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Die asiatische Revolution | APuZ 51-52/1958 | bpb.de

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APuZ 51-52/1958 Zum 10. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte Die asiatische Revolution

Die asiatische Revolution

W. D. CLARK

Rede im Chatham House am 4. Februar 1958. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages der Juli-Nummer von „International Affairs" entnommen.

Ich möchte in erster Linie über Indien sprechen, doch was ich sagen werde, bezieht sich vor allem auf Indiens unmittelbare Nachbarn — deshalb der Titel: „Die asiatische Revolution" — und nimmt ferner auf viele Länder außerhalb Asiens Bezug, wie z. B.den Mittleren Osten (den die Inder mit einigem Recht Westasien nennen) und auf Afrika, das ich zu Beginn des vergangenen Jahres für zweiundeinhalb Monate bereist habe.

Die künftigen Historiker, so glaube ich, werden dieses Jahrhundert nicht in erster Linie als das Jahrhundert der Weltraumfahrt betrachten, sondern es zuallererst als das Zeitalter der asiatischen Revolution bewerten. Das ist ein viel wichtigerer Faktor, als Militärkonstruktionen in die Luft zu jagen. Es ist ein Faktor, von dem in der Tat sehr viel mehr Menschen betroffen werden, als jemals in irgendeiner Form vom Sputnik oder Explorer betroffen werden könnten.

Die Bedeutung des Begriffes „asiatische Revolution“ erklärt sich daraus, daß überall in Asien der Versuch gemacht wird, den Vorsprung des Westens durch eine industrielle Revolution im 20. Jahrhundert aufzuholen. Auf diesem Wege hoffen die unterentwickelten Länder in aller Welt ihren Lebensstandard zu heben, sich von der ausschließlichen Abhängigkeit von der Landwirtschaft, den Rohprodukten und Rohstoffen (primary products) zu lösen und industrialisierte Länder mit eigenen Stahlwerken zu werden, die sie in die Lage versetzen, die Verbrauchsgüter für ihr Volk selbst zu produzieren. Ich nenne diesen Prozeß die asiatische Revolution, weil er die beiden bevölkerungsreichsten Länder in der Welt — Indien und China — mit rund 1000 Millionen Menschen einbezieht. Was in diesen Ländern geschieht, ist der Kern dessen, was in der Welt von heute geschieht; denn diese Länder sind nicht nur in der gleichen Revolution begriffen, sondern sie sind auch in einen gegenseitigen Wettstreit über die hierbei anzuwendenden Methoden eingetreten. In diesem Wettbewerb besonderer Art ist Indien unser Fahnenträger, der Fahnenträger der freien Welt, wie China der Fahnenträger der kommunistischen Welt ist.

Indien vertritt die freie Welt

Man kann h sagen, daß Indien nicht unbedingt der beste Fahnenträger der freien Welt ist. Fest steht jedenfalls, daß Indien die freie Welt vertritt und diese Tatsache wird auch von vielen Völkern weit außerhalb Asiens anerkannt. Mir sind viele Menschen begegnet, die bezweifelten, daß Indien tatsächlich ein Teil der freien Welt sei. Diese Menschen wiesen dabei besonders auf die indische Haltung in Kaschmir hin, sie sprachen von der Abstimmung über Ungarn, der indischen Opposition gegenüber der anglo-amerikanischen Politik, der Art und Weise, wie Indien sich zur Zeit der Suezkrise benahm, usw. — Beispiele, die nach ihrer Ansicht für die Treulosigkeit Indiens gegenüber dem Westen sprachen. Dies ist die Schlüssel-frage: Wie beurteilt man, ob ein Land ein Teil des freien Westens ist oder nicht? Teilweise natürlich aufgrund seiner Außenpolitik — aber auch nur teilweise. Über Indiens Außenpolitik wird viel zu viel diskutiert. Während es nämlich auf der einen Seite äußerst schwierig ist, über die inneren Angelegenheiten Indiens zu schreiben, ist es auf der anderen Seite äußerst leicht, über seine Außenpolitik zu schreiben. Im großen und ganzen gesehen, ist jedoch Indiens Außenpolitik von nicht allzu großer Bedeutung. Indien schaltet sich zwar durch eine tatkräftige außenpolitische Kommentierung aktiv in die Außenpolitik ein, verfügt aber in Wirklichkeit nicht selbst über eine aktive Außenpolitik. Die Schwierigkeit ist, daß an der Spitze des Ministeriums für indische Angelegenheiten zwei Männer stehen — Pandit Nehru und Krishna Mennon — die eine bemerkenswerte Fähigkeit besitzen, ihre Ansichten über die Außenpolitik darzulegen. (Und das sind oft gute Ansichten). Doch ist es ein Fehler, zu glauben, daß Indiens Haltung auf eine wirksame Politik hinausläuft. Wenn wir uns mehr auf die Probleme konzentrierten, die von der indischen Regierung durch Exekutivbeschluß behandelt werden und weniger auf die Aspekte, zu denen die indische Regierung Vorzüge oder Ansichten äußert, würden wir über die Stellung Indiens in der Welt ein klareres Bild erhalten.

Der kalte Krieg, den wir alle kennengelernt haben, wird in Asien anders als bei uns beurteilt. Die Auffassung zum Beispiel, daß Rußland möglicherweise der zukünftige Angreifer ist — eine Ansicht, die uns während der Berliner Blockade und der darauffolgenden Spannungen eingedrillt wurde — wird von den meisten Asiaten nicht befürchtet. Sie sind nicht der Meinung, daß Rußland oder China einen Angriff über das Himalaya-Gebirge führen könnte. Diese Tatsache ist für den großen Unterschied in der Auffassung maßgebend. Noch wichtiger aber ist, daß die indischen Führer in ihrer Politik nicht so sehr darauf abzielen, im positiven Sinne neutralistisch zu erscheinen (obwohl ich weiß, daß diese Phrase in Verbindung mit der indischen Politik oft gebraucht wird) als vielmehr einen Kordon zu bilden, in dem sie wirklich wichtige Angelegenheiten — wie die Transformation ihres Staates — ausführen können. Sie folgen damit einer Politik, die von den Vereinigten Staaten im 18. Jahrhundert adoptiert wurde. Es ist die Politik des Isolationismus, ein Wort, das jetzt ebenso wie der Begriff des Neutralismus einen schlechten Klang hat. Es ist die Politik der Monroe-Doktrin; es ist die Politik, die der Welt verkündet: „Hände weg von meiner Tür!“ Und es ist nach meiner Ansicht eine sehr sensible Politik, die im nationalen Interesse Indiens liegt. Ob sie immer richtig ausgeführt wird, ob sie manchmal in dieser oder jener Form zu weit geht, ist eine andere Sache. Ich war jedoch ziemlich verblüfft über die große Ähnlichkeit zwischen der Persönlichkeit George Washingtons und Jawaharlal Nehrus sowie über die außergewöhnlichen Ähnlichkeiten in der Politik Jeffersons oder Monroes und der Politik Krishna Mennons. Es ist fraglich, ob diese Männer mit ihrer Politik fortführen, wenn sie in Walhalla miteinander bekannt gemacht würden, doch denke ich, daß sie die Auffassungen des anderen verstehen werden.

Doch wenn wir uns fragen, ob Indien ein Teil der freien Welt ist oder nicht, sollten wir etwas tiefer unter die Haut gehen. Die Frage lautet: Wie beurteilen wir die Mitgliedschaft, das Bündnis oder die Partnerschaft mit der freien Welt? Geht es uns in erster Linie dabei um die Außenpolitik oder vielmehr darum, daß wir an die Bedeutung der menschlichen Würde glauben und ein politisches System schaffen, das der Persönlichkeit Achtung zollt? Dies sollte der Maßstab sein, nachdem wir beurteilen, ob Völker unsere Partner in Freiheit sind oder nicht. Es besteht in der Tat in unserem Denken über die freie Welt die große Gefahr, sie einzuengen, bis sie nur noch die Atlantische Gemeinschaft und einige Teile des Britischen Commonwealth einbezieht. Wenn dieser Weg beschritten wird und uns dieses Denken beherrscht, dann besteht die freie Welt beinahe nur noch aus einer Verbindung der reichsten Länder, die ihre industrielle Revolution vor Beginn dieses Jahrhunderts (oder ganz zu Anfang dieses Jahrhunderts wie im Falle Australien, Neuseeland, Kanada) vollzogen hat. Wenn die freie Welt eine Verbindung der reichen Länder sein soll, werden nicht viele Mitglieder in ihr vertreten sein und sie ähnelt dann einem Club, dessen Fenster ich nicht versichern möchte.

Es ist wichtig, zu wissen, daß Indien versucht, seine Revolution mit Zustimmung der Bevölkerung durchzuführen. Es ist absolut möglich, hierüber in allen Einzelheiten Kritik zu üben. In ihrer strategischen Zielsetzung sind Indien, Pakistan, Ceylon und Burma darum bemüht, ihr revolutionäres Programm mit der notwendigen Achtung vor dem einfachen Mann, seiner Meinung und seiner Wählerstimme durchzuführen. Die Tatsache, daß Indien seit 19 50 zwei freie und allgemeine Wahlen durchgeführt hat, ist nach meiner Ansicht ein bemerkenswer": r Beweis dafür, daß Indien ein Mitglied der freien Welt ist. Die Tatsache, daß 200 Millionen Menschen bei mörderischer Hitze zu den Wahlurnen schreiten, deutet in Wirklichkeit mehr auf ein freies Land hin, als eine manchmal unkluge außenpolitische Kommentierung, die sich als Politik tarnt. In der Theorie ist Indien ein demokratischer Staat, der sich an dem Westminster-Modell orientiert hat (dies wiederum bezieht sich auch auf Pakistan und Ceylon). Ist Indien nun eine Demokratie der Praxis oder ist es ein Einparteienstaat? Der Kongreß erfreut sich im Parlament einer enormen Mehrheit. In der Tat aber wird Indien von der Kongreßpartei regiert. Das Land selbst befindet sich in Augen-

blick in einem Umwandlungsprozeß Vor 15 Jahren war der Kongreß keine politische Partei, sondern die Seele einer Nation, die nach Frei-heit und LInabhängigkeit strebte. Inzwischen ist er jedoch nicht mehr die Seele der Nation, sondern wurde zu einer politischen Partei. Doch viele Menschen haben diese Veränderungen noch nicht begriffen. Zum anderen leidet der Kongreß, wie dies oft bei Parteien geschieht, unter einer zu langen Regierungszeit. Er hat mit seinem politischen Programm einen Höhepunkt überschritten und die meisten Vorhaben verwirklicht. (Sein Ziel war in erster Linie die politische LInabhängigkeit zu erreichen). Was die Kongreßpartei jetzt braucht, ist eine Zeit der Sammlung neuer Kräfte in der Opposition. Das Problem ist allerdings, daß es für den Kongreß im Moment keine demokratische Alternative gibt.

Das indische Volk zu Taten aufrütteln

Es ist weiterhin eine Frage, ob Indien tatsächlich eine Demokratie oder aber eine gut geführte Autokratie unter Nehru ist. In dieser Stichelei liegt viel Wahrheit. Indien wird von einem Mann regiert: Pandit Nehru. Er ist einer der großen Männer unserer Zeit, eine überragende Persönlichkeit. Sobald er Indien verläßt, wird das Land von Tatenlosigkeit regiert, kehrt er zurück, erwacht es aus seinem Dornröschen-schlaf. Aber ganz gleich, ob Nehru sich zum Diktator oder zum ständigen Präsidenten eignet, er hat keine der beiden Möglichkeiten bisher tatsächlich ausgenutzt. Nehru befindet sich in der gleichen Position wie Präsident Roosevelt 1933 und Churchill 1940/41. Er ist ein Mann, der Diktator sein könnte, wenn er wollte. Nichts liegt jedoch der persönlichen Lebensauffassung Pandit Nehrus ferner, als ein Diktator zu sein. Was heute geschieht — und dies ist der Kem der asiatischen Revolution — ist, daß Nehru die Vision von der Transformation der indischen Gesellschaft in eine demokratische Gesellschaftsordnung verwirklichen möchte, um aus Indien eine Demokratie zu machen. Dazu muß er einen Säkularstaat schaffen, d. h. also einen Staat, der nicht auf religiöser Grundlage beruht, einen sozialistischen Staat, den er so verstanden haben will, daß in ihm das Gleichheitsprinzip angewandt wird, und schließlich einen wissenschaftlichen Staat, in dem seiner Ansicht nach die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung anerkannt werden muß. Diese drei Konzeptionen stehen im Gegensatz zu der langen Tradition der Inder und der Hindu-

Philosophie.

Was wir in Asien beobachten können, ist nicht der Kampf um den Fortbestand der Demokratie, sondern es ist der Kampf um die Geburt dieser Staatsform. Welcher Art aber sind nun die Probleme und Schwierigkeiten, denen sich Indien selbst unter Berücksichtigung dieser Fakten gegenübergestellt sieht? Im Widerspruch zur demokratischen Revolution steht in erster Linie als bedeutsamer Faktor die Tatenlosigkeit.

Alles in Indien wird von ihr beherrscht. Die größte Schwierigkeit, irgendwelche Änderungen in Indien durchzuführen, besteht darin, daß indische Volk zum Handeln aufzurütteln. Das ist es, weshalb das Land so notwendig und dringend einen großen Führer wie Pandit Nehru braucht und weshalb Indiens unmittelbare Nachbarn Ceylon und Pakistan unglücklicherweise ihre großen Führerpersönlichkeiten schon zu Beginn ihrer Transformation verloren.

Die Tatenlosigkeit ist ein Problem. Ein anderes ist die Opposition einer Gruppe, die sich gern als Ghandisten bezeichnet und sich gegen Nehrus Vision eines modernen, nach westlichem Vorbild aufgebauten, industrialisierten Staates wendet. Es läßt sich nicht mehr ermitteln, ob Mahatma Ghandi diesen Kurs gutgeheißen hätte. Tatsache ist, daß sich hinter diesem Schatten heute viele Millionen Menschen versammeln, die der Idee der Verwestlichung entgegentreten, die eine wettbewerbsfähige Industrialisierung ablehnen und stattdessen einen Kurs anstreben, der auf die „gram raj“ die Selbstverwaltung eines Dorfes hinzielt, eines unabhängigen, autarken Dorfes, das seine eigenen Ackerbaugeräte herstellt, eigene Früchte anbaut, eigene Häuser erstellt und für immer in würdevoller Armut lebt. Zu dieser Einstellung könnte noch eine Menge gesagt werden, doch glaube ich nicht, daß dieser Kurs durchführbar ist. Nach meiner Ansicht wird die indische Landbevölkerung nicht bereit sein, ihren Lebensabend in würdevoller Armut zu verbringen, wenn sie sieht, wie andere Länder um Indien herum — vielleicht China oder Ceylon — ihre Modernisierungsbestrebungen verwirklichen und sich ihr Lebensstandard erhöht. Ein anderes Hindernis auf dem Wege zur Reform ist jedoch die Tatsache, daß die Kongreßpartei etliches von ihren Vorstellungen und ihrem Elan zur Durchführung der indischen Revolution, die sie noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hatte, inzwischen verlor. Sie hat beträchtlich an Sen-dungsbewußtsein eingebüßt und da sie die Partei ist, mit deren Hilfe die indische Regierung für einen so langen Zeitraum die Masse des Volkes aufwärts führt, besteht die Gefahr, daß sie die gesamte revolutionäre Bewegung verlangsamt. Das zeigt sich auf vielen Gebieten, wie z. B. im Versagen der Landreform oder in den wachsenden provinziellen Eifersüchteleien, die auf die regionalen Sprachen zurückzuführen sind. Schließlich opponiert der Kommunismus gegen Nehrus Revolution, die mit Einwilligung des Volkes durchgeführt werden soll. Die Kommunisten behaupten, es sei unmöglich, eine Landbevölkerung von 400 Millionen auf diesem Wege zu ändern. Ihre Formel lautet-„Wendet Gewalt an! Nietnand kann den Fortschritt erringen, wenn er sicht im Tempo des langsamsten Ochsenkarrens vollzieht.“ Die Kommunisten haben sich zur zweitgrößten Partei in Indien heraufgearbeitet und benutzen das Parlament dazu, ihre Ansichten wirksam zu verbreiten. Sie haben es ebenfalls verstanden, die Kontrolle über den Unionstaat Kerala im Süden des Landes zu erlangen. Der Staat hat eine große Bevölkerung, wenig Bodenschätze, viel zu viel Ausbildungsmöglichkeiten in dem Sinne, daß es dort zu viel Menschen gibt, die Lesen und schreiben können und dennoch keine Möglichkeit haben, ihre Kenntnisse zu verwerten. Das Kerala-Problem ist in sich selbst nicht zu lösen. Darum scheiterte dort eine Verwaltung nach der anderen. Jetzt sitzen die Kommunisten dort und erkennen, daß auch sie nicht in der Lage sind, das Problem zu lösen. Sie haben sich daher zu einem simplen Rezept entschlossen: Innerhalb des Staates tun sie alles, was sie können, sobald es aber zu größeren Problemen kommt, sagen sie: „Das ist etwas fnr die Zentralregierung und so lange wir keine kommunistische Zentralregierung haben, können Sie auch nicht die Lösung der Probleme erwarten.“ Das ist eine wirksame Propaganda.

Nur zwei Entwicklungsmöglichkeiten?

Die Kommunisten befinden sich augenblick-lieh in Indien in einer ständigen Aufwärtsentwicklung. Man ist daher geneigt anzunehmen, daß es für die Zukunft Indiens nur zwei Entwicklungsmöglichkeiten gibt: Entweder wird das Volk kommunistisch oder es wird ghandistisch, entweder fällt es ins 13. Jahrhundert zurück oder es macht den Sprung ins Jahr 1984. Dies ist eine bittere Erkenntnis, doch glaube ich nicht, daß dies der einzige /usweg ist. Und zwar deshalb nicht, weil es immer noch eine Dynamik im Zentrum gibt, die sich im Fünfjahresplan manifestiert. Kurz gesagt, bezieht sich dieser Plan auf die Industrialisierung Indiens durch den Bau von drei großen Stahlwerken, der notwendigen Eisenbahnverbindungen und einem Netz hydro-elektrischer Kraftwerke. Es gibt Tausende anderer Projekte, wie die Irrigation, verbesserte Methoden in der Landwirtschaft, Geburtenkontrolle usw., doch das Wesentlichste ist die Industrialisierung durch Stahlwerke, Eisenbahnen und hydro-elektrische Kraftwerke. Für die meisten Inder ist dies der Mittelpunkt ihres politischen Lebens, um den sich alles dreht. Er interessiert sie weit mehr als die Demokratie, weil sie daran glauben, daß diese Entwicklung ihnen eines Tages einen etwas besseren Lebensstandard bringen wird.

Heute bträgt das Durchschnittsjahreseinkommen in Indien 22 £pro Person. Bei Auslauf des Fünfjahresplanes hofft man, dieses Einkommen auf 26 £, also 4 £zusätzlich pro Kopf der Bevölkerung, erhöhen zu können. Doch diese bescheidene Verbesserung wird nicht erreicht. Warum nicht? Was ist schief gegangen? Der erste Grund ist die „Bevölkerungsexplosion“. Ich habe oft den Eindruck, daß Indien und China nicht eher eine echte Chance haben, ihren Lebensstandard bedeutend zu erhöhen, bis sie gelernt haben, dem enormen Wachstum ihrer Bevölkerung entgegenzuwirken. In zehn kurzen Jahren, seit Indien unabhängig ist, hat sich seine Gesamtbevölkerung um mehr als die Bevölkerung des gesamten Vereinigten Königreichs vermehrt. Zweitens haben die hohen Verteidigungsausgaben Indiens Wirtschaft aus dem Gleichgewicht gebracht und den wirtschaftlichen Fortschritt gebremst. (Dies ist in erster Linie auf die Streitigkeiten mit Pakistan über Kaschmir zurückzuführen. Ein Problem, das ich hier nicht behandeln kann). Der dritte und fundamentalste Fehler am Fünfjahresplan war, daß er Indiens Vorrat an Devisien übertraf.

Eine industrielle Revolution fordert unvermeidlich eine sehr große Kapitalspritze. Dieses Kapital muß aus irgendwelchen Spareinlagen kommen. Im 19. Jahrhundert kam es in Britannien von den erzwungenen Spargeldern der unfreien Massen, denen niedrige Löhne gezahlt wurden und die bei weitem mehr produzierten als man ihnen zahlte. Im 20. Jahrhundert belegten die Russen die Massen mit einer ganzen Reihe von Zwangssparmaßnahmen. Ich wiederhole, das waren Zwangssparmaßnahmen. Wesentliche Voraussetzung für die Durchführung einer industriellen Revolution im heutigen Indien ist die Schaffung von Spareinlagen, d. h. von Kapital. Es wäre höchst undemokratisch und auch unmenschlich, wenn man der von Armut betroffenen Landbevölkerung Zwangssparmaßnahmen auferlegen würde. Wenn Indien weiterhin demokratisch und ein industriell fortschrittlicher Staat bleiben soll, ist es wesentlich, daß das Geld von außen ins Land fließt, also aus den Spareinlagen anderer Völker. Dabei erhebt sich die Frage, wie Indien und seine Nachbarn an dieses Kapital aus dem Ausland kommen kann. Die Art und Weise, wie Indien versucht hat, Anleihen im Ausland aufzunehmen, ist oft zu Recht kritisiert worden. Es hat nicht, wie wir es in den schweren Jahren zwischen 1945 und 1948, gelernt, daß man niemals in die Hand desjenigen beißt, von der man gefüttert wird — zumindest nicht bis man satt ist.

Ich möchte hier jedoch nicht die Fehler näher untersuchen, die Indien, Pakistan und Ceylon gemacht haben, um die Kapitalgeber zu entmutigen. Ich ziehe es stattdessen vor, meine Ausführungen damit zu beenden, daß ich einige Fragen hinsichtlich unserer persönlichen Einstellung gegenüber der asiatischen Revolution stelle. Können wir es uns wirklich leisten, diese Entwicklung zu ignorieren? Können wir uns wirklich leisten, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß der Schatzkanzler, wenn er von Hilfsaktionen spricht, dies als höchster Beamter des Sterling-Gebietes tut, und die wahrhaft Bedürftigen des Sterling-Gebiets nicht im Vereinigten Königreich zu finden sind? Wir haben die große Verpflichtung, uns darüber klarzuwerden, daß die Armen unter uns noch verschwenderisch versorgt werden im Vergleich zu den Armen Asiens. Wir sollten damit beginnen, unsere Beziehungen zu Asien und Afrika, den hilfsbedürftigen Ländern, neu zu durchdenken. Hierin muß ich mich vom Mr Kennan’s These distanzieren, die er in seinen Reith-Vorträgen aufgestellt hat: daß wir, wenn Länder uns damit bedrohen, ins Lager der Kommunisten überzuschwenken, sofern wir ihnen keine Hilfe gewähren, wirklich sagen sollten: „In Ordnung, werdet Kommunisten, das wird Euch mehr schaden als uns.“

Das ist ungefähr so, als wenn Sie jemanden, der wegen einer Blutvergiftung um Penicillin bittet, sagten: „Ich gebe Ihnen nidtt mein Penicillin. Wenn Sie eine Blutvergiftung haben, so werden Sie daran . sterben, doch das wird Ihnen mehr schaden als mir.“

Zeitalter gegenseitiger Abhängigkeit

Ich möchte Ihnen diese These anbieten: Das Zeitalter der gegenseitigen Abhängigkeit hat ohne Zweifel in bezug auf Asien ebenso begonnen, wie in Bezug auf die Atlantische Gemeinschaft. Wir müssen anerkennen daß die Inder ein Teil unserer Welt sind. Lind wenn wir wollen, daß sie auch weiterhin ein Teil unserer Welt bleiben, dann fordert das Opfer von uns. Wenn wir echte Partner an der asiatischen Revolution sein wollen, müssen wir auch bereit sein, in irgendeiner Form persönliche Opfer zu bringen, um die Revolution mit Zustimmung des Volkes zum Erfolg zu führen. Es liegt in unserem Interesse, daß diese Revolution durchgeführt wird, daß sich in diesen Ländern eine Umwandlung vollzieht und sie gleichzeitig frei bleiben. Wir in der Atlantischen Gemeinschaft — die reichen Länder — sind in der gleichen Lage, in der . ich die Aristokratie gegen Ende des 18. Jahrhunderts befand. Zu dieser Zeit besaß die Aristokratie alles, was sie sich wünschte. (Obwohl sie zweifellos über die Steuern und die hohen Lebenshaltungskosten murrte). Die Aristokratie erkannte jedoch, daß andere Klassen auftauchten, die Forderungen an sie stellte. In einigen Ländern stemmte sie sich gegen diese Forderungen mit dem Resultat, daß sie ausstarb, in anderen Ländern ging die Aristokratie die Partnerschaft mit neuen Klassen ein und konnte so ein neues, solides, kühnes und vorwärtsstrebendes Regime gründen. Das war das Geheimnis des britischen Erfolges zwischen der Elisabethanischen und Viktorianischen Zeit. Wir sind heute in unseren Beziehungen zwischen der Atlantischen Gemeinschaft und Asien vor die gleiche Wahl gestellt. Wenn wir die asiatischen Länder in unsere Partnerschaft einbeziehen — und das ist ein bedeutungsvoller Satz, der uns weh tut, der uns einige Privilegien kostet — dann glaube ich, daß wir in der Lage sein werden, eine neue und freie Welt zu bauen, in der es wert ist, zu leben. Versagen wir hier, dann wird es uns wie den ältesten Aristokraten ergehen — dann werden auch wir untergehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Text der aufsehenerregenden Reith-Lectures von George F. Kennan liegt sowohl englisch wie deutsch gedruckt vor. („Russia, the Atom and the West", Oxford University Press, und „Rußland, der Westen und die Atomwaffe", Ullstein, Berlin.)

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