stalins kamen. Da ist der berühmt-berüchtigte Befehl Nr. 270 über in Gefangenschaft geratene Rotarmisten. Er verletzte elementare Prinzipien des Völkerrechts, die in der zivilisierten Welt geltenden Kriegskonventionen. Ähnlich kritisch war der Zustand des „Führers“ im Oktober/November 1941 während der Schlacht um Moskau, ukov schreibt: „Stalin sah so verwirrt aus wie nie zuvor.“ 10)

Die unmittelbaren Folgen des Überraschungsangriffs waren katastrophal. Dem Gegner das Überraschungsmoment abzutreten, war schon immer ein Geschenk für ihn. Aber etwas dem 22. Juni 1941 Vergleichbares kannte die Kriegsgeschichte bis dahin nicht. Es handelt sich nicht nur darum, daß der Gegner mit dem Erstschlag die Initiative an sich riß. Er hatte innerhalb einiger Monate fast 90 Prozent der in den westlichen Bezirken stationierten Truppen, d. h. die Basis der Kaderarmee, vernichtet. Ihm fielen ungeheure Mengen an militärischer Ausrüstung und Reserven in die Hände er eroberte Raum, das Kräfteverhältnis wandelte sich radikal. Im Unterschied zum Jahre 1812 fand sich im Land kein Heerführer, der einen mit geringen Verlusten verbundenen Rückzug hätte veranlassen und die Armee vor dem Untergang retten können. Die unzähligen Anstrengungen des Volkes für die Landesverteidigung waren damit fast völlig vergeblich geworden. Einen Überraschungsangriff des Gegners zuzulassen, bedeutet eigene Positionen aufzugeben, die Schlüssel zur belagerten Festung zu überreichen, den Feind ins Landesinnere zu lassen. Eben das führte zu gigantischen Verlusten in der Zivilbevölkerung der UdSSR (nach meinen Berechnungen ca. 13 Millionen). Manche Gebiete des Landes wurden zweimal, sogar viermal von der schrecklichen Walze des Kriegsgeschehens überrollt. Den Faschisten bot sich die Gelegenheit, zur Verwirklichung ihres „Generalplans Ost“ zu schreiten.

Die Folgen der „Überraschung“ blieben nicht nur auf die Phase des Angriffs beschränkt. Ihre schreckliche Spur zog sich über den ganzen Krieg hinweg, war noch Jahrzehnte später bemerkbar. Die Überraschung und ihre Folgen blieben auf die Stalinsche Kriegsführung nicht ohne Wirkung. Unsachgemäße Amtsführung, Dogmatismus, Abenteurertum, Bürokratismus und Grausamkeit waren nicht allein Stalin und nicht nur bis zum Herbst 1942 eigen, was einige Militärhistoriker nachzu-weisen trachteten. All dies führte zu gigantischen Gefechtsverlusten, die vier bis fünf Mal größer waren als die deutschen. Das wirkte sich für die weitere Entwicklung der Sowjetunion in den Bereichen Wirtschaft, Demographie, Psychologie, Politik und Verteidigung unheilvoll aus

IV.

Ganz natürlich stellt sich da die Frage, wer die Verantwortung für die „Überraschung“ trägt. Stalin wies die Schuld -Gebote des gesunden Menschenverstandes mißachtend -der Niedertracht der Faschisten, der Gutmütigkeit des sowjetischen Volkes und desgleichen mehr zu. In Wirklichkeit kann es ohne Fehlkalkulationen bei der Führung der sich verteidigenden Seite eigentlich zu keiner Überraschung kommen. In einer demokratischen Gesellschaft wäre sie zweifellos vor Gericht gestellt worden; in der sowjetischen Autokratie jedoch hatte die Sache mit der Erschießung der Befehlshaber der Westfront ihr Bewenden. Mit der grausamen Bestrafung zweitrangiger Personen wollten Stalin und seine Clique sich eine Rechtfertigung verschaffen. In einem Land ohne jedwede Opposition, das sich in einer schwierigen Kriegslage befand, wurde die Frage nach den Haupt-schuldigen nicht einmal gestellt. Wie die böse Ironie des Schicksals es wollte, standen sie weiter an der Spitze des kämpfenden Volkes und der Armee. Wer aber sind denn nun die Schuldigen?

Ich kann die Meinung des Dichters K. M. Simonov von „der Verantwortlichkeit der Gesellschaft, unserer eigenen Verantwortlichkeit“ nicht teilen. Verantwortlichkeit kann nicht allgemein und verschwommen sein. Wenn alle verantwortlich sind, gibt es keine Schuldigen! Die Hauptschuld für die verbrecherischen Fehleinschätzungen und Handlungen liegt bei Stalin, Molotov und den anderen engsten Beratern des „Führers“. Die „sorglose Gelassenheit“, die Stalin sowjetischen Menschen zum ersten Male am 3. Juli 1941 vorwirft, war in erster Linie ihm selbst eigen. Ein Anteil der Schuld fällt auf Timoenko und Zukov, die Stalin vom Ausmaß der Gefahr und von der Unzulänglichkeit seiner Haltung nicht zu überzeugen vermochten. Ebenso kann eine gewisse Verantwortung den Befehlshabern des sowjetischen Geheimdienstes und der westlichen Grenzbezirke nicht abgesprochen werden. Auch unter der Herrschaft von Willkür und Terror haben sie die vorhandenen Möglichkeiten -wie das Beispiel der baltischen und der Schwarzmeerflotte zeigt -nicht voll genutzt.

Es ist bekannt, daß alle Militärs, insbesondere nach den Repressionen 1937/1938, vor Stalin und seinen Günstlingen in der Armee wie Zdanov und Mechlis Angst hatten. In der Antike pflegte man zu sagen, daß es den allergrößten Mut beweise, dem Satrapen die Wahrheit zu sagen. Kann man einem Menschen zum Vorwurf machen, daß er einer Heldentat nicht fähig war? In diesem Fall stand aber die Existenz eines ganzen Volkes auf dem Spiel, und ich kann mich nicht der Ansicht Volkogonovs und einiger anderer Autoren anschließen, daß es „schwer ist, Schuldzuweisungen vorzunehmen“ Bislang ist es noch niemandem gelungen, irgendwelche überzeugenden Argumente zugunsten dieses Gedankens beizubringen. Auch die von Stalins Vertrauten gelieferten Argumente stehen auf schwachen Füßen Zukov z. B. erwähnt seinen Glauben an die Unfehlbarkeit Stalins. Hatte sich denn aber das „militärische und politische Genie“ Stalin nicht schon vor dem 22. Juni, vor allem während des sowjetisch-finnischen Krieges, blamiert? Übrigens hat Zukov bis zu seinem Tode seinen „Patron“ fast vergöttert Zu der Last der Verantwortung für den Überraschungsschlag der Deutschen Wehrmacht kommt noch ein weiterer Umstand erschwerend hinzu: Das Problem des Erstschlags ist so alt wie Kriege selbst, wie die Literatur darüber. Darauf, daß im 20. Jahrhundert Kriege nicht mehr erklärt, sondern überraschend begonnen werden, hatte schon Lenin aufmerksam gemacht, als dessen Erben Stalin sich fortwährend apostrophierte. „Was ist ein Führer wert, der die Wachsamkeit seiner Armee einschläfert“, hatte Stalin selber ausgerufen Dieser Gedanke fand in den dreißiger Jahren seinen Niederschlag in den sowjetischen Armeedienstvorschriften, er wurde von Militärwissenschaftlern in Arbeiten, auch anhand von Erfahrungen der Wehrmacht 1939-1941 und sogar der Roten Armee, z. B. in den Kämpfen am Chasan-See, entwickelt. Für alle militärischen Führer lag die Bedeutung einer verschenkten Überraschung vollkommen klar auf der Hand.

Einer der zur damaligen Zeit angesehenen Parteifunktionäre, V. A. Trofimov, betonte in seinem militärstrategischen Buch „Kontury grjaduej vojny": „Mit den allerneuesten Kriegsmitteln sind mächtige Waffen für Luft-und Bodenangriffe geschaffen worden, wobei die Leistungskraft dieser Waffen bei Überraschungsangriffen um das Hundertfache steigt. Es muß übrigens festgestellt werden, daß alle bei uns in Anbetracht der gegenwärtigen Situation unumstritten einräumen, daß Faschisten die Sowjetunion plötzlich und unerwartet angreifen werden, daß daraus jedoch beileibe nicht alle die richtigen Schlüsse ziehen. Viele betrachten diese Schlußfolgerungen mit unheilvoller Gutmütigkeit und verharren aus irgendeinem Grunde bei der Überzeugung, daß sie sich in bezug auf irgendwelche anderen Staaten, aber nicht auf die UdSSR bewahrheiten wird. Diese seltsamen Menschen weigern sich zu glauben, daß es vor allem und gerade sie sein könnten, die der Donner einschlagender Bomben eines Tages aus dem Schlaf reißen wird.“ Im Jahre 1937 schickte der Autor sein Buchmanuskript an Stalin und wurde bald darauf erschossen

Wußte denn Stalin überhaupt, daß ein Angriff vorbereitet wurde? Aufgrund zahlreicher Quellen kann man heute diese Frage eindeutig positiv beantworten. Die Versuche, die Haltung Stalins mit dem Hinweis auf widersprüchliche Informationen zu rechtfertigen, sind von vornherein vergeblich. Es gab objektive Meldungen aus den verschiedensten Quellen. Obwohl Stalins Repressionen dem sowjetischen Geheimdienst einen schweren Schlag versetzt hatten, tat dieser seine Pflicht. Leopold Trepper aus Paris, Richard Sorge aus Tokio, Harro Schulze-Boysen aus Berlin, H. Kegel aus der deutschen Botschaft in Moskau und viele andere Agenten haben beizeiten durchaus vollständige Informationen über die faschistischen Pläne geliefert. Stalin und seine Gruppe hatten zum mindesten ein halbes Jahr Zeit, die durchaus starke Armee gefechtsbereit zu machen. Mitteilungen desselben Inhalts gingen bei Stalin auch von den sowjetischen Botschaftern in Berlin, London und Washington, von Churchill, Roosevelt, Mao Zedong, ja sogar vom deutschen Botschafter in Moskau, Schulenburg, ein. Im April/Mai 1941 kamen Nachrichten über die bevorstehende Aggression aus allen mit Deutschland verbündeten Ländern. Bei seinem Besuch in Moskau im August 1942 erinnerte Churchill Stalin an sein Telegramm vom April 1941. Er hätte keiner Warnungen bedurft, entgegnete Stalin. Er hätte gewußt, daß ein Krieg beginnen würde, allerdings damit gerechnet, noch ungefähr sechs Monate Zeit zu gewinnen.

Vor Kriegsbeginn hatte der „Große Stratege“ jedoch noch etwas anderes von sich gegeben. Am 17. Juni 1941 unterrichtete der sowjetische Geheimdienst NKGB Stalin: „Die Quelle im Stab der deutschen Luftwaffe teilt mit: Deutschland hat die militärischen Maßnahmen für einen bewaffneten Angriff auf die UdSSR vollständig abgeschlossen, der Schlag kann jederzeit erfolgen.“ Stalins Verfügung dazu: „An Genossen Merkulov. Kannst eure , Quelle 4 aus dem Stab der deutschen Luftwaffe zum Teufel schicken. Das ist keine , Quelle 4, sondern ein Desinformant, I. St.“ Was kann es Schlimmeres als eine vorgefaßte Meinung, dazu noch im militärischen Bereich, geben? Das starre Befolgen eines ein für allemal verinnerlichten Dogmas, auch wenn die realen Bedingungen dagegen sprechen, erwies sich als eines der Merkmale des Stalinismus. Einige Autoren geraten hingegen angesichts der darauf folgenden Katastrophe in unkluge Begeisterung: „Noch nie zuvor war es einem anderen Staat beschieden, eine derartig schwierige Aufgabe zu erfüllen.“ Allerdings hatte auch nie zuvor ein Staatsoberhaupt Fehler begangen, die Verrat oder Irrsinn derart nahekamen. Keineswegs in der Absicht, das sachkundig -insbesondere in der Desinformation -betriebene Handwerk der deutschen Wehrmacht schmälern zu wollen, möchte ich gern die Worte eines deutschen Memoirenschreibers paraphrasieren: „Nicht Hitler war es, der gewann, aber Stalin erlitt eine Niederlage.“

In der Geschichtsschreibung herrscht keine einheitliche Meinung darüber, wo genau in der Reihe der Ursachen für die im Juni und in den folgenden Monaten des Jahres 1941 erlittenen Niederlagen der Roten Armee die „Überraschung“ einzuordnen ist. „Die Überraschung ist bei weitem nicht die Hauptursache“, behaupten einige Historiker. Wie schon seinerzeit Stalin verweisen sie auf eine gewisse militärisch-technische Überlegenheit der Wehrmacht gegenüber der Roten Armee. Tatsächlich hatte sie aber der Wehrmacht in nichts nachgestanden, wenn nicht sogar diese in einigen Kennziffern übertroffen. Es wird ferner erklärt, im Ost-feldzug habe sich die Wehrmacht auf das gesamte Rüstungspotential der bereits eroberten europäi-sehen Länder stützen können. Demnach entstünde ein seltsames Bild: Solange die Wehrmacht sich hauptsächlich auf die Kraft des eigenen Landes verließ, war sie erfolgreich, sobald sie jedoch fremdes Potential herangezogen hatte, begann sie -ab 1943 -Niederlagen zu erleiden. Stalins Nachfolger haben sein Erklärungsschema ausgebaut und die These von den „objektiven“ (hauptsächlichen) und den „subjektiven (nebensächlichen) Faktoren für die Niederlage aufgestellt.

Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß alle „objektiven“ Faktoren in Wirklichkeit ihren Ursprung in den subjektiven Fehleinschätzungen Stalins und seiner Gruppe hatten. Es gab keine objektiven Gründe für die Niederlagen. Die eingleisige Denkweise Stalins machte es ihm unmöglich, alle Komponenten der schwierigen Situation in der Welt von damals zu erfassen. Unter seiner Alleinherrschaft und Willkür fand sich niemand, der die Entscheidungen in die richtige Bahn hätte lenken können. Gab es auch militärische Alternativen? Ja, zweifellos! Wäre die Rote Armee mit ihrer Stärke und ihren Mitteln beizeiten in sofortige Gefechtsbereitschaft versetzt worden, so hätte der Krieg, auch bei Fehlern in der Abwehr-planung,von Anfang an einen ganz anderen Verlauf genommen. Es sei ganz klar, daß „die Macht geschlafen hat“, schrieb am 23. Juni 1941 der bekannte Wissenschaftler V. I. Vemadskij und zielte damit auf Stalins Diktatur.

Somit brachte der 22. Juni 1941 das Fiasko der Stalinschen politischen und militärischen Strategie an den Tag. Die UdSSR stand zum Zeitpunkt der Aggression ohne Verbündete da, die Armee wurde überrumpelt. Die „Überraschung“ wurde in bedeutendem Maße durch die außerordentliche seelische Kraft des Volkes und der Armee neutralisiert. Trotz immer neuer Fehlkalkulationen der obersten Führung wurde dank des erbitterten Widerstands von Volk und Armee das Land gerettet. Eine besondere Rolle spielte in den Jahren 1941/1942 auch der geopolitische Faktor der UdSSR. In den folgenden Jahren gewannen zudem die Verbündeten immer mehr an Einfluß auf den Verlauf und Ausgang des Krieges. Der Führung unter Hitler mißlang es aufgrund ihrer Abenteuer-politik, die außerordentlich günstigen Umstände für sich auszunutzen. Der Plan eines Blitzkrieges war vereitelt worden und damit auch die Hoffnungen des Aggressors.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Übersetzung aus dem Russischen: Olga Löwen, Köln. Axel Kuhn, Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion, in: Manfred Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1977, S. 639.

  2. Die Arbeiten des Verfassers waren da keine Ausnahme. Radikale Konservative in der UdSSR kritisieren z. B. A. M. Samsonov und andere Historiker, die in ihrer Kritik des Stalinismus von einigen ihrer früheren Positionen abgerückt sind. Ist es aber nicht die Pflicht eines Wissenschaftlers, sein Wissen ständig zu vervollkommnen und sich entschlossen von Irrtümern und sich als falsch erwiesenen Konzeptionen zu trennen?

  3. Vgl. die Dokumentation: Historiker-Streit, München 1987; Ulrich Hörster-Philipps/Reinhard Kühnl, Hitlers Krieg?, Köln 1989; Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1989) 4, S. 673-715; Novaja i novejaja istorija, (1990) 1, S. 171-184.

  4. Vgl. z. B. Voenno-istorieskij urnal, (1990) 12, S. 42.

  5. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1989) 9, S. 1073.

  6. Vgl. . omini, Kratkoe nacertanie voennogo iskusstva, St. Peterburg 1840, S. 33 und 38.

  7. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, (1986) 2, S. 89.

  8. Vgl. z. B. Voenno-istoriöeskij urnal, (1991) 2, S. 10.

  9. 1418 dnej vojny, Moskau 1990; Voenno-istorieskij urnal, (1989) 3, S. 62-69.

  10. Vgl. Voenno-istoriöeskij urnal, (1990) 3, S. 15.

  11. Ausführlicher dazu: Andrej Mercalov, in: Kommunist, (1990) 6.

  12. Zitiert nach: Urok daet istorija, Moskau 1989, S. 289.

  13. Vgl. z. B. Delo Berija. Plenum CK KPSS, 2-7 ijulja 1953 g., in: Izvestija CK KPSS, (1991) 2.

  14. Vgl. Maral ukov. Kakim my ego pomnim, Moskau 1988, S. 96; Pravda vom 20. 1. 1989.

  15. Zitiert nach: I. Stalin, Voprosy leninizma, Moskau 1935, S. 609.

  16. Zitiert nach: Moskovskaja pravda vom 26. 8. 1988.

  17. Zitiert nach: Izvestija CK KPSS, (1990) 4, S. 221. Siehe auch: Izvestija CK KPSS, (1990) 5, S. 206-210.

  18. Sovetskij tyl v pervyj period Velikoj Oteestvennoj vojny, Moskau 1988, S. 96.

Weitere Inhalte

Andrej Nikolaevi Mercalov, geb. 1922; Kriegsteilnehmer, Oberst i. G. a. D.; Professor, Doktor der historischen Wissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Auf der Suche nach der historischen Wahrheit, 1984; Der Große Vaterländische Krieg in der Historiographie der BRD, 1989; zahlreiche weitere Monographien und Zeitschriften-artikel zu militärgeschichtlichen Themen.