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Moderner Okkultismus als kulturelles Phänomen unter Schülern und Erwachsenen | APuZ 41-42/1993 | bpb.de

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APuZ 41-42/1993 Jugend und Religiosität Faszination Esoterik Moderner Okkultismus als kulturelles Phänomen unter Schülern und Erwachsenen Scientology -der geistesmagische Konzern

Moderner Okkultismus als kulturelles Phänomen unter Schülern und Erwachsenen

Hartmut Zinser

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit einigen Jahren ist eine zunehmende Verbreitung okkulter Praktiken und Vorstellungen unter Jugendlichen zu konstatieren. In vier statistischen Erhebungen wird gezeigt, daß im Westen für ein Viertel der Jugendlichen okkulte Praktiken zum Alltag gehören; im Osten dagegen waren nur rund zwölf Prozent an solchen beteiligt. Allerdings benutzen Erwachsene okkulte Praktiken aus Neugier, Interesse am Außergewöhnlichen, zur Unterhaltung oder zur Orientierungs-und Entscheidungshilfe häufiger als Jugendliche. Der moderne Okkultismus ist ein Glaubensgebilde, das ein Jenseitiges hinter der wahrnehmbaren Wirklichkeit annimmt, zu dem der Okkultist durch seine -meist -technischen Verfahren Zugang zu haben und es manipulieren zu können behauptet. Der Grundfehler des modernen Okkultismus ist eine unzulängliche Unterscheidung von Wahrnehmung und Deutung.

I. Beschreibung der verbreitetsten okkulten Praktiken

Seit einigen Jahren wird vor allem in der Presse über eine zunehmende Verbreitung okkulter Praktiken und Vorstellungen unter Jugendlichen berichtet, der Erwachsenenokkultismus rückt dabei selten ins Blickfeld. Einzelne extreme Ereignisse, wie der Mord am Möhnesee oder die Ermordung eines Schülers in Sondershausen in diesem Jahr, haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die Sektenbeauftragten der Kirchen warnen vor okkulten Praktiken. Lehrer und Erzieher sehen sich in der Schule, auf Freizeiten und Klassenfahrten mit Gläserrücken und Pendeln konfrontiert, von denen sie vorher nie etwas gehört haben. Welche okkulten Praktiken werden von Schülern und Erwachsenen tatsächlich ausgeübt? Aus welchen Gründen beteiligen sie sich an diesen? Welche Bedürfnisse, die offensichtlich keine anderen Befriedigungen erhalten, finden darin ihren Ausdruck? Schließlich stellt sich die Frage, was der moderne Okkultismus sei, wodurch er von „magisch“ genannten Handlungen und Vorstellungen auf der einen Seite, von Religion auf der anderen und schließlich von Wissenschaft zu unterscheiden ist? Auch ist nach den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen zu fragen, die der moderne Okkultismus anzeigt.

Unter dem Begriff Okkultismus werden verschiedene Vorstellungen und Praktiken verstanden, die wie das Pendeln bereits aus der Antike überliefert oder wie die Kirlianphotographie erst vor kurzem entstanden sind. Dazu werden weiter gezählt: Gläserrücken, Kartenlegen, Tischrücken, Levitation (freies Schweben), Astrologie, Hellsehen oder Telepathie (Femwahmehmung), Telekinese (Bewegen von Gegenständen durch übersinnliche Kräfte), Radiästhesie (Wahrnehmung von Erdstrahlen), „channeling“, Poltergeisterscheinungen, außersinnliche Wahrnehmung, Materialisation (Bildung körperhafter Gebilde in Abhängigkeit von einem Medium), Mediumismus (Glaube an* S. eine Beziehung mit einer angenommenen Geisterwelt), Geistheilung, Ufologie, Schwarze Messen und vieles andere. Am verbreitetsten unter den selbst ausgeübten Praktiken sind Pendeln und Kartenlegen.

Beim Pendeln wird eine Schnur mit einem Pendel, Ring oder Ähnlichem über einen Finger gelegt und eine Bewegung des Pendels abgewartet. Der Ausschlag des Pendels (nach links, rechts oder im Kreis) wird als Antwort auf eine vorher formulierte Frage gedeutet. Es gibt auch Vorlagen mit Buchstaben, über denen gependelt und der nacheinander folgende Ausschlag des Pendels zu einzelnen Buchstaben zu Wörtern zusammengesetzt wird, die als Mitteilungen der Geister, Extraterrestrischen usw., aber auch des eigenen Unbewußten interpretiert werden.

Beim Kartenlegen werden heute meist Tarotkarten benutzt. Diese werden gemischt, während man über die Fragen, die man den Karten vorlegen will, meditiert. Den einzelnen Karten ist eine meist mehrdeutige Symbolik zugeschrieben, die in den entsprechenden Anleitungen nachgelesen wird. Aus der Reihenfolge der Karten und dem ihnen im Legesystem zugewiesenen Platz werden Deutungen der aktuellen Situation und der Zukunft her-ausgelesen.

Beim Gläserrücken setzen sich die Beteiligten um einen Tisch und legen einen Finger auf das in die Mitte gestellte umgedrehte Glas. Am Rand des Tisches sind das Alphabet und die Zahlen ausgelegt. Nach einer Weile fängt das Glas an, sich zu bewegen und rückt zu einem Buchstaben, danach zu weiteren. Die dadurch entstehenden Wörter werden als Mitteilung der Geister, Verstorbenen oder je nach der angenommenen Auffassung gedeutet.

Als „Schwarze Messen“ werden verschiedene Veranstaltungen bezeichnet, bei denen unter Umkehrung christlicher Symbole, z. B.des Kreuzes, Luzifer oder das Böse angerufen und verehrt wird. Diese sollen auf einem Friedhof oder an anderen unheimlichen Orten durchgeführt werden. Dabei werden alle „heiligen“ Symbole entweiht, auch wird gelegentlich von perversen und gewalttätigen sexuellen Handlungen berichtet. Da diese Kultveranstaltungen kaum direkt beobachtet werden kön­ nen, läßt sich nicht entscheiden, was in den Berichten auf tatsächlich Vorgefallenes und was auf die durch eine entsprechende Literatur angeregte Phantasie zurückzuführen ist.

Bei der auf die Sumerer zurückgehenden Astrologie wird aus der Stellung der Gestirne bei der Geburt, aber auch der augenblicklichen Konstellation zum Zeitpunkt der Befragung auf Lebensweg und Charaktereigenschaften einer Person geschlossen. Die Astrologie wird für wichtige Lebensentscheidungen wie Partnerwahl herangezogen. Da die Deutung der Sterne mit einem erheblichen Berechnungsaufwand verbunden ist, wird die Astrologie in der Regel von „Spezialisten“ vorgenommen. Schüler benutzen auch aus Kostengründen meist die täglichen Zeitungshoroskope, die von der sich „seriös“ nennenden Astrologie als ungenau oder gar als unsinnig verworfen werden.

Telepathie (Hellsehen) bezeichnet die behauptete Fähigkeit eines Menschen, ohne Hilfe verbaler oder nonverbaler Kommunikationsmittel die Gedanken und Gefühle eines anderen zu erkennen. Unter Hellsehen wird auch die Fähigkeit verstanden, objektive frühere, gleichzeitige oder zukünftige Ereignisse zu erkennen. Diese Ereignisse sollen unabhängig von Raum und Zeit erkannt werden können.

Mit Radiästhesie (Strahlenfühligkeit) soll ein Mensch in der Lage sein, sog. Erdstrahlen, Kraftfelder, Erze, Wasseradern usw. mit Hilfe einer Wünschelrute oder des Pendels feststellen zu können. Die Wünschelrute wird in labilem Gleichgewicht gehalten und ihre Ausschläge als Reaktion auf bestimmte Reize interpretiert.

Bei Tonbandeinspielungen werden die aufgenommenen Geräusche aus dem Äther, aus dem Selbst-lauf der Geräte, der Wasserspülung o. a. als Mitteilung der Verstorbenen oder Geister gedeutet.

Bei der Kirlianphotographie wird die Hochfrequenzstrahlung von Körpern, die auf einer photographischen Platte festgehalten werden, als Darstellung der „Aura“ eines Menschen oder Gegenstandes gedeutet, aus der Auskünfte z. B. über die Gesundheit gesucht werden

Die meisten okkulten Praktiken setzen implizit oder explizit die Lehre des Spiritismus voraus, nach dessen Auffassung ein Mensch bei seinem Tode nicht gänzlich stirbt, sondern ein Teil von ihm in einem Raum außerhalb unserer Welt überlebt. Diese Geister könnten durch geeignete Techniken herbeigerufen und befragt werden. Bestimmte Menschen (Medium) behaupten von sich, z. B. in Trancezuständen über die Fähigkeit zu verfügen, mit den Geistern zu kommunizieren. Von manchen Okkultanhängem wird vom Spiritismus der okkulte Animismus unterschieden; nach deren Auffassung sind okkulte Erscheinungen allein auf telepathische oder andere paranormale Wirkungen noch Lebender zurückzuführen. Eine dritte Auffassung setzt ein „überpersönliches Weltbewußtsein“ voraus, in welchem alles Geschehen, überhaupt alles „Geschehensmögliche“ irgendwie eingezeichnet ist. Einem Medium sei es durch seine besondere Begabung möglich, zu diesem „plan-oder doch katalogtragenden Weltsubjekt“ eine Verbindung herzustellen und dadurch Unbekanntes aus Vergangenheit und Zukunft zu erfahren

Schließlich wird den okkulten Praktiken auch zugeschrieben, als „Steigrohre“ des eigenen Unbewußten zu dienen. Diese letzte Deutung der Phänomene dürfte den tatsächlichen psychologischen Gegebenheiten wenigstens teilweise entsprechen. Da in der Parapsychologie -der von M. Dessoir und T. K. Oesterreich vorgeschlagene Name für den „wissenschaftlichen Okkultismus“ 5-in der Regel die Grundsätze der wissenschaftlichen Methoden und Theorien nicht beachtet werden, zählen z. B. O. Prokop, W. Wimmer, A. Gertler und W. Mattig sie ebenfalls zu den Erscheinungsformen des modernen Okkultismus. Um eine -kaum überzeugende -Verteidigung der Parapsychologie bemühten sich E. Bauer und bis zu seinem Tode der Freiburger Parapsychologieprofessor H. Bender

II. Verbreitung okkulter Praktiken

Um die tatsächliche Verbreitung okkulter Praktiken unter Schülern und Erwachsenen in Erfahrung zu bringen, hat der Autor zusammen mit Wolfgang Hahn von 1989 bis 1991 vier quantitative Erhebun­gen durchgeführt diese waren mit qualitativen Interviews verbunden und wurden mit kleineren statistischen Befragungen fortgesetzt. Zunächst wurden 2 200 Westberliner Schüler im Alter von 13 bis 20 Jahren, dann 500 erwachsene Schüler des Zweiten Bildungsweges (ZBW) im Alter von 23 Jahren, danach 1100 erwachsene und heranwachsende Studierende im Alter zwischen 16 und 30 Jahren an Fachschulen für Erziehung etc. und schließlich 2000 Ostberliner Schüler im Alter von 13 bis 18 Jahren mit Hilfe eines Fragebogens um Auskunft gebeten. Die Erhebungen zeigen, daß für ein Viertel der jugendlichen Schüler in Westberlin okkulte Praktiken passiv oder aktiv, zwischen Spiel und Emst zum Alltag gehören. Rund drei Viertel meinen über diese Praktiken informiert zu sein, und knapp die Hälfte wünscht weitere Informationen zum Thema Okkultismus. Von den erwachsenen Schülern des ZBW und den Fachhochschulstudenten haben rund die Hälfte die eine oder andere okkulte Praktik bereits einmal ausgeübt, ein Viertel führt zumindest eine okkulte Praktik gegenwärtig aktiv aus; ein Bedürfnis nach weiteren Informationen besteht bei zirka der Hälfte; der Informationsstand unterscheidet sich kaum von dem jugendlicher Schüler.

Wenn man die Ergebnisse der Befragungen der erwachsenen Schüler und Studierenden auf die Gesamtbevölkerung verallgemeinern dürfte, so müßte festgestellt werden, daß okkulte Praktiken unter Erwachsenen verbreiteter sind als unter Schülern. Allein mit einer solchen Verallgemeinerung wird man vorsichtig sein müssen, auch wenn den Erwachsenen, die sich zu einem erneuten Besuch einer Schule oder zu einer weiteren Berufsausbildung entschließen, eine für gesellschaftliche Entwicklungen indikative Bedeutung zugesprochen werden kann. Die Ergebnisse der Ostberliner Befragung unterscheiden sich deutlich. Nur knapp zwölf Prozent üben die eine oder andere Praktik aus, der Informationsstand ist geringer und das Bedürfnis nach weiteren Informationen deutlich höher

Am häufigsten sind von allen Befragten Pendeln und Kartenlegen (zwischen 15 und 37 Prozent) ausgeübt worden, danach rangiert Gläserrücken. An Schwarzen Messen haben sich im Westen 2 bis 2, 4 Prozent der Befragten aktiv beteiligt und 1 bis 1, 9 Prozent passiv zugesehen. Im Osten lagen die Zahlen unter einem Prozent. Die erschreckenden Mitteilungen in der Presse über Schwarze Messen basieren wohl eher auf vereinzelten Vorkommnissen. Die in der Zwischenzeit durchgeführten kleineren Befragungen in Ostberlin und im Umland, für die keine Repräsentativität beansprucht wird, legen nahe, daß im Osten die Schüler auch im Bereich der okkulten Praktiken „aufgeholt“ haben. Mädchen und Frauen beteiligen sich an okkulten Praktiken im Westen wie im Osten zwei bis vier Mal so häufig wie Jungen und Männer; allerdings ist bei den Erwachsenen zu berücksichtigen, daß bei der Befragung die Frauen in deutlicher Überzahl waren, während bei den jugendlichen Schülern das Verhältnis der Geschlechter ausgeglichen war.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Befragung von J. Mischo der 1990/91 in Rheinland-Pfalz 1754 Schüler befragt hat. Leider sind früher keine Erhebungen zur Verbreitung okkulter Praktiken durchgeführt worden oder bekannt geworden, so daß die Frage, ob in den letzten Jahren eine Zunahme der Beteiligung an diesen zu verzeichnen ist, nicht auf vergleichbarer Grundlage beantwortet werden kann. Allerdings gibt es Indikatoren, die eine Zunahme des Okkultismus anzeigen. Das Angebot an okkulten oder esoterischen Büchern und Zeitschriften hat deutlich zugenommen; die meisten Taschenbuchverlage verfügen mittlerweile über eine Esoterik-Reihe.

Während in den fünfziger Jahren im Verzeichnis der lieferbaren Bücher nicht einmal eine eigene Rubrik für esoterische und okkulte Literatur aufgeführt ist, macht diese in den letzten Jahren bis zu 14 Prozent des Umsatzes des deutschen Buchhandels aus. Fast alle Buchhandlungen haben inzwischen eine Sparte Esoterik eingerichtet, und in den letzten Jahren ist zunehmend die Eröffnung von Geschäften, die sich auf den Verkauf esoterischer und okkulter Literatur und Utensilia spezialisieren, zu beobachten. In einer zuerst 1976 und dann 1990 vom Aliensbacher Institut durchgeführten repräsentativen Umfrage unter 2180 Personen der alten Bundesländer zum „volkstümlichen Aberglauben“ zeigte sich, daß 1976 41 Prozent den in dem Fragebogen aufgeführten „magischen Glücksbringern“ keine Bedeutung zumaßen, während es 1990 nur noch 34 Prozent waren Diese Umfrage unterstützt die Annahme einer zunehmenden Verbreitung okkulter Vorstellungen in den letzten Jahren, und es wird darauf ankommen, nach den gesellschaftlichen und individuellen Konflikten und Veränderungen zu fragen, die zu einer Ausbreitung des Okkultismus geführt haben. Von den Jugendlichen und Erwachsenen in Ost und West wurde „Neugier“ am häufigsten als Grund für eine Beteiligung an okkulten Praktiken genannt, als zweiter ist „Interesse am Außergewöhnlichen“ und als dritter „Unterhaltung“ angegeben. Mit einigem Abstand folgt die Angabe von „Orientierungs-und Entscheidungshilfe“. Wenn man allerdings nur die Gruppe der aktiv eine okkulte Praxis Ausübenden herausgreift, so wird dieser Grund von bis zu 36 Prozent der Befragten angeführt und dies von den Erwachsenen fast doppelt so oft wie von den Jugendlichen. Die genannten Gründe verweisen auf das, was die Jugendlichen und Erwachsenen durch die okkulten Praktiken zu finden hoffen.

Die Religionszugehörigkeit spielt für die Beteiligung an okkulten Praktiken keine nennenswerte Rolle. Evangelische und katholische Jugendliche und Erwachsene verhalten sich wie ihre konfessionslosen Altersgenossen. Ebenso zeigen sich in der Schichtenzugehörigkeit, die in den Untersuchungen nur indirekt am Schultyp gemessen werden konnte, keine signifikanten Unterschiede.

III. Moderner Okkultismus

Was der moderne Okkultismus ist, ist weniger umstritten, als Vertreter des Okkultismus, der Parapsychologie und neuerdings des New Age glauben machen wollen. Der Theologe H. J. Ruppert definiert: „Der Begriff Okkultismus ... faßt weltanschauliche Richtungen und Praktiken zusammen, die beanspruchen, das Wissen und den Umgang mit den unsichtbaren, geheimnisvollen Seiten der Natur und des menschlichen Geistes besonders zu pflegen. Er bezieht sich einerseits auf bestimmte okkulte Praktiken wie Magie, Pendeln, Wahrsagen oder die Vielzahl spiritistischer Praktiken der Geister-und Totenbefragung mit Hilfe des wandernden Gläschens, klopfender Tische oder anderer Indikatoren. Andererseits ist aber auch das sog. Geheimwissen gemeint, wie es von okkulten Weltanschauungsgemeinschaften ... in sog. Geheimwissenschaften systematisiert wird, die den Horizont der herkömmlichen Natur-und Menschenerkenntnis in okkulte Bereiche hinein erweitern. Da diese Bereiche in ihrer Realität umstritten und nicht allgemein einsehbar sind, ist der Okkultismus seit jeher ein Tummelplatz von Täuschung und Verführung.“

Bereits 1909 schrieb C. Kiesewetter: „Ich verstehe unter okkulten Vorgängen alle jene, von der offiziellen Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannten Erscheinungen des Natur-und Seelenlebens, deren Ursache den Sinnen verborgene, okkulte sind, und unter Okkultismus die theoretische und praktische Beschäftigung mit diesen Tatsachen bzw.deren allseitige Erforschung.“ Eine ähnliche Bestimmung gibt der Parapsychologe J. Mischo: „Unter Okkultismus wird hier die praktische und theoretische Beschäftigung mit den geheimen, verborgenen, von der Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannten Erscheinungen des Natur-und Seelenlebens verstanden, die die gewohnten Gesetzmäßigkeiten zu durchbrechen scheinen und vielfach als , übernatürlich* angesehen werden.“

Die Bestimmungen des Okkultismus von Kiesewetter und Mischo gehen explizit oder implizit davon aus, daß den von den Okkultisten behaupteten oder angenommenen Erscheinungen des Natur-und Seelenlebens eine äußere, von den wahrnehmenden und deutenden Menschen unabhängige Realität zukommt. Diese Erscheinungen werden nur als von der Wissenschaft noch nicht erkannte oder in ihr noch nicht allgemein anerkannte betrachtet. Nun wird man hier deutlich unterscheiden müssen. Denn selbstverständlich gibt es viele Phänomene, die von der Wissenschaft noch nicht erkannt oder verstanden sind, die in das Gefüge des wissenschaftlichen Weltbildes nicht integriert sind. Auch gibt es vergangene Ereignisse und Erscheinungen, die den Wissenschaften wahrscheinlich immer unzugänglich bleiben werden; z. B. sind Aussagen über die zukünftigen Entwicklungen immer nur von begrenztem Wert, und ob es jemals gelingen wird, die Sprache der Neandertaler oder der Menschen von Lascaux zu rekonstruieren, bleibt mehr als zweifelhaft. Für die Sozial-und Naturwissenschaften gilt weitgehend, daß sie nur Aussagen machen können über Ereignisse und Vorgänge, die Gegenstand kon­ trollierbarer Erfahrung und theoretischer Durchdringung sein können

Alles auf Jenseitiges Bezogene, sei es wie in der Religion auf Gott oder wie im Okkultismus z. B. auf Geister, die durch ihre Definition als unsichtbare Wesen direkter Erfahrung nicht zugänglich sein sollen, wird aus systematischen und methodischen Gründen als nicht der Erkenntnis, nicht dem Wissen zugänglich abgewiesen. Der Gerichtsmediziner Prokop kann deshalb als Definition des Okkultismus schreiben: „Bedeutung im wissenschaftlichen Sinn: okkult = verborgen, geheim. Dinge, die sich einer wissenschaftlichen Beurteilung entziehen, die für wissenschaftliche Methodik verborgen (= okkult) sind.“ Als Erklärungen werden in den Sozialwissenschaften nur Soziales und Geschichtliches, in den Naturwissenschaften nur Natürliches usw. anerkannt. Dabei ist durchaus einzuräumen, daß in den Wissenschaften Theorie-und Vorstellungselemente enthalten waren und sind, die aus der animistischen, mythologischen oder religiösen Vorstellungswelt der menschlichen Gattungsgeschichte stammen. Auch bleibt festzuhalten, daß den Wissenschaften viele Erscheinungen und Prozesse noch unbekannt oder unverständlich sind.

Aber diese Tatsache bedeutet dennoch nicht, daß diese Vorgänge und Ereignisse deswegen okkult sind. Die Unkenntnis bleibt ein Nichtwissen, und es besteht kein Recht, aus der Unwissenheit Aussagen über die Eigenschaften des Unbekannten herzuleiten. Okkult werden die unerkannten Erscheinungen erst in einer bestimmten Deutung, indem dem Unbekannten Eigenschaften, wie z. B. die Wirkung von Geistern zu sein, zugeschrieben werden. Dies ist am leichtesten bei den mechanischen Vorgängen erkennbar, die der Okkultismus heranzieht, um Mitteilungen der Geister, Verstorbenen, der Extraterrestrischen oder eines „plan-und katalog-tragenden Weltsubjekts“ zu erhalten.

Ein an einem Stativ aufgehängtes Pendel bewegt sich nur nach den physikalischen Gesetzen und kommt nach Abgleichung der Energie zur Ruhe. Ein über einen Finger gelegtes Pendel erhält durch den das Pendel haltenden Menschen ständig neue Energie und dadurch Bewegung. Diese Bewegungen sind bewußt oder unbewußt gesteuert (Carpenter-Effekt). Die Bewegung des Pendels kann unter Laborbedingungen genau beobachtet werden, und es reagiert, wie die als physikalische Gesetze bezeichneten Regeln angeben. Für eine Erklärung der verschiedenen Ausschläge sind keine Geister etc. erforderlich. Es zeigt sich also, daß nicht der Vorgang des Pendelns okkult ist, sondern die Deutung dieses Vorgangs in einem bestimmten Weltbild. Okkultismus ist deshalb keine Sache an und für sich, okkult keine Eigenschaft, die den Dingen und Vorgängen selber zukommt, sondern ein bestimmtes Weltbild, das mit den Grundsätzen der modernen Wissenschaft nicht vereinbar ist.

Der Grundfehler des Okkultismus ist, daß er nicht, auf jeden Fall nicht zureichend, zwischen Wahrnehmung und Deutung unterscheidet. Dies läßt sich an allen okkulten Praktiken zeigen, sofern sie unter wissenschaftlichen Bedingungen beobachtet werden können. Der Okkultist geht mit einem vorher bestehenden Wahrnehmungsmuster an die Erscheinungen heran und sieht dann das, was er sehen will bzw. was durch das Wahrnehmungsmuster vorgegeben ist.

Nun werden bei wissenschaftlichen Untersuchungen vorher Hypothesen gebildet, und zumindest insoweit gehen auch in wissenschaftliche Vorstellungen auf früheren Erfahrungen basierende Begriffe, Vorannahmen und von bewußten oder unbewußten Wünschen und Ängsten getragene Projektionen ein. Aber die Wissenschaft ist bemüht, diese Vorannahmen und Wahmehmungsmuster aufzuspüren. Sofern sich Wissenschaft auf Soziales, Geschichtliches und Psychisches bezieht, also den Menschen selbst zum Gegenstand der Erkenntnis macht, ist sie von derartigen Wahrnehmungs-und Urteilsverzerrungen besonders betroffen, denn soziale Realität konstituiert sich wesentlich auch durch die gesellschaftlichen Vorstellungen Aber die Wissenschaft hat z. B. in der methodischen Selbstkritik, besonders in der systematischen Frage nach den Erscheinungen und Überlegungen, die der eigenen Position widersprechen, ein Verfahren entwickelt, mit dem sie solchen von Wünschen und Ängsten hervorgerufenen Projektionsbildungen beikommen kann. Es sei nicht bestritten, daß dies schwierig ist. Da Wissen-schaft auch von sozialen Interessen dirigiert wird, jedenfalls nicht unabhängig ist von denen, die sie betreiben oder in derem Interesse sie betrieben wird, haben diese Schwierigkeiten auch gerade in den Sozialwissenschaften zu vielen die Wahrnehmung leitenden kritisierbaren Theoriebildungen geführt.

Das Eingeständnis der Unzulänglichkeit des Wissens, der Unwissenheit in vielen Dingen, muß wohl zu einer Bescheidenheit des Anspruchs der Wissenschaft führen, kann aber keine Rechtfertigung sein, falsche Anschauungen und Theorien als „höheres Wissen“ auszugeben und anzuerkennen. Vielmehr wird nach den Wünschen, Ängsten und Projektionsbildungen gefragt werden müssen, die Menschen veranlassen, eine okkulte Deutung von meist bekannten Vorgängen anzunehmen. Der moderne Okkultismus behauptet in der Regel, Wissen zu sein, und unterscheidet sich dadurch von „abergläubisch“ oder „magisch“ genannten Vorstellungen und Handlungen vorindustrieller Kulturen, von denen nicht beansprucht wird, Wissen im wissenschaftlichen Sinne, sondern eben Glaube zu sein. „Aberglaube“ und „Magie“ sind Glaubensgebilde, die nach den Lehren der Kirche ein falscher Glaube sind und deshalb „AberGlaube“ genannt werden.

Der moderne Okkultismus behauptet zugleich nicht nur, daß es ein Jenseitiges zu unserer erfahrbaren Welt gebe, sondern auch, daß er es durch geeignete Methoden erkennen und sich verfügbar machen könne. Dadurch unterscheidet er sich von Religion, in der ein absolut Jenseitiges eben geglaubt wird, das durch keine Mittel verfügbar gemacht werden kann. Der Okkultismus macht aus diesem religiösen Jenseitigen und Verborgenen ein durch technische Verfahren zugängliches „Zeitliches, Diesseitiges, Endliches“ Der Okkultist verwandelt das absolut Jenseitige der Religion in ein Empirisches, er respektiert die Würde des Glaubens nicht und überschreitet die Möglichkeiten der Wissenschaften. Der Okkultismus versucht meist mit technischen Mitteln, eines Jenseitigen, Transzendenten, des Geistigen habhaft zu werden, welches in der industriell-bürokratischen Lebens-welt verlorenzugehen scheint. Damit macht er den Geist zu einer Sache und stellt, wie der Philosoph Th. W. Adorno schrieb, „das Komplement zur Verdinglichung“ dar

IV. Voraussetzungen okkulter Vorstellungen und Praktiken

Welche Gründe lassen sich für eine Hinwendung zu okkulten Praktiken anführen?

Zunächst darf nicht übersehen werden, daß besonders der Jugendokkultismus ein Moment des Protestes gegen die Erwachsenenwelt enthält. Jugendliche müssen sich und die Welt ausprobieren, auch in Abgrenzung und Widerspruch zu Familie und Schule. Auch besteht ein deutliches Initiationsbedürfnis der Jugendlichen, dem die bestehenden „Übergangsriten“ -Konfirmation, schulischer Abschluß, Eintritt ins Berufsleben etc. -nicht mehr entsprechen. Vielfach wird an ihnen nicht mehr teilgenommen, oder sie sind entwertet. Teilweise haben die verschiedenen Riten des Ausscheidens aus der Familie und Beginnens eines selbständigen Lebens als Erwachsener mit der Gestaltung einer eigenen Wirklichkeit von Arbeit und Sexualität für viele Individuen ihre Bedeutung verloren, da sie zeitlich zu weit auseinandergerückt sind: Dem altersbedingten Ausscheiden aus der Familie und dem Eintritt ins Erwachsenenleben folgen wirtschaftliche Selbständigkeit und Eigenverantwortung um Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte verzögert. Dem entspricht die große Beteiligung erwachsener Schüler und Studierender an okkulten Praktiken, die sich gewissermaßen auf der Schulbank in eine „sekundäre Pubertät“ begeben. Es wird davon auszugehen sein, daß sich für viele eine Beteiligung an okkulten Praktiken von selbst erledigt oder „auswächst“, wenn sie in verbindliche Arbeits-und Lebensverhältnisse eintreten. Okkulte Praktiken scheinen in einem großen Ausmaß für Jugendliche an die Stelle der Institutionen und Handlungen getreten zu sein, die eine Verarbeitung der beim Übergang von der Kindheit über die Adoleszenz zum Erwachsenwerden auftretenden Konflikte bislang ermöglicht oder wenigstens vorbereitet haben.

Viele Menschen erfahren unsere soziale und ihre individuelle Wirklichkeit als undurchschaubar, unvernünftig und kaum nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen gestaltbar. Das alltägliche Funktionieren der Bürokratie, des industriellen Produktionsprozesses, sogar der eigene Lebensweg ist weithin unklar und unverständlich. Wer kann denn schon im Einzelfall stichhaltige Gründe angeben, warum der eine eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz, eine seinen Wünschen entsprechende Wohnung erhält, die Liebesbeziehungen glücklich sind und warum andere erfolglos zu sein meinen oder auch tatsächlich sind? Die Hinwendung zu okkulten Praktiken verweist auf eine Enttäuschung über die soziale Wirklichkeit und Zweifel am modernen Weltbild, in welchem das individuelle Leben ebenso wie gesellschaftliche Prozesse durch vernünftige, die Interessen und Möglichkeiten aller berücksichtigende Verfahren entschieden und gestaltet werden sollen. Unsere soziale und individuelle Wirklichkeit entspricht weithin nicht dem Bild, das wir uns von unseren Lebenszusammenhängen machen.

Zugleich muß berücksichtigt werden, daß durch die industrielle Entwicklung und viele andere soziale Prozesse die noch im vorigen Jahrhundert und zum Teil bis nach dem Ersten Weltkrieg gegebenen „Bahnungen“ und Vorgaben des individuellen Lebensweges aufgelöst sind. Dadurch werden viele Individuen ständig vor selbst zu verantwortende Entscheidungen gestellt, auf die sie nicht genügend vorbereitet sind, deren Konsequenzen nicht absehbar sind und von denen sie offensichtlich überfordert sind. Viele Lebensentscheidungen wie Beruf, Heirat usw. waren früher durch die Schichten-und Standeszugehörigkeit, ggf. durch das ererbte Vermögen vorgegeben und jeder einzelne bis zu einem gewissen Grade von ihnen entlastet. Das Leben war durch säkulare und religiöse Ritualisierungen vorgezeichnet. Diese Ritualisierungen und Bahnungen sind durch politische und ökonomische Prozesse, die von jedem einzelnen nun eine größere Flexibilität, Selbstgestaltung und Eigenverantwortung verlangen, obsolet geworden.

Doch geht diese größere Freiheit auch mit einer größeren Verunsicherung einher. Nun kann es bei der Kritik am Okkultismus nicht um ein Plädoyer für eine Rückkehr zu vergangenen Ritualisierungen und Reglementierungen oder Bahnungen gehen. Diese waren unfrei und bedeuteten Fremdbestimmung. Eine Rückkehr zu reglementierten gesellschaftlichen Verhältnissen ist sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus sozialen Gründen weder wünschenswert noch möglich, es sei denn, man wollte ein Aufgeben der Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und Selbstgestaltung des Lebens in Kauf nehmen. Doch wird Selbstbestimmung nicht durch die Befragung der „Geister“ oder durch Anwendung okkulter Praktiken erreicht, dies führt nur zu „Freiheit“ von der Verantwortung.

Eine mittlerweile im Westen verbreitete Kritik und Entwertung der Wissenschaft und die auch unter Studenten und Professoren anzutreffende Behauptung, daß prinzipiell magische Vorstellungssysteme, religiöse Glaubenslehren und wissenschaftliche Aussagen sich nicht qualitativ unterscheiden, sondern nur andere, grundsätzlich gleichwertige Arten seien, die Wirklichkeit zu beschreiben und sich in ihr zurechtzufinden, bereiten die kognitive Annahme okkulter Praktiken vor. Die berechtigte Kritik an der Wissenschaft wird in diesem Kulturrelativismus zu einer kritikunfähigen Standpunktlosigkeit gesteigert.

Da durch die Säkularisierung die Antworten der überlieferten Religionen an Überzeugungskraft eingebüßt haben, ihre Antworten auf viele Fragen auch auf Erfahrungen eines vorindustriellen Zeitalters basieren, zugleich die Wissenschaften durch ihren Beitrag zu Krieg und Umweltzerstörung an Glaubwürdigkeit verloren haben und die Kunst schließlich, da sie auf einem Markt gehandelt wird und dadurch ihren Wahrheitsanspruch aufgegeben zu haben scheint, ebenfalls als Gestaltungsmacht zurückgetretert ist, suchen viele Menschen nach anderen Wegen der Orientierung und Gestaltung ihres Lebens. Okkulte Praktiken und Vorstellungen, die auf einem mittlerweile recht großen Markt angeboten werden, rücken an die Stelle von Religion, Kunst und Wissenschaft. Dies wird dadurch belegt, daß das „Interesse am Außergewöhnlichen“, welches früher auch in der Religion befriedigt wurde, die „Unterhaltung“, welche in der Kunst eine Befriedigung finden sollte, und die „Neugier“, die zum Wissen und zur Wissenschaft führt, als wichtigste Gründe für die Hinwendung zu okkulten Praktiken angegeben werden.

Schließlich spielt auch die sogenannte „Sinnkrise“ eine wichtige Rolle. Die überlieferten Antworten der christlichen Religionen, der Philosophie und der Kunst haben an Überzeugungskraft verloren. Durch den Prozeß der Säkularisierung mußten die überlieferten Religionen ihre Aufgabe, kollektive Verbindlichkeit zu vermitteln, z. T. aufgeben. Die Antworten der Religionen auf viele Fragen wurden zugleich zu einer Privatangelegenheit, und die Religion hat sich in eine Freizeitveranstaltung verwandelt, die auf einem Markt mit anderen Freizeitangeboten konkurrieren muß. Viele Menschen suchen in der Hinwendung zu östlichen Heilslehren, archaischen Kulten und Vorstellungen oder in einem Synkretismus von aus aller Welt und allen Zeiten zusammengestellten Elementen eine Antwort andere eben auch in der Beschwörung der Geister durch okkulte Praktiken.

Voraussetzung der seit einigen Jahrzehnten zu beobachtenden Verschärfung der „Sinnfrage“ war auch die gesellschaftliche Entwicklung in den westlichen Industrienationen, die jedem einzelnen das Überleben garantierte. Damit war die Arbeit für die Selbsterhaltung als nicht hinterfragbare Sinn-stiftung abgelöst, zumindest in ihrer Bedeutung herabgesetzt. Hinzu kommt, daß durch die industrielle und bürokratische Organisation der Arbeitsprozesse für viele eine Identifikation mit ihrer Arbeit kaum noch möglich ist. Selbsterhaltung aber sei die „wahre Maxime aller westlichen Zivilisation“, wie Horkheimer und Adorno im Anschluß an Spinoza geschrieben haben Die Reduktion des Menschen auf die Selbsterhaltung im industriellen Produktionsprozeß und in den bürokratischen Verwaltungsstrukturen „merzt“ aber tendenziell alle natürlichen und geschichtlichen Qualitäten des Menschen als Körper und Seele, Trieb und Geist aus und erklärt sie für „irrational“, wenn diese nicht in den Dienst der Selbsterhaltung und eines ebenso rastlosen wie sinnlos gewordenen Produktions-und Verwertungsprozesses, also in den Dienst eines anderen gestellt werden. Das grundlegende Prinzip der Selbsterhaltung überläßt jeden einzelnen dann der verwirrenden Frage, was als sinnvolles Leben nun jenseits der relativ sichergestellten Selbsterhaltung noch zu gelten habe. Die Moderne bürdet die Antwort auf diese Frage jedem einzelnen auf; darin besteht seine Freiheit. Um der Selbsterhaltung allein aber verlohnt es sich für viele nicht zu leben, sie suchen nach einem Transzendieren, Überschreiten des Alltags, der Arbeitswelt und sogar der Familie in ekstatischen Veranstaltungen Okkulte Praktiken scheinen dem Bedürfnis nach Außeralltäglichem, Höherem, Geistigem und nach Macht zu genügen. Die Austreibung des Geistes, wie des Triebes, der Wünsche und der Ängste aus dem auf Selbsterhaltung reduzierten Arbeitsleben und dem Alltag bereitet die Wiederkehr der „Geister“ vor.

V. Moderner Okkultismus in Gesellschaft und Geschichte

Eine vielfach verbreitete Meinung ordnet den Okkultismus den Erscheinungen zu, die am Rande aller Gesellschaften und in allen Zeiten auftreten und denen keine gesellschaftliche Bedeutung und kein Einfluß zukommt. Exzentriker hat es immer gegeben, und daß ein Teil des Okkultismus wie die „Schwarzen Messen“ bisher zumindest tatsächlich eine Randerscheinung darstellt, läßt sich auch mit den Befunden meiner Erhebungen begründen. Allein, um diese Randerscheinungen geht es nicht, und wenn im Westen jugendliche Schüler aktiv und passiv zu einem Viertel, erwachsene Schüler zu einem Viertel aktiv an okkulten Praktiken und von den in der Ausbildung zur Erzieherin sich befindenden Frauen rund 30 Prozent am Pendeln beteiligt sind, im Osten auch zirka zwölf Prozent bereits die eine oder andere okkulte Praktik ausüben, dann wird man -ohne die Verbreitung des Okkultismus zu verdrängen -kaum noch von einer Erscheinung sprechen können, der am Rande der Gesellschaft von einigen wenigen Exzentrikern nachgegangen wird. Der moderne Okkultismus ist vielmehr als ein Symptom neuerer gesellschaftlicher Entwicklungen zu interpretieren.

Zum andern wird vorgeschlagen, den modernen Okkultismus als Relikt oder Wiederkehr eines vergangenen, aber untergründig immer vorhandenen vor-religiösen und vor allem vorwissenschaftlichen Weltbildes zu verstehen, welches in der Religionswissenschaft seit E. B. Tylor unter dem Namen „Animismus“ oder seit J. G. Frazer als „Magie“, in der Ethnologie als „prälogisches Denken“ oder in der Psychologie als „Primärprozeß“ wenn dieser als substantieller Zustand aufgefaßt wird, bezeichnet wurde. Die Wiederkehr derartiger Vorstellungen in okkulten Praktiken könnte dann als Ausdruck einer individuellen oder gesellschaftlichen Krisensituation verstanden werden, in welcher das moderne wissenschaftliche Weltbild als Orientierungsund Selbstverständigungsrahmen an Überzeugungskraft verloren hat und zugleich die von den Kirchen angebotenen religiösen Antworten nicht mehr angenommen werden. Daß in okkulten Veranstaltungen Unterhaltung gesucht wird, ist als Ausdruck des „Schal-Werdens“ oder -insbesondere für Jugendliche -der Unerreichbarkeit der in der Konsumgesellschaft angebotenen Genüsse zu deuten.

Für ein solches Verständnis des modernen Okkultismus spricht, daß tatsächlich in diesem Okkultismus alte und aus vorindustriellen Gesellschaften stammende Deutungssysteme wie die aus Mesopotamien auf uns gekommene Astrologie, das aus China importierte I-Ging und z. B. das bereits von Marcellinus (4. Jahrhundert n. Chr.) beschriebene Pendeln eine Bedeutung haben. Für ein solches Verständnis des modernen Okkultismus lassen sich auch zahlreiche Schriften des „New Age“ und seines Umfeldes anführen, in denen „die einzige Hoffnung in der Wiederverzauberung der Welt“ gesehen und deshalb eine Rückkehr zum vormodernen Denken als Lösung der gesellschaftlichen Konflikte und Naturkatastrophen propagiert wird

Dagegen spricht allerdings, daß ein großer Teil dieser Praktiken wie etwa Tonbandeinspielungen, Kirlianphotographie oder Ufologie mit Geräten und Vorstellungen arbeitet, die erst auf der Basis des wissenschaftlichen und vor allem technischen Weltbildes überhaupt verständlich sind. Entscheidend kommt hinzu, daß dieser Okkultismus vielfach nicht nur die moderne, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Technik verwendet, sondern darüber hinaus für alle seine Vorstellungen und Praktiken eine als rational ausgegebene Begründungsstruktur geltend macht, d. h., er behauptet, Wissen zu sein und wissenschaftlichen Prinzipien zu entsprechen, auch wenn dieses Wissen noch nicht allgemein anerkannt sei.

Auch in den Fällen, in denen wie bei der Astrologie oder dem Tarotkartenlegen auf vorwissenschaftliche Vorstellungen rekurriert wird, werden diese nicht unmittelbar übernommen, sondern meist mit einer sich an Jung anlehnenden Psychologie „begründet“ modernisiert und als wissenschaftlich ausgegeben. Hinzu kommt, daß es in der Regel keine direkten Traditionen gibt, sondern daß man sich die Vorstellungen und Praktiken aus der Literatur aneignet. Ich habe den modernen Okkultismus deshalb einmal als modernen „Bildungsaberglauben“ bezeichnet und gezeigt, durch welche Verfahren dieser sich als Wissen verstehende „Bildungsaberglaube“ die wissenschaftlichen Prinzipien überschreitet und sich ihrer Kritik entziehen will

Aus diesen Gründen möchte ich den modernen Okkultismus als ein erst auf dem wissenschaftlichen Zeitalter aufbauendes und dieses voraussetzendes Deutungssystem von Wirklichkeit ansehen. Es ist bei der Zersetzung des Vernunftglaubens der Aufklärung entstanden, will die Grenzen der Wissenschaft nicht wahrhaben und mit wissenschaftlichen Methoden die Wirklichkeit überschreiten um zu „anderen Wirklichkeiten“ vorzudringen. Hyperbolisch könnte man sagen, der moderne Okkultismus hat die „Größen-und Allmachtsphantasien“, die sich auch noch im Vernunftglauben aufweisen lassen, nicht aufgegeben. Er folgt geschichtlich dem wissenschaftlichen Weltbild sozusagen als Anhängsel und stellt diesem gegenüber nicht einen Fortschritt dar, wie es die Protagonisten des „New Age“, das als eine Synthese von moderner Wissenschaft und Religion, insbesondere östlichen Heilslehren, ausgegeben wird behaupten; vielmehr ist er ein Nebenprodukt des wissenschaftlichen Weltbildes, welches aber die für die Wissenschaft notwendige Bescheidenheit nicht anerkennen will und die dadurch gegebenen Spannungen nicht auszuhalten vermag. „In der wissenschaftlichen Weltanschauung ist kein Raum mehr für die Allmacht des Menschen, er hat sich zu seiner Kleinheit bekannt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendigkeiten unterworfen. Aber im Vertrauen auf die Macht des Menschengeistes, welcher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, lebt ein Stück primitiven Allmachtsglaubens weiter.“ In diesem Sinne konnte Freud zeigen, daß diesem Allmachtsglauben psychologisch gesehen Wünsche zugrunde liegen; und deshalb ist es so schwierig, die in die Wirklichkeit hineinprojizierten Deutungssysteme, Vorstellungen und Wahrnehmungen aufzulösen: Sie leben von der Kraft der Wünsche, die keinen anderen Weg der Befriedigung finden.

Die Verbreitung okkulter Vorstellungen spiegelt sicher auch den Widerspruch, daß mit Hilfe der Wissenschaft früher unmöglich erscheinende Wünsche und Träume wie etwa das Fliegen zum Mond verwirklicht werden und doch zugleich jeder einzelne von dieser realisierten „Allmacht“ ausgeschlossen ist: Allmachtsphantasien spiegeln auch die reale Ohnmacht. Der moderne Okkultismus kann als irreleitende Antwort auf das entzauberte mechanistisch-materialistische Weltbild und eine diesem entsprechende gesellschaftliche Praxis vor allem im Arbeitsleben, die den Menschen tendenziell auf Selbsterhaltung reduziert, verstanden werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Reinhard Merkel, Der Katzenkönig vom Möhnesee, in: Die Zeit vom 23. 9. 1988, S. 11 ff.; Der Spiegel, (1993) 20, S. 128f.

  2. Zu den einzelnen Praktiken vgl. Andreas Gertler/Wolfgang Mattig, Stimmen aus dem Jenseits, Berlin 1992; Otto Prokop/Wolf Wimmer, Der moderne Okkultismus, Stuttgart 1987; Hartmut Zinser, Okkultismus unter Jugendlichen, Berlin 1992. Dieses Bändchen bildet in Teilen die Grundlagen für den vorgelegten Beitrag. In diesen Schriften finden sich auch Analysen der einzelnen Praktiken und Vorstellungen.

  3. Vel. Hans Driesch, Parapsychologie, Frankfurt a. M. 1984 , S. 111 ff. Die bei Driesch in der 1. Auflage bereits 1932 angeführten „Seelenfelder“ erscheinen heute unter dem Namen „morphogenetische Felder“ wieder; vgl. Rupert Sheldrake, Das Gedächtnis der Natur, München 1990.

  4. Traugott K. Oesterreich, Der Okkultismus im modernen Weltbild, Dresden 1921, S. 19.

  5. Vgl. Eberhard Bauer, Außersinnliche Wahrnehmung aus der Sicht des Psychologen, in: Parapsychologie und Okkultismus in der Kriminologie, Heidelberg 1979, S. 49ff.

  6. Vgl. z. B. Hans Bender (Hrsg), Parapsychologie, Entwicklung, Ergebnisse, Probleme, Darmstadt 1979.

  7. Vgl. Hartmut Zinser, Okkultismus in Ost und West, München 1993. Darin sind die Tabellen aller vier Untersuchungen abgedruckt, auf diese wird irii Folgenden nicht einzeln verwiesen.

  8. Der Fragebogen enthält verschiedene Möglichkeiten, die aktive Beteiligung an okkulten Praktiken zu messen. Dies führt bei den jugendlichen Schülern in Berlin (West) etwa zu den gleichen Ergebnissen, zeigt aber deutliche Abweichungen bei den erwachsenen Schülern und den Studierenden. Nach diesen anderen Indikatoren beteiligen sich erwachsene Schüler bis zu 34 Prozent aktiv an okkulten Praktiken und die Studierenden sogar bis zu 37 Prozent. Auch im Osten liegen die Zahlen dann deutlich höher.

  9. Vgl. Johannes Mischo, Okkultpraktiken Jugendlicher, Mainz 1991. Auch Ulrich Müller kommt bei vielen einzelnen Tatbeständen zu ähnlichen Ergebnissen: Ulrich Müller, Ergebnisse einer Umfrage unter bayerischen Schülern und Schülerinnen zu Okkultismus und Spiritismus, Regensburg 1989. Allerdings sind dessen Zahlen mit Vorsicht zu behandeln, wie Wolfgang Hund, Die Geister, die sie riefen..., in: Skeptiker, (1990) 4, S. 9, betont. W. Hund hatte den Fragebogen entworfen und die meisten der der Auswertung von Müller zugrundeliegenden Fragebogen ausgegeben und eingesammelt.

  10. Vgl. Aliensbacher Berichte, (1990) 11, S. 2.

  11. Hans-Jürgen Ruppert, Okkultismus, Wiesbaden u. a. 1990, S. 11.

  12. Carl Kiesewetter, Geschichte des Neueren Okkultismus, Leipzig 1909, S. 9.

  13. Johannes Mischo, Okkultpraktiken Jugendlicher, in: Materialdienst der EZW, Sonderdruck Nr. 17, 1988, S. 7.

  14. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Einleitung. Werke in 12 Bde., Bd. III, Frankfurt/M. 1956. Für unseren Zusammenhang ist es dabei unerheblich, welchen „ontologischen“ Status die „Wirklichkeit“, auf die sich die Aussagen beziehen, zuerkannt erhält.

  15. Otto Prokop/Wolf Wimmer, Der moderne Okkultismus, Stuttgart 1987.

  16. Dies kann man sich am leichtesten am Geld, sei es Münze oder Banknote, klarmachen. Als „objektive Substanz“ sind diese ein Metall oder Papier, welches mit der sozialen Realität, die das Geld in einer Gesellschaft hat, kaum etwas zu tun hat. Erst dadurch, daß Geld in einer Gesellschaft Gültigkeit erhält (und auch wieder verlieren kann), wird es zu einem Wesen, das mit größerer Härte dem einzelnen gegenübertritt als wahrscheinlich das Metall. Dieses Wesen aber konstituiert sich in der gesellschaftlichen Vorstellungsrealität. Zum Verhältnis von Sein, Schein und Wesen vgl. Friedrich W. G. Hegel, Wissenschaft der Logik, 2. Buch, Hamburg 1966, S. 1 ff.

  17. Paul Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, Berlin 1926, S. HOff.

  18. Theodor W. Adorno, Thesen gegen den Okkultismus, in: Minima Moralia, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M. 1980, S. 323.

  19. Vgl. Ulrike Brunotte, Religion und Religionen in ihrer aktuellen Bedeutung für Schüler, in: Hartmut Zinser (Hrsg.), Herausforderung Ethikunterricht, Marburg 1991, S. 88.

  20. Vgl. Hartmut Zinser, Ist das New Age eine Religion oder brauchen wir einen neuen Religionsbegriff?, in: Zeitschrift für Religions-und Geistesgeschichte, 44 (1992), S. 33-50.

  21. Theodor W. Adomo/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt/M. 1969, S. 29. Baruch Spinoza, in: Ethica, Pars iv, Opera I, Leipzig 1843, S. 346; „Conatus sese conservandi primum et unicum virtutis est fundamentum“.

  22. Vgl. Hartmut Zinser, Ekstase und Entfremdung, Zur Analyse neuerer ekstatischer Kultveranstaltungen, in: ders. (Hrsg.), Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin 1988, S. 274ff.

  23. Vgl. Edward Bumett Tylor, Die Anfänge der Kultur, Leipzig 1872; James George Frazer, Der goldene Zweig, Köln 1968; Luden Levy-Bruhl, La mentalitd primitive, Paris 1922, und z. B.den Artikel Primärvorgang/Sekundärvorgang, in: Das Vokabular der Psychoanalyse, hrsg. von J. Laplanche/J. -B. Pontalis, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973.

  24. Vgl. Morris Berman, Die Wiederverzauberung der Welt, Reinbek 1985, S. 21.

  25. Aus der schier unübersehbaren Literatur dazu nur ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel: Sallie Nichols, Die Psychologie des Tarot. Tarot als Weg zur Selbsterkenntnis nach der Archetypenlehre C. G. Jungs (1980), Interlaken 1984.

  26. Vgl. Hartmut Zinser, Bildungsaberglauben und Wissenschaftsverständnis -Überlegungen zur Wiederkehr okkulter Praktiken, in: Peter Antes/Donata Pahnke, Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, S. 257ff.

  27. Dies zeigt sich z. B. darin, daß H. Driesch (Anm. 3), S. 122f., mit Hilfe des Okkultismus die Frage des persönliehen Überlebens nach dem Tode zu erweisen sucht: „Denn die Frage des Überlebens der Person bleibt einmal das Hauptproblem aller Wissenschaft, mögen auch unsere offiziellen Philosophen und Psychologen fast alle einen weiten Bogen um sie machen und tun, als ob sie sie überhaupt nicht sehen; und mögen auch gewisse formalistische Philosophen-gruppen nur im Rahmen des Mathematischen . sinnvolle“ Fragen überhaupt zulassen.“

  28. Vgl. Fritjof Capra, Wendezeit, München 1984; Marilyn Ferguson, Die sanfte Verschwörung, Basel 1982; George Trevelyan, Eine Vision des Wassermannzeitalters, Freiburg 1980; David Spangier, New Age -die Geburt eines Neuen Zeitalters, Kimratshofen 1983; zur Kritik: Christof Schorch, Die New Age Bewegung, Gütersloh 1988.

  29. Sigmund Freud, Totem und Tabu (1912/13), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt/M. 1968, S. 108f.

Weitere Inhalte

Hartmut Zinser, Dr. phil., geb. 1944; Studium der Religionswissenschaft, Soziologie, Alten Geschichte und Ethnologie in Berlin und an der University of Pennsylvania (USA); Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Arbeit und Mythos, Wiesbaden 1977; Der Mythos des Mutterrechts, Berlin 1981; (Hrsg.) Der Untergang von Religionen, Berlin 1986; (Hrsg.) Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin 1988; (Hrsg.) Herausforderung Ethikunterricht, Marburg 1991; Jugendokkultismus in Ost und West, München 1993.