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Die F. D. P. am Scheideweg | APuZ 1/1994 | bpb.de

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APuZ 1/1994 Artikel 1 Ende oder Wende. Was wird aus der CDU? Zurück zur Mitte: Die SPD zu Beginn des Superwahljahres 1994 Die F. D. P. am Scheideweg Die CSU vor einem schwierigen Spagat Das Wahljahr 1994 und die Strategie der PDS Bündnis 90/Die Grünen: Oppositions-oder Regierungspartei?

Die F. D. P. am Scheideweg

Thomas Wittke

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für die F. D. P. steht im Superwahljahr viel auf dem Spiel. Sie hat die Möglichkeit, sich in der Regierung programmatisch zu erneuern oder aber den Regenerationsversuch in der Opposition zu wagen. Die Partei kann zwar nach der Devise „Augen zu und durch“ verfahren, aber eine Zukunft wird ihr nur beschieden sein, wenn sie sich von ihrer überholten Programmatik trennt und zu neuen sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ufern aufbricht.

Wenn im Oktober 1994 der 13. Deutsche Bundestag gewählt werden wird, feiert die Freie Demokratische Partei ein in der Geschichte Deutschlands seltenes Jubiläum: Seit 25 Jahren stellen die Liberalen ununterbrochen den Juniorpartner in einer Bundesregierung.

Erheblich wachsende politische Defizite, die sich im parteipolitischen Alltag durch programmatischen Verschleiß und personelle Durchschnittlichkeit ausdrücken, sind die Schattenseite dieser rein quantitativen Erfolgsmeldung. Das permanente angstvolle Schielen auf die demoskopisch vermittelte Sympathie im Volk hat die F. D. P. ohne Zweifel paralysiert. Lange Zeit verdeckte die Führungspersönlichkeit Hans-Dietrich Genschers die Probleme. Die Arbeitsteilung, die den Außenminister auch mit Parteichef Graf Lambsdorff zusammenarbeiten ließ, funktionierte halbwegs verläßlich. Damals kooperierten liberale Individualisten, weil sie ein gemeinsames Ziel hatten: die F. D. P. in der Regierung zu profilieren und gegen die Union Akzente durchzusetzen.

Diese Zeiten sind spätestens mit dem Rücktritt Hans-Dietrich Genschers vorbei, wobei er unglücklich mit dem politischen Abschied Otto Graf Lambsdorffs als Parteivorsitzender und schließlich auch mit den bis zum Rückzug führenden Affären Wirtschaftsminister Möllemanns kollidierte. Genschers Minister-Nachfolger und Träger des Lambsdorff-Erbes wurde mit Klaus Kinkel ein engagierter Jurist, ohne großen außenpolitischen Konzeptionsgeist und innenpolitischen Durchsetzungswillen. Ein solcher Mann, gerade mal seit zwei Jahren in Besitz eines liberalen Parteibuches und erklärtermaßen ohne jegliche Kenntnis des liberalen Innenlebens, ist für die Basis einer bis hin zur Koalitionsfrage zerstrittenen Partei zudem eine ideale Zielscheibe für Querschüsse von Querdenkern oder Querulanten.

Die Notwendigkeit einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Liberalen ist also gegeben, ohne gleich ihr Sterbeglöcklein 1 zu läuten. Angesichts einer kaum noch überbietbaren politischen Verdrossenheit in der bundesrepublikanischen Wählerschaft darf man allerdings die tiefreichenden Ursachen des deutlichen politischen Nieder-gangs, den viele schon als Verfall wahrnehmen, nicht ignorieren. Schlaglichtartig läßt sich die liberale Misere an folgenden Thesen verdeutlichen:

Die Liberalen haben im geeinten Deutschland ihr Selbstverständnis als bloße wirtschaftsliberale Interessenvertretung fortentwickelt, anstatt sich einem inneren Regenerationsprozeß zu unterziehen und sich den neuen, vor allen Dingen sozialen Herausforderungen anzupassen.

Die reine wirtschaftliche Interessenvertretung war während der Zeit des Kalten Krieges und des ständigen Gefühls der Außenbedrohung reizvoll und attraktiv. Der Kampf um Ausbau und Verteidigung des Wohlstandes war wesentlich ein Kampf gegen sozialistisch fundiertes Gedankengut.

Im Zeichen einer tatsächlich völlig offenen Daseinsbestimmung des deutschen Staates während der Nachwehen der 68er-Bewegung gab die Partei immerhin die Antwort eines sozialliberalen Selbstverständnisses, wobei die Interessenvertretung der Ökonomie immer Vorrang hatte, wie beispielsweise Altbundeskanzler Helmut Schmidt berichtet Die acht Jahre der sozialliberalen Koalition nach dem Rücktritt Brandts 1974 nutzte vor allem Hans-Dietrich Genscher zu Profilierungsübungen, die der Philosophie folgten, daß man Experimente am besten verhindern kann, wenn man sich mit dessen möglichen Verursachern an einen Kabinettstisch setzt.

Dieses koalitions-distanzierte Selbstverständnis war während des harmonischen Einstiegs in die christlich-liberale Koalition zunächst obsolet. Man stigmatisierte aber schnell auf der konservativen Seite die Angehörigen des CDU-Arbeitnehmerflügels als Gegner der liberalen Marktwirtschaft, um inner-koalitionäres Profil zu gewinnen. Nicht nur die SPD, auch weite Teile der Union wurden zur Gewerkschaftspartei -erklärt. Stärker kehrt dieses Muster der Auseinandersetzung vor allem in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen, die mit der Einheit begonnen haben, zurück.

Feststellbar ist, daß die Partei die deutsche Einheit als Chance zur internen Neubestimmung vertan hat. Anstatt die fundamental neue deutsche Geometrie zu analysieren und Konsequenzen zuziehen, wurden weitgehend dieselben Lobbyisten-Floskeln angeboten, die auch in der schwersten Krise seit 1945 die Politik für eine kleine Minderheit in den Vordergrund stellten.

Im Huckepack des Koalitionspartners CDU/CSU besänftigten die Spitzenliberalen -abgesehen von Hans-Dietrich Genscher, der die ebenso banale wie schmerzlich zutreffende Formel „Nichts wird mehr so sein, wie es mal war“ prägte -ihre Klientel mit jener psychologisch und politisch verhängnisvollen Fehleinschätzung, die deutsche Einheit könne „aus der Portokasse“ finanziert werden. Es zeigt sich, daß mit wachsender Zahl an Regierungsjahren der Opportunismus immer stärker dominierte, der darauf abzielt, einen Koalitionsbruch zu vermeiden.

Neben der Chance zur politischen Reform wurde auch die Möglichkeit der organisatorischen Neubesinnung auf dem Einigungsparteitag in Hannover 1990 vertan. Dort war die Parteispitze bemüht, die Emanzipationsbemühungen der ostdeutschen Liberalen -sie stellen in ihrer Mitgliederzahl die Mehrheit -durch Satzungsreformen zurückzudrängen. Dieser Abwehrkampf umschloß auch jene von ostdeutschen Liberalen begonnenen Debatten, die wesentlich stärker die Interessenvertretung der Ost-Bundesländer in den Vordergrund stellten. Automatisch hätten solche Auseinandersetzungen den Liberalen den Charakter sozialer Interessenvertretungen zurückgegeben. Diese Diskussion wurde aber auch später in den Spitzengremien beinahe angstvoll vermieden.

Die Partei stellte sich also unter den Brimat der Regierungsvernunft, die schon frühzeitig an die Unions-Ratio angenähert wurde: Einheitsbedingte politische Gewichtsverschiebungen und Neuorientierungen mußten um den Preis der künftigen politischen Gemeinsamkeit in jedem Fall vermieden werden. Die „Rolle des Anwalts für den Osten“ wurde geschickt -mit Einwilligung der emotional hochgradig engagierten Betroffenen -auf Einzelpersonen verlagert. Hans-Dietrich Genscher geriet nach seinem Rücktritt in die Rolle des Einzelkämpfers. Niemand hat sich mehr als der geborene Hallenser gewundert, wie schnell man selbst als Polit-Prominenter vergessen wird, wenn man in diese unbequeme Funktion gedrängt wird. Die deutsche Einheit hätte der F. D. P. die Chance eröffnet, die Option zu einer sozialen und liberalen Kraft zurückzuerobern, ohne die wert-und strukturkonservative Basis zu verlassen. Wenn die Parteispitze diese Möglichkeit, die immerhin die Option auf politische Öffnung nach allen Seiten mit sich gebracht hätte, überhaupt erkannt hat, hat sie sie leichtsinnig verspielt. Daraus ergibt sich eine zweite These: 2. Die Partei hat den Anschluß an die Auseinandersetzung liberaler Eliten verloren.

Die F. D. P. hat sich mit einem zumindest in den letzten Jahren zunehmend technokratischeren Politikverständnis von einer breiten Programm-diskussion verabschiedet. Wesentlich wichtiger freilich ist die Abnabelung von den aktuellen, von liberalen Geistern getragenen Diskussionen, die die letzten Jahre geprägt haben und die an der F. D. P. weitgehend spurlos vorbeigegangen sind.

Ein einprägsames Beispiel ist jene von Bundespräsident von Weizsäcker entfachte-Diskussion um den Parteienstaat deren intellektueller Reflex innerhalb der Partei eher ärmlich war. Die Partei-spitze setzte sich nicht mit den Kernpunkten der Kritik auseinander, sondern übte sich in Verteidigungsreden gegen pauschale Verdammungen durch das Staatsoberhaupt. Müde geworden durch mehr als zwei Jahrzehnte Bonner Dauerkoalition, begriff man die Einlassungen des Staatsoberhauptes nicht als zwar schmerzhaften, möglicherweise überzogenen, aber in jedem Fall notwendigen Nadelstich, um aus einer lange währenden Lethargie zu erwachen. Die F. D. P. lieferte keinen einzigen nennenswerten Beitrag zur Diskussion -ganz anders als beispielsweise der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Rüttgers

Im Gegenteil: Anstatt sich als problemorientierte Partei zu präsentieren, orientierte man sich an der Marschroute, die da lautete: die Kritik des Präsidenten niedriger hängen. In der vor allem vom Koalitionspartner CDU begonnenen, in den Wahlkampf hineinreichenden Wertedebatte spielt die F. D. P. allenfalls insoweit eine Rolle, als sie unter dem Gesichtspunkt eines effizient funktionierenden Wirtschaftsliberalismus geführt wird. Diesem Wertestreit stellte sich auch der neue Parteivorsitzende Kinkel nur unzureichend, wenn er auf dem Münsteraner Parteitag der F. D. P.der Diskussion entgegensetzte, die Deutschen seien eine „Urlaubsgesellschaft“. Dieser kritische Impuls wurde -auch im Vergleich zur Äußerung des Kanzlers über die deutsche Freizeitgesellschaft -kaum noch wahrgenommen.

Auch bei der Grundsatzauseinandersetzung um die Wirtschaftspolitik hat die Partei die geistige Vorreiterrolle weitgehend abgegeben. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte erstmals im Jahr 1991 darauf hingewiesen, daß man -bedingt durch Geburtenrückgänge -an eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nach dem Jahr 2000 denken müsse. Die Debatte der letzten Monate um eine Viertagewoche begriff die Partei rein technokratisch. Man müsse die Materie branchendifferenziert beurteilen. Die Chance einer grundsätzlichen Debatte um den Abbau von Arbeitslosigkeit durch die Neuverteilung vorhandener Arbeit begriff die F. D. P. allenfalls unzureichend. Die Kette verpaßter Debattenbeiträge ist lang.

Um so umfangreicher wird die Liste jener Themen werden, in denen sich die F. D. P. in den nächsten Jahren an neuen Bündnispartnern wird orientieren müssen, die ihre Programmdiskussion energischer vorangetrieben haben. Die ökologische Steuerreform gilt unter Liberalen als Schimpfwort -trotz amerikanischer Bestrebungen und brillanter Nachweise der Notwendigkeit intensiven Nachdenkens über den Schutz der Umwelt auch im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung Die Kompetenz für den Kampf gegen den im internationalen Vergleich immer bedrohlicheren Technologierückstand Deutschlands mit all seinen arbeitsmarkt-politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen hat sich die Partei schon in den letzten Monaten des Vorsitzenden Lambsdorff aus der Hand schlagen lassen und sie an die Union beziehungsweise -aus ihrer Sicht paradoxerweise -an die SPD abgegeben

Auch die Chance einer umfassenden Grundgesetz-reform -und damit ein klassisches Anliegen einer Verfassungspartei -aus Anlaß der deutschen Einheit hat die Partei mitverspielt. Wenn sie ein ernstes Interesse gehabt hätte, wären ihre Mitglieder der Verfassungskommission wesentlich entschiedener gegenüber dem eigenen Koalitionspartner CDU/CSU für grundsätzliche Änderungen eingetreten. Gerade der letzte Teilaspekt zeigt: Die F. D. P. unterschätzt das liberale Potential innerhalb der Gesellschaft. Dies gilt nicht nur für den Bundespräsidenten, der als CDU-Mitglied zum liberalen Vordenker der Republik, nicht aber der Liberalen Partei geworden ist. Kleine, aber durchaus beachtenswerte Impulse innerhalb des Bündnis 90/Die Grünen, die sich verstärkt nach dem Neumünsteraner Schisma-Parteitag unter der Abtrennung vom Fundamentalisten-Flügel der Grünen entwickelten, fanden in der Partei keine Widerspiegelung. Die Beiträge des liberalen Flügels der CDU, die sich mit den Namen Heiner Geißler oder Friedbert Pflüger verbinden lassen, werden als Problem innerhalb des Koalitionspartners CDU/CSU taktisch ausgeschlachtet und damit ignoriert, anstatt sie als Chance für das Grundanliegen der F. D. P. zu begreifen.

Die erklärte Passivität und Politikverdrossenheit der Intellektuellen paßt der Parteiführung um Klaus Kinkel nicht eben schlecht ins Konzept. Nichts wäre für die F. D. P. schlimmer als eine offene Ablehnung durch geistige Eliten. Die F. D. P. verbirgt sich zur Zeit gut geschützt hinter der politischen Durchschnittlichkeit.

3. Die F. D. P. verliert Domänen:'Die hohen Sympathiewerte, die die Partei durch außenpolitische Kompetenz gewonnen hatte, sind weitgehend verbraucht. Das außenpolitische Feld verleitet wie kein anderes zu Fehlbeurteilungen. Der im Mai 1992 ausgeschiedene Hans-Dietrich Genscher galt und gilt in der Erinnerung der Menschen als ein Teil des deutschen Architekten-Duos der Einheit. Liebevoll wird seine weltpolitische Leistung allseits gewürdigt.

Tatsächlich fand der Liberale Klaus Kinkel am 23. Mai 1992 bei seiner Amtsübernahme ein politisches Erbe vor, das jedem Testamentsvollstrecker Schwierigkeiten bereitet hätte. Genscher hatte -teilweise im Wissen um seinen nahen Rücktritt -seinen Amtsnachfolger in ein Geflecht bilateraler Kontakte gezwängt, die nicht erfüllt werden konnten. Der Außenminister, dessen Schaffenskraft mit der Realisierung der deutschen Einheit offensichtlich erschöpft war, hinterließ eine Vielzahl von Problemen. Stichworte: deutsch-türkische Beziehungen, Verhältnis zu Asien und vor allem zu China, Deutschlands Rolle in der Welt und die unter Genscher vehement bekämpfte Kandidatur für den UN-Sicherheitsratssitz und die deutsche Rolle im Balkan-Konflikt. Genscher übergab seinem Nachfolger kein Chaos, wohl aber einen unübersehbaren Problemhügel, der durch die neue Unübersichtlichkeit nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, den Zusammenbruch des Kommunismus sowie regionale und nationalistische Konflikte zum Problemberg wurde.

Die Kinkel-Ära läßt sich deutlich in zwei Phasen unterscheiden: einen relativ ruhigen ersten Abschnitt bis zu seiner Wahl als Parteivorsitzender im Juni des Jahres 1993 und eine zweite Phase, die durch beinahe permanenten innenpolitischen Streit innerhalb der Koalition gekennzeichnet war. In beiden Phasen gab der Außenminister -sehr zum Ärger seiner Spitzendiplomaten, die sich teilweise ins Ausland versetzen ließen -häufig genugum der Koalitionsräson wegen nach, um sich auf anderen Schlachtfeldern völlig überzogen ins Gefecht zu werfen. Fast alle Kinkel-Kenner betonen Defizite des Außenministers. Er sei kein Vertreter konzeptionellen Denkens und habe insofern wenig vom Amtsvorgänger Hans-Dietrich Genscher. Seine Entscheidungen treffe er grundsätzlich „aus dem Bauch heraus“, wie es ein Vertrauter formulierte. Die legitime Forderung nach einer vollen Wahrnehmung der Rechte und Pflichten der UN-Charta durch Deutschland wird gepaart mit einem unverhohlenen Pochen auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, das für einige der internationalen Partner Anlaß für kritische Gegenfragen ist, zumal der Außenminister die Forderungen mit lautstarkem Wehklagen über die durch die innenpolitische Opposition entstandenen Probleme eines „impotenten Zwerges“ verbindet.

Kinkel ist nicht Genscher, was in der F. D. P. bedauert wird. Wohl wird er aber an dem Altvater der Außenpolitik gemessen. Er verfolgt eine eher wirtschaftsorientierte Politik, die -ganz anders als das Vorgehen seines Vorgängers -den Terminus der im Zusammenhang mit dem internationalen Absicherungsprozeß der deutschen Einheit („Zwei-plusVier-Prozeß") von Genscher geprägten „Verantwortungspolitik“ in eine engere deutsche „Interessenpolitik“ verwandelt. Kinkel öffnet für die deutsche Wirtschaft als letzter und nicht unbedeutendster Partner den gigantisch boomenden chinesischen Wirtschaftsraum. In Peking ficht er zugleich still gegen Menschenrechtsverletzungen und setzt sich mit erheblichem Erfolg für inhaftierte Demokraten ein. 4. In der für die Wähleridentifikation entscheidenden Frage der bürgerlichen und demokratischen Freiheitsrechte verliert die Partei an Ansehen.

Die Partei identifizierte sich zwar stets grundsätzlich mit dem linksliberalen Ansatz, die individuellen Freiheitsrechte weitgehend von staatlichen Eingriffen freizuhalten. Freilich kontrastierte die Tagespolitik auffallend zu dieser Grundsatzhaltung. In praktisch allen Feldern gab die F. D. P. ihren jeweiligen Koalitionspartnern in zentralen Fragen nach. Zu nennen wäre hier das Verhalten der Liberalen während und nach dem Terrorjahr 1977, in dem der F. D. P. -Innenminister Werner Maihofer eine -nach Ansicht auch der Befürworter der Anti-Terror-Gesetze -erhebliche Ausweitung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten in Freiheitsrechte startete. Die liberalen Grundsätzen widersprechende Alltagspolitik setzte sich fort bis beispielsweise in die Asylpolitik oder die Kriminalitätsbekämpfung, bei der die F. D. P. unter öffentlichem Druck scheibchenweise Positionen preisgegeben hat.

In diesem Zusammenhang von großer Bedeutung ist die Ambivalenz bei der Auswahl der personellen Schlüsselfiguren im Kampf für den Liberalismus. Die Wahl der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in der F. D. P. -Fraktion war keine Bestätigung für eine qualifizierte Frau, sondern eine Anti-Wahl, um den Linksliberalen Burkhard Hirsch zu verhindern. Eignungskriterien gab es nicht. Dementsprechend unzufrieden ist die Fraktionsmehrheit mit der Ministerin, weil sie stillschweigend glaubte, eine beeinflußbare Vertreterin gewählt zu haben, was sich allerdings als Irrtum erwies. Dieser für eine liberale Partei problematischen Situation liegt allerdings ein grundsätzliches Defizit zugrunde: Die F. D. P. hat sich in ihrer jüngeren Geschichte stets nachlässig mit dem Begriff „wehrhafter Staat“ auseinandergesetzt, beziehungsweise die Auseinandersetzung vor allem dem konservativen Regierungspartner überlassen, dessen CSU-Teil diesen Begriff sogar gegen die Liberalen instrumentalisierte.

Besonders deutlich wird diese Nachlässigkeit, die die Partei in die Defensive geführt hat, bei der Frage der Kriminalitätsbekämpfung. Staatliche Maßnahmen, die beispielsweise im italienischen Verständnis als linke und liberale Initiativen gelten, weil sie Bürger und Staat schützen, werden von den Freien Demokraten als unfein abgelehnt. 5. Das Profil der Partei in der Wirtschaftspolitik hat in den Jahren der christ-liberalen Koalition dramatisch abgenommen.

Dies hängt neben personellen unmittelbar mit operativen Fragen zusammen. Die Position des Wirtschaftsministers wird immer stärker durch die Zwänge des hochverschuldeten öffentlichen Haushalts bestimmt. Ein zweiter Faktor tritt hinzu: Wenn bis in das Jahr 1982 mit der Angst vor dem Gewerkschaftsstaat Stimmung gemacht wurde, so haben die Liberalen seitdem ein selten gekanntes Lobbyistentum stark werden lassen, das jede geradlinige politische Entscheidung schwer erreichbar oder gar unmöglich macht. Das jüngste Beispiel ist der Streit um die Neuregelung der Ladenschlußzeiten, die am eindeutigen Nein vor allem der Interessenvertreter des Mittelstandes aber auch der Gewerkschaften gescheitert ist.

Selbst bei der Wirtschaft genießt die Kompetenz der marktwirtschaftlichen Urenkel Erhards keinen besonders guten Ruf. Den verschiedenen F. D. P. -Wirtschaftsministern werden Konzeptionslosigkeit und mangelndes Durchsetzungsvermögen bei zentralen Fragen der Wirtschaftsreform nachgesagt. 6. Nicht nur die Qualität des Führungspersonals hat abgenommen. Auch die Entscheidungsstrukturen sind erkennbar schwerfälliger geworden. Es fehlt eine ordnende Hand.

Mehrere Faktoren spielen hier hinein. Klaus Kinkel ist durch seine Doppelrolle als Parteichef und Außenminister überlastet. In den Medien erscheint Generalsekretär Hoyer zu innenpolitischen Fragen häufiger als Kinkel. Die Parteiführung äußert sich relativ unkoordiniert zu vielen Sachfragen, droht beispielsweise mit Koalitionsbrüchen, ohne dies mit dem Vorsitzenden besprochen zu haben. Kinkel kommt in die beklemmende Situation, nicht als Bestimmungskraft, sondern als Korrektor parteiinterner Aussagen auftreten zu müssen.

Natürlich hängt dieser Umstand eng mit den Rahmenbedingungen der Wahl Kinkels zum Außenminister zusammen. Wenn ein Parteigremium eine Kandidatin vorschlägt, die aber im nächsten Wahlgang vor der Fraktion klar zugunsten Kinkels unterliegt, sind Voraussetzungen für eine abgestimmte F. D. P. -Politik nicht gegeben. Ein zweiter Hinderungsfaktor ist die Gestalt eines stark extrovertiert agierenden Ex-Wirtschaftsministers, der die Umstände seines Rücktrittes -nicht zuletzt bedingt auch durch heftige innerparteiliche Kritik -nicht verwunden hat und seinen nordrhein-westfälischen Landesverband massiv die Autorität des Parteivorsitzenden untergraben läßt.

Dieser Befund steht im krassen Gegensatz zu den klaren, autoritätsorientierten Konstellationen unter den Vorgängern Lambsdorff -der diese allerdings nach seiner langfristigen Ankündigung, er wolle nicht mehr kandidieren, nicht aufrechterhalten konnte -und Genscher, die die Lust am innerparteilichen Pluralismus erfolgreich bremsen konnten, um die Partei einerseits in der Koalitionsdisziplin zu halten, andererseits den Eindruck zu vermeiden, die F. D. P.franse komplett aus.

Wie weit der Autoritätsverlust inzwischen gediehen ist, zeigt die Frage Kinkels an die Führungsgremien, ob er den Vorsitz weiter wahrnehmen solle. Auch seine wiederholten Äußerungen, er habe mit „der Faust auf den Tisch“ schlagen müssen, um die Rangordnung wiederherzustellen, zeigt, daß die Freie Demokratische Partei sich von klaren Führungsstrukturen immer weiter entfernt. In diesem Zusammenhang zählt auch, daß Kinkel zunehmend die Hilfe und tröstenden Worte seines Vorgängers Genscher in Anspruch nehmen muß der innerparteilich immer noch eine ÜbervaterRolle einnimmt und von dessen Wohlwollen Kinkel maßgebend abhängt.

Resümee:

Die Freien Demokraten haben im letzten Viertel-jahrhundert in der Regierungsverantwortung zwei historische Funktionen erfüllt. Zusammen mit den Sozialdemokraten haben sie eine gesellschaftliche Reformbewegung und eine außenpolitische Öffnung mitinitiiert, deren Relevanz durch die deutsche Einheit auf der Hand liegt. Im christliberalen Kabinett haben sie maßgebend eine zunächst halbwegs durchgreifende wirtschaftliche Konsolidierung als Gegenreform eingeleitet und an führender Stelle die deutsche Einheit verwirklicht. In Vergessenheit geriet darüber die programmatische Neu-bestimmung der F. D. P. -Ziele vor allem im geeinten Deutschland. Die Partei hat sich zuletzt ohne große Perspektiven in der Politikverwaltung verschlissen.

Die Partei steht damit am Scheideweg: Sie hat die Möglichkeit, sich in der Regierung programmatisch neu zu besinnen, was allerdings ein Widerspruch in sich sein kann. Vorherrschende Tendenz in der Partei ist es nämlich, die Wertebestimmung an der Tagespolitik und damit auch an jenem strategischen Kalkül, das die Interessen des Regierungspartners mit einbezieht, zu orientieren.

Eine weitere Möglichkeit ist, den Regenerationsversuch in der Opposition zu wagen. Freilich ist auch dieser Weg risikobehaftet, denn die Annahme der Parteispitze, die F. D. P. könne außerhalb der Regierungsverantwortung in Vergessenheit geraten, scheint auf den ersten Blick nicht unbegründet.

Es gibt einen dritten, scheinbar attraktiven Weg, den die Partei gleichwohl meiden muß: Selbst vor dem eigenen, eher negativen Hintergrund bietet sich den Liberalen die Chance wachsender Verdrossenheit der Bürger über große Parteien. Das Kalkül einer „Augen-zu-und-durch“ -Wahlstrategie mag kurzfristig Erfolge zu Lasten von CDU und SPD zeitigen, kann aber die Konsequenzen des defizitären programmatischen Reflexionsprozesses langfristig nicht übertünchen.

Die Liberalen müssen politische Attraktivität über das Jahr 2000 hinaus bieten. Nur aus einer gründlichen Auseinandersetzung mit der eigenen verstaubten Programmatik kann eine Partei erwachsen, die offen für alle sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimensionen und damit attraktiv für CDU, SPD und GRÜNE ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heribert Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. 11. 1993.

  2. So der sozialdemokratische Altbundeskanzler in mehreren Publikationen nach dem Ausscheiden aus seinem’Amt.

  3. Vgl. Werner A. Perger/Gunter Hofmann, Richard von Weizsäcker im Gespräch, Frankfurt 1992.

  4. Vgl. Jürgen Rüttgers, Dinosaurier der Demokratie, Hamburg 1993.

  5. Vgl. vor allem die Normenaspekte in dem Rechenschaftsbericht von Wolfgang Schäuble vor dem Berliner CDU-Bundesparteitag.

  6. Vgl. Al Gore, Wege zum Gleichgewicht, Frankfurt 1992.

  7. In der Debatte bleibt unberücksichtigt, daß der kurzzeitige Forschungsminister Matthias Wissmann eine zentrale Rolle in der Strategie hatte, technologische Kompetenz für die Union zurückzuholen.

  8. Vgl. die Rede von Rudolf Scharping vor dem Wiesbadener Parteitag der SPD.

  9. Bestes Beispiel ist ein flankierendes Interview Genschers mit dem Bonner General-Anzeiger vom 25. September 1993.

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