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Ende oder Wende. Was wird aus der CDU? | APuZ 1/1994 | bpb.de

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APuZ 1/1994 Artikel 1 Ende oder Wende. Was wird aus der CDU? Zurück zur Mitte: Die SPD zu Beginn des Superwahljahres 1994 Die F. D. P. am Scheideweg Die CSU vor einem schwierigen Spagat Das Wahljahr 1994 und die Strategie der PDS Bündnis 90/Die Grünen: Oppositions-oder Regierungspartei?

Ende oder Wende. Was wird aus der CDU?

Warnfried Dettling

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1994 wird zum Schicksalsjahr der Volksparteien, vor allem der CDU: Sie verliert ihre Rolle als strukturelle Mehrheitspartei. In dem Fünf-oder Sechs-Parteien-System der Zukunft wird sie zur Regierungsbildung nicht mehr gebraucht, allenfalls in einer großen Koalition. Wolfgang Schäuble, der Erbe Kohls, ist dabei, aus der veränderten Lage die Konsequenzen zu ziehen und die CDU rechts von der Mitte neu zu positionieren.

I. 1994: Ein Schicksalsjahr für die CDU

Die Debatte über die Strategie für das Superwahljahr 1994 fand nicht statt. Der Vorsitzende der CDU mußte in den Gremien seiner Partei keine Auskunft darüber geben, mit welcher Botschaft er erneut und zum vierten Male in einer Bundestagswahl um das Vertrauen der Wähler werben will: Präsidium und Bundesvorstand der CDU waren mit einem anderen Thema beschäftigt. In Sachsen-Anhalt war ihnen urplötzlich eine ganze Regierung abhanden gekommen, allzu viele hat sie ja nicht mehr davon. Nur wenige Tage zuvor hatte der Kandidat Heitmann dem bürgerlichen Trauerspiel um seine mögliche Präsidentschaft selbst ein Ende gesetzt.

Es hat sich so eingebürgert, und die Wähler haben sich inzwischen auch daran gewöhnt, daß die politischen Parteien, insbesondere die CDU, jede Bundestagswahl zu einer „Schicksalswahl“ dramatisieren. Diese Floskel von den „Schicksalswahlen“ ist falsch, übertrieben, ja in gewisser Weise auch undemokratisch. Die Demokratie zeichnet sich dadurch aus, daß das politische Leben weitergeht. Ihre Stabilität erweist sich gerade darin, daß Regierungswechsel als undramatisch erlebt werden. Die feierliche Normalität und Dignität eines Amts-und Regierungswechsels, wie sie etwa die Vereinigten Staaten so eindrucksvoll zu inszenieren wissen, macht gerade das Wesen der Demokratie aus, läßt sie für die Bürger erfahrbar werden.

Es könnte freilich sein, daß diesmal die dramatische Wendung wieder einen Sinn macht. 1994 ist ein besonderes Jahr. Nicht bloß wegen der schieren Anzahl der Wahlen. Auch nicht nur, weil möglicherweise zum ersten Male nach 1945 eine Bundesregierung direkt und umstandslos von den Wählern durch die Wahl abgewählt wird und nicht wie etwa 1969 nach der Wahl durch Koalitionsverhandlungen oder wie 1982 vor der Wahl durch ein konstruktives Mißtrauensvotum. 1994 könnte in der Tat zum „Schicksalsjahr“ werden, weniger freilich für die Bundesrepublik Deutschland als für die großen Volksparteien, vor allem aber für CDU und CSU. Nicht daß sie nach zwölf Jahren von der Regierung abgelöst werden könnten macht die Lage für sie so dramatisch: Eine Kanzlerschaft über drei Legislaturperioden ist, zumal in diesen unruhigen Zeiten, eher die Ausnahme als die Regel. Auch ein Regierungsbündnis zwischen der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen, das rechnerisch um so eher möglich wird, je konsequenter und glaubwürdiger es vom Kanzlerkandidaten der SPD politisch abgelehnt wird, muß den Deutschen nicht den Schlaf rauben.

II. Eine Zäsur in der deutschen Parteiengeschichte

Das Jahr 1994 wird weniger ein Schicksalsjahr für die deutsche Politik als eine Zäsur für die deutsche Parteiengeschichte, vielleicht der Anfang vom Ende des deutschen Parteiensystems, wie es im 19. Jahrhundert entstanden und nach 1945 neu begründet worden ist, wie es die Zeitgenossen seit nunmehr fast fünfzig Jahren kennen und wie es die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in und für Deutschland und Europa erfolgreich gestaltet hat. Das Jahr 1994 wird vermutlich Parteiengeschichte erleben: den Abschied von den Volksparteien, und diese Zäsur wird die CDU besonders schwer treffen. Es bleibt offen, ob sie sich von den Schlägen des Jahres 1994 je wieder erholen wird. Die Unionsparteien sind dabei, nicht nur Wahlen und Regierungen zu verlieren, sondern auch ihre Rolle in der deutschen Parteienlandschaft, damit aber auch ihr Selbstverständnis, ihre Raison d’etre. Der dramatische Niedergang der CDU, wie er sich nun schon seit zehn Jahren auf allen Ebenen und von Wahl zu Wahl immer deutlicher abzeichnet, ist gewiß auch Ausdruck großräumiger gesellschaftlicher Veränderungen, aber es handelt sich dabei auch um einen einzigartigen inneren Verfall aus eigenem [Un]vermögen, auf eine veränderte Lage politisch intelligent zu reagieren. „Die CDU ist alt geworden“ (Konrad Adam); sie ist in ihren politischen Eliten, in ihrer politischen Philosophie und in ihrem sozialen Wurzelwerk verbraucht, ausgetrocknet und erodiert. Der „Geist der Partei“ und die handelnden Personen begründen kein Versprechen mehr.Die äußeren Zeichen (Wahlergebnisse, Rückgang der Mitgliederzahlen, leiser Auszug der Frauen und der Jugend aus der Partei) für ein langsames Schwinden und Verschwinden der Volkspartei CDU lassen sich eigentlich seit Jahren nicht mehr übersehen; ihre innere Auszehrung an ideen-politischer Kraft hat freilich noch früher begonnen, genau betrachtet vor ihrem Regierungsantritt im Jahre 1982. Ganz ähnlich wie in den Vereinigten Staaten sich der spätere Sieg des konservativen Republikaners Ronald Reagan 1980 schon zu einer Zeit vorbereitete, als mit John F. Kennedy eine neue Generation ins Weiße Haus gekommen war (1960), begann der Niedergang der CDU schon zu einer Zeit, als rein äußerlich, gemessen an den üblichen Indikatoren der Macht, die Welt der Union noch oder gerade wieder in bester Ordnung war: beim Regierungswechsel 1982. Die personelle und programmatische Erneuerung der CDU in den siebziger Jahren, die ihrerseits eine Antwort war auf die müde Stimmung der CDU in den sechziger Jahren, aber auf dem „Erbe Adenauers“ (Rüdiger Altmann) doch auch aufbauen konnte, hatte sich schon leergelaufen, als es mit dem Regierungswechsel 1982 scheinbar erst so richtig losging. Dazwischen lag die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß. Nach 1982 wurde während der gesamten Regierungszeit Helmut Kohls, trotz aller Reformen in allen möglichen Bereichen -und die Regierungen Kohls haben ja nicht wenig reformiert, von der Post über das Gesundheitswesen bis zur Bahn und zur Rente -, die Maxime „Weiter so!“ zur eigentlichen Richtlinie der Ära Kohl, von Wahl zu Wahl, mochte sich die Welt drinnen und draußen auch noch so grundsätzlich ändern.

Und so holt der Dreißig-Jahre-Zyklus, den Eric Frey für die USA so eindrucksvoll beschrieben hat, auch Deutschland und die CDU wieder ein. Für die CDU ist diesmal alles anders als damals am Ende der Ära Adenauer. Sie hat jetzt -dafür hat er schon selbst gesorgt -keinen wie ihn, den jungen Helmut Kohl, der damals, zuerst durchaus auch auf eigenes Risko, die CDU energisch zu Reform und Erneuerung angetrieben hat, und sei es auch nur, weil er darin die richtige Strategie zur Machtgewinnung gesehen hat. Und selbst wenn sie jetzt, in der Mitte der neunziger Jahre, denn einen hätte, einen Erben Kohls, auch der Tüchtigste dürfte in diesem historischen Moment scheitern bei dem Versuch, die CDU als große Volkspartei der Mitte, wie sie über fast fünfzig Jahre das Land geprägt hat, wieder zu erneuern. Die Menschen, die Gesellschaft und die Welt haben sich verändert, und die CDU selbst hat alles getan und alles unterlassen, um sich selbst aus der Epoche herauszukatapultieren. „Kohl hinterläßt kein Erbe, nur Hypotheken“, kommentierte kürzlich bitter und enttäuscht einer, der die Geschichte der CDU von Adenauer bis Kohl aus Nähe und Distanz begleitet hat, und er meinte damit keineswegs nur die finanzielle Dimension von Kohls Erbe. Zu den Verlierern der Ära Kohl gehört vor allem jene Formation, die er länger als 20 Jahre wie kein anderer beherrscht hat und die jetzt, zu Beginn des Wahl-jahres 1994, schlechter dasteht als je zuvor: die CDU.

III. Mehrheit und Mitte: Die Formeln zur Macht

Mehrheitspartei zu sein, zu bleiben oder bei nächster Gelegenheit, mit realer Erfolgschance, wieder zu werden, alleine oder eben mit der FDP: das war und ist, jenseits aller Programmatik, der Kern des Selbstverständnisses der CDU; dies ist vorbei. Die CDU ist dabei, eine ganz gewöhnliche Partei zu werden.

Da die Ära Kohl ausläuft, verträgt die Bilanz keine Schönrednerei mehr: Helmut Kohl steht für das Schwinden und Verschwinden der CDU als einer modernen Volkspartei, was die Mitglieder, was die Wähler, aber auch, was die politischen Inhalte betrifft -und all das hängt eng zusammen. Helmut Kohl steht für eine Veränderung der Parteienlandschaft zum Nachteil der CDU.

Dies ist ein hartes Urteil, und die Einwände liegen auf der Hand. Ohne ihn wäre alles schon viel früher und viel schlimmer gekommen, sagen seine Freunde. Der Niedergang der CDU sei Ausdruck und Folge einer gleichsam naturwüchsigen, eigen-dynamischen Entwicklung unabhängig von Helmut Kohl, seinen Fehlern und Versäumnissen. War es nicht vielmehr eine, seine große Leistung, den Spagat in der CDU ausgehalten und möglich gemacht zu haben, also ein politisches Angebot für die katholische Bauersfrau in Oberschwaben ebenso wie für den Yuppi in Hamburg? Hat Kohl in Regierung und CDU nicht über Jahre exemplarisch die Kunst politischer Führung als Integration vorgeführt? Und gibt es dazu in der heutigen Zeit, in einer Koalitionsdemokratie und in einer pluralistischen, ausdifferenzierten Gesellschaft überhaupt noch eine Alternative? Was viele als „Aussitzen“ verspottet haben, das Fehlen energischer Vorgaben und klarer Meinungen des Kanzlers, kann man es nicht auch, zum Teil wenigstens, als Regierungskunst interpretieren, als Fähigkeit nämlich, die Partei und die Regierung indirekt, unauffällig -und aus dem Hintergrund zu führen? Die Leistung Helmut Kohls für die CDU bestünde dann gerade darin, daß er so lange und so erfolgreich den politischen Spagat geschafft hat.

IV. Der Volkspartei läuft das Volk weg

Die CDU verändert sich nicht nur quantitativ, in ihrem Umfang, sondern auch qualitativ, in ihrer Substanz. Eine Union um die 35 Prozent hat nicht nur weniger Stimmen, sie ist eine andere Partei, und es ist deshalb eine völlig offene Frage, ob sie sich auf diesem niedrigeren Niveau wird stabilisieren können. Die guten Zeiten der CDU waren auch das Ergebnis einer „self-fulfilling prophecy“: Die Öffentlichkeit und sie selbst, Mitglieder und Funktionäre, haben an die CDU geglaubt, und dieser Glaube hat auch das Verhalten der Mitläufer, Opportunisten und Anpasser, die es immer und überall gibt, beeinflußt und die CDU so groß und stark gemacht. Der nämliche sozialpsychologische Mechanismus könnte jetzt den unaufhaltsamen Niedergang der CDU beschleunigen. Über die Folgen ihres Niedergangs vermag die CDU nicht zu debattieren, weil sie dabei notwendig nach dessen Ursachen fragen müßte. Und die Antwort, fiele sie nur halbwegs ehrlich aus, dürfte keinen Zweifel lassen: Die CDU hat sich immer weiter aus der Gesellschaft entfernt. Sie hat es versäumt, ja sie hat sich in ihrer Regierungszeit auch gar nicht mehr wirklich darum bemüht, eine neue politische und gesellschaftliche Mitte zu definieren. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die traditionellen Milieus immer mehr abschmelzen, hat sie sich wie verzweifelt an deren letzten Reste geklammert. Selten zuvor, schon gar nicht in ihrer Erfolgsgeschichte, hat sich die CDU eine derartige Binnenorientierung geleistet -und die Gesellschaft darüber hinaus aus dem Blick verloren. Wer in sich wandelnden Zeiten trotzig den gesellschaftlichen Status quo ante verteidigt, der ist längst auf der Flucht aus der gesellschaftlichen Mitte. Und so wandert die CDU nun seit zehn Jahren von Niederlage zu Niederlage. Der Volkspartei läuft das Volk weg.

Die CDU hat die Fähigkeit verloren, sich ebenso selbstbewußt wie wertengagiert auf neue Fragen und Entwicklungen einzulassen; verloren hat sie ihr Urvertrauen in die eigene Sache wie in die Gesellschaft. Die politische und soziale Umwelt wird von ihr nicht mehr als Raum und Aufgabe erlebt, die es zu gestalten gilt, sondern eher als Hinterhalt, aus dem allerlei Gefahren drohen, gegen die man sich möglichst geschlossen und entschlossen zur Wehr setzen muß. Die CDU ist mißtrauisch, und sie ist autistisch geworden. Unfähig, sich kommunikativ und konstruktiv auf Kritik und andere Meinungen einzulassen, kann sie auch nicht in einer solchen Auseinandersetzung wachsen: in der politischen Potenz und Intelligenz, in ihrer Attraktivität und im öffentlichen Ansehen und so am Ende auch in ihrer Mehrheitsfähigkeit als Kanzler-partei. Nicht daß sie ein Kanzlerwahlverein ist, muß sie ja, vordergründig betrachtet, eigentlich beunruhigen, sondern daß sie als Kanzlerwahlverein nicht mehr recht zu gebrauchen ist. Der Grund dafür ist einfach und folgenschwer: Die CDU hat die politische Mitte verloren.

V. Der Verlust der Mitte und der Erbe Kohls

Was lange Zeit als unbewußte Entwicklung ablief, wird jetzt als politische Absicht deutlich erkennbar: Die CDU verläßt die Mitte. Damit zieht sie nicht nur die Konsequenz aus einer oberflächlichen Demoskopie, die dem Kanzler schon lange einredet, die Gesellschaft bewege sich nach rechts. In Wirklichkeit formiert die CDU aktiv die rechte Mitte und sich selbst als Partei der rechten Mitte.

Das ist etwas qualitativ Neues in der Geschichte der CDU. Versuchungen dazu hat es immer gegeben. Alfred Dregger etwa wollte immer wieder die „Nation“ in den Kanon der Grundwerte der CDU erheben; er war Vorsitzender der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, einen Nachfolger Helmut Kohls hat nie jemand in ihm gesehen. Die Spannung und das Gleichgewicht zwischen den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit auszuhalten, war immer eine schwierige Aufgabe. Aber fast fünfzig Jahre lang ist es der CDU gelungen, und genau darin gründete das Geheimnis ihres Erfolges.

Das ist nun vorbei. Die CDU hat, so scheint es, die Hoffnung aufgegeben; sie traut sich die politische Kraft nicht mehr zu, die große deutsche Volkspartei der Mitte zu sein, die fähig und entschlossen ist, die konservativen, die christlich-sozialen und die liberalen Gedanken gleichwertig und gleichrangig zu einem politischen Wurf zu integrieren. Natürlich werden die entsprechenden Formeln auf jedem Parteitag und in jeder Grundsatzrede zitiert,aber es sind eben Formeln, und sie faszinieren so wie die religiösen Rituale in einer geistig-religiös ausgebrannten Kirche.

So wird die CDU ohne öffentliche oder innerparteiliche Debatte als Partei rechts von der Mitte gleichsam neu gegründet. Kohl läßt es geschehen, aber er wirkt mehr als der Zeremonienmeister denn als der Regisseur der neuen Aufführung. Manche sehen darin nur einen geschickten Schachzug vor den kommenden Wahlen, eine Arbeitsteilung zwischen Kanzler und seinem Einpeitscher im Parlament, oder auch -harmloser noch, weil nur taktisch gemeint -eine Produktdifferenzierung des Unternehmens CDU: Helmut Kohl in bewährter Manier als Mann der Mitte, Wolfgang Schäuble als der Mann fürs Grobe -und für die Rechte. Aber sie, werden sich täuschen. Abgesehen davon, daß es etwas schwierig werden dürfte, Helmut Kohl, den Kanzler ohne Kanzlerbonus, bei seiner letzten Bundestagswahl als Hoffnung und Perspektive für die alten und neuen Mittelschichten wieder auferstehen zu lassen -es ist der Wille und die Vorstellung des Wolfgang Schäuble, schon jetzt den Cantus firmus der neuen Politik anzustimmen, politisch und rhetorisch. Und dies nicht länger als graue Eminenz oder als mächtiger erster Mann der Fraktion, sondern offen. Mit seiner Rede auf dem Bundesparteitag der CDU in Berlin meldete er seinen Führungsanspruch an, und dies nicht erst für die Zeit nach Kohl. Die Delegierten haben ihn verstanden. Wolfgang Schäuble läßt keinen Zweifel an seinen Zielen und an seiner politischen Philosophie. Er geht daran, jene geistig-moralische Wende einzulösen, von der Helmut Kohl seit 1982 immer nur gesprochen hat. Krisenerscheinungen in Wirtschaft und Gesellschaft geben ihm die Stichworte und die Argumente, eine Art programmatische Kulturrevolution in und mit der CDU zu vollziehen. Er sagt es immer wieder, und er gibt dabei auch vielen älteren Sozialdemokraten seine Stimme: Die Studentenbewegung von 1968 war und die 68er sind die Quelle allen Übels. Sie hätten zum Wert-und zum Sittenverfall in der deutschen Gesellschaft entscheidend beigetragen, und nun gelte es, die Deutschen wieder Mores zu lehren. Das ist zwar alles eher komisch. „Tieferhängen!“ möchte man ihm da zurufen. Schäuble und viele andere überschätzen die Wirkungen jenes Auf-und Ausbruchs auf eine grandiose Weise. Die 68er Bewegung war weniger die Ursache, sie war vielmehr Ausdruck und Folge eines sehr viel tieferen und umfassenderen sozialen Wandels. Und die jetzt durch Gewalt, durch rechtsradikale und ausländerfeindliche Aktionen auf sich aufmerksam machen, haben vieles erlebt, was sie dazu gebracht hat, nur keine 68er Eltern.

VI. Die Rolle der CDU in einem Fünf-Parteien-System

Der Erbe Kohls zieht die Konsequenzen aus der Veränderung der deutschen Parteienlandschaft. In dem Fünf-oder Sechs-Parteien-System der Zukunft wird die CDU keine absolute und auch keine strategische und auch, mit der FDP, keine bürgerliche Mehrheit mehr haben, sondern allenfalls noch eine relative, diese aber auf einem bescheidenen Niveau. Die politische Kunst für den künftigen Kanzler und Vorsitzenden besteht darin, aus dieser neuen Situation das Beste für die CDU zu machen. Im Vielparteiensystem der Zukunft braucht die CDU nicht 40 Prozent der Stimmen, um als stärkste politische Kraft den Kanzler zu stellen.

Dazu reicht, wenn sie Glück hat, auch schon ein gutes Drittel der Stimmen. Für die CDU kommt es in Zukunft nicht auf strahlende Ergebnisse an, viel wichtiger ist es für sie, die SPD so vorzuführen, daß diese stets, wie knapp auch immer, zweiter Sieger bleibt. Das wäre eine Strategie, mit der die CDU auf mittlere Sicht, in den nächsten zehn Jahren, überleben könnte. In dieser Logik macht es durchaus Sinn, sich von der alten CDU zu verabschieden und eine neue Partei rechts von der Mitte zu etablieren. Das ist ein neuer Abschnitt in der Geschichte der CDU.

Helmut Kohl hat, seit er vor zwanzig Jahren zum Vorsitzenden der CDU gewählt wurde, der CDU/CSU immer die begründete Hoffnung gegeben, alleine, was er selbst nie so recht wollte, oder doch „wenigstens“ mit der FDP, was ihm stets lieber war, regieren zu können.

Die CDU blieb in der Ära Kohl die strukturelle Mehrheitspartei im Bund, während die Fundamente ihrer Macht in den Kommunen und in den Ländern nach und nach zerbröselten. Die Bundestagswahl 1994 wird die letzte sein, in der CDU und CSU noch mit einem Rest an Plausibilität die alte, die jahrzehntelang selbstverständliche Koalitionsmehrheit aus CDU, CSU und FDP anstreben können -oder doch wenigstens noch einmal so tun als ob. Am Beginn der Ara Kohl konnte der Spiegel düster titeln: „Die schwarze Republik“. An ihrem Ende werden, wenn er Pech hat, nur noch in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen Ministerpräsidenten aus den Reihen der Union amtieren, und es wird der SPD und ihrem Vorsitzenden zu danken sein, daß die Politik in Deutschland dann eine allenfalls blaßrote Handschrift trägt.Wolfgang Schäuble zieht die Konsequenz aus diesen Veränderungen. Der neudeutsche Konsens, den der Erbe Kohls jetzt für die CDU formuliert und exekutiert, braucht keinen Streit und schon gar keine Strategiedebatten. Die CDU geht kleiner und rechter, sie geht einheitlich und geschlossen in ihren Untergang als Volkspartei.

Es ist schwer zu sehen, wie die CDU ausgerechnet im Wahljahr 1994 aus ihrer Agonie als Volkspartei wieder zu neuem Leben erwachen sollte. Das bürgerliche Trauerspiel „Heitmann for President“, das CDU und CSU eine lange Weile mit hohem Engagement und in den Gremien natürlich immer „einstimmig“ aufgeführt hatten, war und ist symbol-trächtig für ihre gegenwärtige Lage. Nicht nur schwinden, zum ersten Male offensichtlich, die magischen Kräfte ihres Vorsitzenden, die ja auch deshalb so magisch waren, weil alle daran geglaubt hatten. In diesem Trauerspiel verdichtet sich vielmehr das politische Dilemma der CDU zu Beginn des Jahres 1994. Sie steckte mit dem Präsidentschaftskandidaten Heitmann und sie steckt mit sich selbst in einem Double-bind, in einer Situation, in der sie -egal was sie tut -nicht gewinnen, in der sie nicht einmal mehr vernünftig agieren kann. Politik ist immer auch die Kunst, solche Situationen zu vermeiden.

Nach dem Rücktritt Heitmanns stand eine ganze Partei, die sich bis auf wenige bemerkenswerte Ausnahmen zur Loyalität hat dienstverpflichten lassen, blamiert da; wäre er bis zum 23. Mai 1994 Kandidat geblieben, wäre das Debakel für CDU und CSU noch fürchterlicher geworden. Der Vorsitzende, das Präsidium, der Bundesvorstand haben die CDU in eine Situation geführt, in der sie nicht mehr gewinnen konnte. In einer solchen Situation steckt sie, ganz allgemein betrachtet, auch im Wahljahr 1994, und dies vermutlich vor und nach der Bundestagswahl. Die CDU kann weiter fatalistisch und regungslos ihren künftigen Wahlniederlagen entgegendämmern, die Medien beschimpfen, auf Wunder hoffen -doch das ist nicht der Stoff, aus dem erfolgreiche Wahlkämpfe gemacht sind. Sie kann freilich auch, nach einem Fiasko bei der Europawahl am 12. Juni 1994 etwa, noch im letzten Moment versuchen, was sie zwanzig Jahre lang nicht gewagt und nicht geschafft hat: Helmut Kohl zu stürzen, eine politische Alternative zu ihm zu finden. Scheitert auch dieser Versuch, kann sie sich die Wahlkampfkosten gleich sparen (und danach erstatten lassen); ist er jedoch erfolgreich, ist auch nicht viel gewonnen. Gute hundert Tage vor der Wahl aus schierer Verzweiflung einen Kanzler und Vorsitzenden zu stürzen, dem sie in zwanzig Jahren wie keinem zweiten jemals Macht über sich gegeben hat, hinterläßt beim politischen Publikum keinen starken Eindruck. Die FDP dürfte die Gunst der Stunde nutzen, das sinkende Schiff verlassen und frei von Ballast auf die Wähler setzen.

Bei der Bundestagswahl 1994 geht es um die Kanzlerfrage, so werden es die Wähler jedenfalls wahrnehmen, und um sonst nichts. Welche Partei, CDU/CSU oder SPD, wird am Ende die Nase vorn haben -wie knapp auch immer, 0, 5 Prozent genügen. Das sorgt für Spannung und damit für eine hohe Wahlbeteiligung -und es erhöht die Unsicherheit. Die CDU/CSU und ihr Kanzler können noch einmal davonkommen und wieder als stärkste Fraktion in den Deutschen Bundestag einziehen. Und dann? Die SPD hätte über den Bundesrat die Macht im Staate -und die Union einen Kanzler, auf den es dann endgültig nicht mehr ankommt. Als größerer Partner in einer nicht mehr ganz so Großen Koalition, im Angesichte einer Zweidrittelmehrheit der SPD im Bundesrat (dazu bräuchte es nur einen Regierungswechsel in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern), die im Bundestag nur mit einer ebensolchen Zweidrittelmehrheit überstimmt werden könnte, wären CDU und CSU auf mittlere Sicht zuverlässig um beide Funktionen und Wirkungen gebracht, die eine parlamentarische Demokratie zu vergeben hat und die auch in parteipolitischer Perspektive Sinn machen: Regierung oder Opposition.

Aus staatspolitischer Sicht wäre eine politisch begründete Große Koalition des guten Gewissens wünschenswert, die ihre Legitimation nicht primär aus einer der vier Grundrechenarten, sondern aus dem gemeinsamen politischen Willen bezieht, die vier großen Themen der Zeit (Deutschlands Rolle in der Welt, Einwanderungsgesetz, Wirtschaft und Arbeit, Reform des Sozialstaates) jenseits der ein-geschliffenen Wettbewerbsrituale zu lösen.

Verhängnisvoll wäre, aus dieser Sicht, eine bloß arithmetisch Große Koalition des schlechten Gewissens, die sich permanent für ihre schiere Existenz entschuldigt und sich deshalb macht-prüde von Anfang an zeitlich begrenzt: staatspolitisch und parteipolitisch verhängnisvoll, vor allem für die CDU. Ohne die Ursachen für ihren Niedergang aufgearbeitet zu haben, ohne aus Erfahrung zur Einsicht gekommen zu sein, dürfte sich der sich selbst tragende Abschwung der CDU unverändert fortsetzen, ohne plausible Hoffnung auf eine Trendwende und auf eine neue, wieder erfolgreichere CDU. Das wäre Schrecken ohne Ende. Wer es gut meint mit der CDU, kann ihr daher nur eine möglichst saubere Opposition wünschen. Für die Demokratie wäre dies ein normaler Vorgang -für die CDU, vielleicht, eine letzte Chance.

Fussnoten

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