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Zum 10. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte | APuZ 51-52/1958 | bpb.de

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APuZ 51-52/1958 Zum 10. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte Die asiatische Revolution

Zum 10. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte

THEODOR HEUSS

Ansprache des Bundespräsidenten Theodor Heuss zum 10. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte im Plenarsaal des Bundestages am 10. Dezember 1958.

Eminenz, Exzellenzen, geehrte Anwesende!

Wollen Sie von mir keinen Vortrag erwarten, der in eine Vorlesung ausarten könnte, wenn nicht mit dem Anspruch der Gelehrtheit, so doch der Gelehrsamkeit, denn das Wort und der Begriff „Menschenrechte“ ist umkränzt von einer unübersehbaren Kontroversliteratur — sie ist alt genug und weitschichtig genug, daß man, ihr folgend, eine Wanderung durch zweitausend Jahre und mehr europäischer Geistes-und Rechtsgeschichte antreten könnte oder doch die Rechtsphilosophie deklinieren müßte. Das ist aber kaum der innere Sinn dieser Stunde, und dergleichen im Abriß zu leisten, ginge über eigene wissenschaftliche Mächtigkeit weit hinaus. Ich selber bin ja nun kein Jurist, was den einen von Ihnen schmerzen wird, den anderen beruhigen mag. Doch ich bin der Aufforderung zu dieser Ansprache gefolgt, denn wenn auch die Problematik der Rechtsformen, der gütigen Rechtsformulierungen hintergründig bleibt, Tore, die öffnen, aber auch Tore, die schließen, so geht es in unserem wie im öffentlichen Bewußtsein um anderes: um Sicherungen des individuellen Menschenseins wie um die Normen eines solchen Anspruch wahrenden Gemeinschaftslebens.

Heute begeht man in vielen Städten vieler Länder die zehnjährige Wiederkehr des Tages, da von den Vereinten Nationen die „Deklaration der Menschenrechte“ erlassen wurde. Mag einer sagen: was geht das uns an? Wir sind ja nicht einmal Mitglied der UNO. Der Einwand wäre taktisch-mechanistisch vermutlich da und dort von dem landes-und zeitüblichen Ressentiment durchfärbt. Nicht bloß bei uns. Mag einer mir schreiben: Bist du denn ein Träumer, belügst du dich oder uns, wenn du die Deklaration gelesen hast, und siehst du nicht, wie viel davon gar nicht stimmt, ein Märchen für große Kinder, ein moralisches Kapitel aus des Thomas Morus „Utopia“? Doch: ich bin weder für solche Briefe blind noch für solche Worte taub. Aber es wäre ein billiger Snobismus der Berufs-Skeptiker, die zwar persönlich reizvoll sind und eine geistreiche Arabeske sein können, doch für geschichtliches Wollen und Werden meist hemmend oder verwirrend wirken, wollte man nicht das Großartige in dem Versuch sehen, moralisch verbindliche Thesen für einen ganzen Völker-und Staatenverband zu statuieren, denen der Auftrag oder doch die Erwartung eingeschrieben ist, bei den einzelnen Staaten in jetzt auch rechtlich verbindliche Sätze verwandelt zu werden. Das Neue, entweder romantisch Verwegene oder rational Geglaubte, ist eben dies, als universaler Anspruch gemeldet zu sein. Und die Sätze waren dabei nicht so hingeschrieben als eines der in der Geschichte immer wiederkehrenden Wortplakate, die zum Eintritt in eine bessere Zukunft einladen, sondern im Rahmen der UNESCO waren von Männern und Frauen, die sich nicht mit dem Sprüchemachen begnügten, Studien über Ziele und Grenzen, über Sinn und Gewicht, auch Gefahr dieser oder jener Lösung vorangegangen.

Diese dreißig Artikel habe ich Ihnen nun weder vorzulesen noch zu analysieren, noch kritisch oder enthusiastisch zu kommentieren. Zu letzterem fehlt mir persönlich jede Begabung. Aber ihren Sinn darf ich zu deuten versuchen: Sie sind ein sittliches Zielbild für die Staatsführer und für die Gesetzgeber.

Wer ein bißchen Verfassungsgeschichte kennt, begegnet natürlich in diesen 30 Artikeln vielen alten Bekannten. In den Gelehrtenstreit, was an sogenannter „naturrechtlicher“ Grundauffassung der griechischen Klassik, was der Stoa und dem Cicero angehört, was die scholastische Thetik des Thomas von Aquin, was die sogenannte Aufklärung mit Locke, Montesquieu, auch mit Voltaire geleistet hat, mischen wir jetzt nicht ein. Als Georg Jellinek, der Heidelberger Rechtsgelehrte, vor über 60 Jahren von der Menschenrechtserklärung der französischen Revolution handelte, sah er die Quellen wesentlich in den kolonialen Staats-ordnungen der jungen amerikanischen Staaten gefaßt, d. h. zugleich konfessionell-tolerant. Diese Schrift hat vor Jahrzehnten meine Jugend stark beeindruckt, ist aber heute in dem Gewicht ihrer Zeugnisse umstritten — das mag auf sich beruhen. Sicher stimmt das zugreifend deklarierende Pathos, das seine Form suchte und fand, aus jener Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts, da eine großartige wie großgemute Figur wia Thomas Jefferson, von geschichtlicher Tradition sich lösend, mit einer Gänsefeder Weltgeschichte niederschrieb, da in Frankreich die Autoritäten zerbrachen und Rousseaus Lehre für ein bißchen addiertes Menschen recht wie doch auch für S t a a t s v e r m a c h t u n g zur Verfügung stand.

In beiden Fällen spürt man das Ineinander von Menschen rechten und Bürger rechten. Das ist ein ziemlich komplexes Problem: Was ist ein Mensch? Die großartige antike Kultur lebt auf der Basis des Sklaventums, die mittelalterliche auf der Feudal-Leibeigenschaft. Sie ist auch für das Mittelalter einfach eine Gegebenheit, die sich mit dem Begriff des „Menschenrechts“ schwer verträgt, aber doch eben auch zu vertragen hatte. Wann meldet sich denn die Spiegelung der religiösen Kräfte, der Lehre von der Gotteskindschaft, vom Menschen als Ebenbild Gottes? Nicht so sehr in einer Theoretik, die nicht durchgreift, als in einer Erfahrung.

Als ich mir diese Rede hier zu überlegen hatte, entsann ich mich einer kleinen Erzählung des unvergessenen Reinhold Schneider, der vor ein paar Jahrzehnten das bewegende Buch niederschrieb: „Las Casas vor Karl V.“. Dort wird, poetisch verdichtet, doch im Elementaren deutlich genug, der geschichtliche Streit ausgetragen, ob denn die Indios in dem spanischen Herrschaftsbereich des neuen Indiens auch Menschen seien. Der Dominikanermönch in seiner Mitleidenskraft und seinem Rechts-sinn, er hatte selber einmal die Rechte studiert, ringt gegen den Staats-juristen in seiner Zweckargumentation. Er gewinnt das Herz des Kaisers für seine mörderisch gequälten und vernichteten Schützlinge. Das vollzieht sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Doch erst mehr als 300 Jahre später wird dieser Streit rechtlich zum Ende geführt, denn der Sklavenhandel, mehr noch die Sklavenarbeit auf den Plantagen war, als er jene Welt des Ostens verlassen hatte, zu der Stütze einer großen agrarischen Neustruktur außerhalb Europas und doch auch zu einem Hebel im gewerblichen Getriebe geworden.

Politische Lyrik?

Genug davon — doch dieser kurze geschichtliche Nebenweg unserer Betrachtung durfte beschritten werden, denn die Sklavenfrage, ob ein Mensch eine verkäufliche und vererbbare Ware sei, war wesenhaft die Hauptstraße, auf der die Menschenrechte schlechthin noch umstritten und umlitten wurden, als diese längst, gewiß zunächst uneinheitlich, aus verschiedener volkhafter und historisch-politischer Situation heraus ihre Konkretisierung in umgrenzten „Bürgerrechten“, Verfassungsbestimmungen usw. gefunden hatten. So sind sie ja auch — das Nachbarschaftspathos von Paris, 1789, wirkte im europäischen Bewußtsein ganz notwendig viel stärker als die Töne aus Virginiens Hügelwelt — in die europäischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts gekommen, zumal mit sehr viel Zeitfärbung — etwa Ausräumung feudaler Restbestände — in dem Reichsverfassungentwurf 1848. Man braucht die Paulskirchen-Niederschrift nur sehn, um wahrzunehmen, wie viele Dinge dort verfassungsrechtlich geregelt sind, die wir gar nicht mehr recht verstehen können. Sie sind selbst, die Menschen-und Bürgerrechte, selbst in die oktroierte preußische Verfassung vom Jahr 18 50 hereingekommen. Ich entsinne mich gut, als vor eben einem Halbjahrhundert, 1908, der Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht einsetzte, daß Naumann aus diesem Staatsdokument — Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat von 18 50 — sehr gerne den Artikel 4 zitierte: „Alle Preu-

ßen sind vor dem Gesetze gleich“, und dann mit ironischer Anklage hinzusetzte: „ausgenommen vor dem Wahlgesetz“.

Bismarcks Verfassung kannte dergleichen nicht: vermutlich hielt er, nach seiner Art, nicht viel davon oder mochte diese Dinge in den Ländern-und Staatsverfassungen genügend aufbewahrt wissen. Auf jeden Fall wies er beim Werden der Reichsverfassung die Versuche der damaligen Zentrumspartei, Grundsätze für kirchliches Recht in die Paragraphenreihe einzubauen, schroff zurück. Seine Verfassung war ja, von der Nähe gesehen, nichts anderes als ein kunstvoll abgewogenes Organisations-und Machtinstrumentarium.

Vermutlich hat dieser Charakter der Bismarckschen Verfassung zu einer gewissen Verarmung des deutschen Staatsdenkens geführt, etwa zu dem an sich glänzenden Rechtsformalismus von Paul Laband und seiner Schule. Menschen-und Bürgerrechte waren in der deutschen staatsrechtlichen Tradition, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, wenig gefragt. War das nicht alles mehr oder weniger politische Lyrik, unter höflicher Bezugnahme auf Friedrich Schillers Mitteilung, daß der Mensch auch in Ketten frei geboren sei?

Als dieses sogenannte Bismarckreich, in dem Kriegsende wohl unvermeidlich, 1918 zerbrach, wollte Hugo Preuß, wahrscheinlich kein Bis-marckianer, um die neue Staatskonstruktion auf dem zur Geschichtsformung legitimierten Volkswillen rasch voranzubringen, hier ein Nachfolger von Bismarck werden. Doch Friedrich Ebert forderte mit seinem Instinkt für das Imponderabile, vielleicht auch in der Sorge um die revolutionär drapierte sogenannte Räte-Ideologie, feste Sätze für ein freiheitliches Bürger-Sein.

Damals entwarf Naumann seine „volksverständlichen Grundrechte“, die man, wenn man will, als eine Rhapsodie bezeichnen mag. Neben jene Individual-und doch auch politischen Gesellschaftsrechte, die man die „klassischen“ zu nennen sich gewöhnt hatte: Gewissens-und Glaubensfreiheit, freies Vereins-und Versammlungsrecht, Wahrung des Briefgeheimnisses, Schutz vor willkürlicher Verhaftung usf. usf., traten Sätze über die Sozialordnung, — das hatte es früher noch nicht gegeben, — über das Bodenrecht, über einen geglaubten Weg der Wirtschaftsentwicklung oder einen gewollten Weg. Das war in einem solchen Betracht etwas Neues, in einer positivistischen Rechtsverbindlichkeit, wie es ausgesprochen war, unbrauchbar. Aber ein Vortasten in das Werdende oder doch in Werdendes.

Als ich mir dereinst zum ersten Mal die „Deklaration der Menschenrechte“ von 1948 durchlas, die heute eben vor zehn Jahren beschlossen wurde, empfand ich, ohne daß mit solchen Worten irgendein hybrider Anspruch der Deutschen gemeldet würde, daß einige der in Deutschland 1919 geformten Anregungen, die eben auch Anweisungen zu kommenden legislativen Maßnahmen genannt werden können — sie hatten keine unmittelbar wirksame Rechtsverbindung — in der Deklaration der LINO von 1948 nachklingen.

Was ist denn der Hintergrund dieses Versuches, dieser Gesinnung, die nun die Menschheit umfassen soll, den Charakter einer das Mensch-Sein schlechthin, dann das Bürgersein in seiner nationalen und geschichtlichen Bedingtheit, in dem Wesenhaften angeborener Rechte zu finden und zu erklären? Schmerzvoll genug, es zu sagen: Die Zertrampelung und Vernichtung des Mensch-Seins als individuelle, als gruppenmäßige Gegebenheit, die gerade unsere Generation und vorab auch Menschen unseres Volkes betrieben oder hingenommen oder erlitten hatten. Es gab schon vorher über die Grenzen von Staaten und Völkern hinausgehende Regelungen, die moralisch gedacht waren, den Rang von Rechtsverbindlichkeiten erreichten, freilich ohne über die realistische Macht zu verfügen, daß dem Rechtsanspruch auch die Rechtserfüllung zuverlässig folge: Ich denke jetzt an das Rote Kreuz, ich denke an die Land-und an die Seekriegsordnung, die den Krieg, soweit solches möglich ist, humanisieren sollten, aber in ihren Rechtsformungen durch die immer und zu allen Zeiten planende, objektive Militärtechnik überrundet wurden. Denken Sie an die erregenden Kontroversen ab 1914, über die U-Bootwaffe, politische und völkerrechtliche, von der die früheren rechtlichen Abreden noch nicht eigentlich Kenntnis genommen hatten. Hier also die ewige Spannung.

Jetzt aber, nach 1933, ging es um anderes: nicht um das Fertigwerden mit neuer Technik, es ging um die systematische, fast möchte man sagen pedantische, wenn das Wort nicht so spießig-bürokratisch in einem klingen würde, sagen wir deutlicher: es ging um die brutale, höhnisch genußsüchtige Zertrümmerung des einfachen Lebensrechtes schuldlos geborener Menschen, weil sie einem politischen Bekenntnis anhingen, weil sie einer Rasse angehörten, weil sie zu einem religiösen Glauben dieser oder jener Artung, zumal etwa zu Spielarten einer christlichen Sekte, sich bekannten. Daß in einem Kernland Europas die Macht, die jeder staatlichen Ordnung zugeordnet ist, in die wüste wahllose oder wählende Gewalt verwandet wurde, hat elementar den Versuch gegründet, ganz einfach ausgedrückt, dem freien Mensch-Sein etwas wie eine Sicherheit und eine Chance seiner von Willkür, Llnrecht, Rache und Brutalität nicht Tag um Tag bedrohten Entfaltung zu geben. Nur ein Träumer oder ein Illusionist wird Sätze jener Deklaration für eine Spiegelung der Wirklichkeiten halten, es sind Wunschträume, über die der Ironiker die Achseln zuckt, die vom Skeptiker verhöhnt werden. Ihr Sinn ist ganz einfach: Sie wollen als Auftrag verstanden und als ein Maß, als das Maß gewürdigt werden für die Stellung des Men-

schen in der Gemeinschaft, sei diese mit den Begriffen Gesellschaft, Volk, Staat bezeichnet.

Unantastbare Würde des Menschen

Es handelt sich wesentlich um Abstraktionen, denen die Verfasser damals selber keine unmittelbare Rechtswirksamkeit zuerkannten — denn zur Wirsamkeit des Abstrakten gehört der Verwirklicher in concreto —, aber es ist ein Stück der geschichtlichen Entwicklung, daß der „Deklaration“ von 1948 ein paar Jahre später, in der „Europäischen Konvention“ von 1952, der umfassende „Auftrag“ für eine Staaten-und Völkergruppe verwandter Geschichts-und Kulturzüge zur „Verpflichtung“ entwickelt wurde. Auch sie noch, da nicht allenthalben ratifiziert, ein Versprechen, ein Wechsel auf die Zukunft.

Als vor 10 Jahren hier, in dem alten Kernstück dieses Hauses, der Parlamentarische Rat die Grundlagen einer kommenden Rechtsordnung zu planen und zu formen begann, sah er sich mitten in diese Fragen-reihe gestellt: Das Recht, m i t dem der Mensch geboren, — vorstaatliches Naturrecht solcher oder solcher Färbung, — zu verzahnen mit jenem Recht, i n das der Mensch geboren wurde, staatliches Recht, in seinen verschiedenen Kategorien und Stufungen. Wir haben uns die Sache damals nicht leicht gemacht. Denn die Sinnentleerung des einfachen rechtlichen Denkens, ja Verfahrens, oft genug in dem Rahmen eines formalen Wortpositivismus, lag uns noch allen stark im Geblüt. In manchem der schauerlichen Prozesse dieses Jahres erleben wir ja den Weiterklang solchen Vorganges und manche möchten sich die Ohren vor den Mißklängen verschlossen halten; das gilt aber nicht.

Der für die Geschichtsfolge entscheidende Satz, zu dem wir uns damals entschlossen haben, steht in Artikel 1 Satz 3: „Die nacltfolgei'idet'i Grundrechte binden Gesetzgebung, Verwaltung und Redttspredtung a l s unmittelbar geltendes Rech t“. Das müßte der Kompaß sein, in eine Atmosphäre der Geschichte gestellt, die ihn nicht immer zum Zittern brachte. Ich entsinne mich eines langen ernsten Gesprächs mit einem verehrten und gelehrten damaligen Kollegen im Parlamentarischen Rat, der „das Naturrecht" als Basis unseres Auftrages und unseres Wollens ausdrücklich genannt wissen wollte. Ich wehrte mich dagegen. Ich bin gerne bereit, dem Amtsrichter in X-heim, dem Land-richter in X-hausen, dem Landesgerichtsrat in Z-stadt allen ihnen zukommenden Respekt zu widmen — meine Erfahrungen veranlassen mich, keine Städte zu nennen, sonst kriege ich entrüstete Briefe. Aber es kann ihrem Rechtsdenken nicht freigestellt bleiben, ob sie das Naturrecht der Stoa, das der Scholastik, das der sogenannten Aufklärung als Basis einer konkreten Rechtsfindung zu verwenden glauben. Das bleibt und wird bleiben die Spannung zwischen den „ewigen Gesetzen“, in denen wir die „unantastbare Würde des Menschen“ ansprechen, Zeitgenossen und Mitleidende ihrer viel millionenfachen Schändung, und den immer, immer gegenwärtigen Notwendigkeiten, denMenschen vor dem Staat, den Staatvor dem Menschen, den Menschen vor dem Menschen zu schützen. Es ist die Sinngebung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, das Ewige und das Gegenwärtige, auf den Einzelmenschen wie auf die Gemeinschaft abgestellt, außerhalb aktuell gesehener Interessenlagen, in sich zu binden.

Der Weg zur Deklaration der Menschenrechte durch die UNO ging über Gutachten und Kommissionen mannigfacher Art, wobei auch die Vertreter von Stalin ruhig mitdiskutiert haben. Bei der Schlußabstimmung haben sie sich, neben ein paar anderen Staaten, der Stimme enthalten. Die Sache war ihnen wohl, um ihre neuere Sprache zu gebrauchen, nicht „fortschrittlich“ genug; sie legten in der Begründung jedoch einen Hauptakzent darauf, daß das staatliche Souveränitätsrecht über den Boden, über die Menschen, die auf ihm wohnen, keinerlei spezifizierende Kränkung erfahren dürfe. War es Takt, war es Taktik? Takt? Nicht gerade sehr wahrscheinlich. Etwa Taktik? „Wir haben uns rechts-programmatisch so wenig wie moralisch gebunden?“ Dies ist, denke ich, nicht die Stunde, die Antithesen, etwa im Hinweis auf die Zwangs-Arbeitslager, auf die Technik der Verhaftungsjustiz, auf die Manipulation des Eigentumsbegriffes usf., polemisch zu verbreitern. Doch schien mir der Hinweis erlaubt, weil . er die tragischen Antithesen dieser Gegenwart vom Wesen des Menschen, seinem Recht zu sich selber und seiner natürlichen und unverkrampften Gebundenheit in einer Gemeinschaft offenbart.

Jean Jacques Rousseau, den ich nach seinen „Bekenntnissen“ im Verdacht habe, als Person ziemlich ungut gewesen zu sein, hat uns die suggestiv-optimistische Fanfare geschenkt: „Der Mensch ist gut“. Seine unmittelbaren Geistesschüler haben nicht verfehlt, bald durch den Mas-senbetrieb der „Guillotine" die These ihres Meisters zu desavouieren. Und was war und was blieb unser Schicksal: das Wüten des Schlechten, später mit der literarischen Atrappe des „Dämonischen" verziert, zu erleben und zu erleiden. Was hat es nach solchen Erfahrungen viel Sinn, papieren gedruckte Menschenrechte zu feiern? Ich glaube, es hat einen Sinn, wenn man dafür sorgt, daß dies Papier Dokument des Lebens wird. Die Greuel, die sich plakatieren, haben häufig oft genug unsere Augen blind gemacht für die vielmillionenfache Güte, die, wohl in allen \ ölkern, ohne Getose und ohne Getue ihren Dienst tut, den Worten der Bergpredigt folgt, die Gerechtigkeit im Recht wahrt, sucht, die Ehrfurcht vor dem Leben, um ein Wort meines Freundes Albert Schweizers zu gebrauchen, als Richtschnur kennt. Was hat denn dies alles an Bezüglichkeit mit dem UNO-Akt vor 10 Jahren zu tun? Das sind doch Dinge, sind Werte, die mit diesem Vorgang in sich nicht unmittelbar Zusammenhängen. Ich weiß dies und weiß auch, falls mich jemand für sentimental halten sollte, daß Macht, Recht, Freiheit die Kräfte einer staatlich und sozial fruchtbar geordneten Gemeinschaft nicht in einer unverbindlichen Gefühligkeit gegründet sind. Aber ich glaube, ebenso gut zu wissen, daß die vor Jahren „aktuelle" politische „Freund-Feind“ -These dem Einzel-, dem Gruppen-, dem Staatenleben zugewandt, zwar kokett, aber sachlich wie seelisch höchst dürftig und bescheiden ist. Ich will den Sinn der Deklaration der Menschenrechte durch die UNO nach ihrem geistigen Hintergrund zu deuten versuchen — man mag das für trivial halten — bei dem Menschen, dem Bürger, seinem Vertreter und seiner Regierung, die Chance zum Guten zu zeigen und ihr Wahrnehmen zu ermuntern.

Ein Wegweiser — zunächst nichts mehr. Aber ein Wegweiser ist in Zeiten voll Nebel und plötzlich verdunkelnden Regenschauern eine höchst wohltätige Vorrichtung.

Fussnoten

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