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Linksradikale Demokratiekritik und politische Bildung | APuZ 22/1970 | bpb.de

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APuZ 22/1970 Linksradikale Demokratiekritik und politische Bildung über das Glück als politische Kategorie

Linksradikale Demokratiekritik und politische Bildung

Dieter Grosser

/ 40 Minuten zu lesen

1. Die Ziele der politischen Bildung

Hartmut Jäckel: über das Glück als politische Kategorie

In einer freiheitlichen Demokratie hat politische Bildung drei Hauptziele: — Sie muß zeigen, welche politischen Aufgaben zu lösen sind, um Frieden und Freiheit zu erhalten und die Chancen eines menschenwürdigen Daseins zu steigern;

— sie muß politische Ordnungen darauf prüfen, ob sie geeignet sind, diese Aufgaben zu erfüllen;

— sie muß zu politischem Verhalten erziehen, das eine friedliche und der Würde des einzelnen Menschen angemessene Regelung von Konflikten erleichtert.

Demokratische politische Bildung darf sich nicht auf einen angeblich wertneutralen Standpunkt stellen und die politischen Torheiten der anderen mit gemäßigtem Zynismus kommentieren, sondern sie muß von einem wertgebundenen Maßstab ausgehen. Dieser Maßstab muß einerseits historisch-elastisch interpretiert und angewendet werden können, so daß er dem Wandel der technischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht entgegensteht. Er muß andererseits fest und verbindlich genug sein, um eine Schranke gegen die Zerstörung notwendiger Regeln freiheitlichen und friedlichen Zusammenlebens zu bilden. In Gesellschaften mit der christlich-humanistischen Tradition der „westlichen" Demokratien ergibt sich dieser Maßstab aus dem Gedanken der Personalität des einzelnen Menschen. Wenn der einzelne Mensch als Selbstzweck gesehen wird, dem alle politische Ordnung zu dienen hat, dann muß immer wieder von neuem die Frage gestellt werden, wie die Gesellschaft zu gestalten sei, um jedem einzelnen optimale Chancen der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung zu gewähren. Mit Hilfe dieses Maßstabes und dieser Fragestellung muß politische Bildung Problembewußtsein wecken: Sie muß fragen lehren, welche jetzt realisierbaren Möglichkeiten des Fortschreitens in Freiheit die wirtschaftliche und politische Entwicklung gewährt. Sie darf dabei aber nicht in einen naiven Optimismus verfallen, der bei idealistischen Pädagogen nicht gerade selten ist, und von Menschen, die sich aus politischen Repressionen befreit haben, Wunder an Verantwortungsbereitschaft erwarten. Der personalistische Maßstab stammt aus einer realistischen Tradition naturrechtlicher Philosophie und christlicher Theologie. Freiheit ist notwendig, damit der Mensch sich selbst verwirklichen kann; doch Freiheit bedeutet zugleich die Möglichkeit, das Falsche zu tun und das Ziel zu verfehlen. Es mag sein, daß die bisherige politische Bildung etwas kurzsichtig und ein-seitig die Fähigkeit des Menschen zum Bösen lediglich in der Periode des Nationalsozialismus und im Herrschaftsbereich des totalitären Kommunismus zu erkennen vermochte und die historische Erfahrung vernachlässigte, daß jede Gesellschaft Sicherungen gegen den Mißbrauch von Freiheit braucht.

Mit den hier genannten Zielen der politischen Bildung unlösbar verbunden ist die Erziehung zur Kritikfähigkeit. Jede demokratische Gesellschaft muß es sich gefallen lassen, daß die Aufgaben, die sie sich gestellt hat, und die Mittel, mit denen sie diese Aufgaben zu lösen sucht, einer ständigen Überprüfung durch die Bürger ausgesetzt sind. Mit steigendem Bildungsniveau der Bevölkerung und mit der Zunahme des Tempos des sozialen Wandels wird diese Überprüfung intensiver und kritischer. Der „Legitimierungsdruck", unter dem politische Institutionen und Traditionen heute stehen, ist daher nicht Symptom einer Krise der repräsentativen Demokratie, sondern Zeichen der wachsenden Mündigkeit demokratischer Bürger.

Legitim ist dabei nicht nur Kritik, die bestehende Ordnungen verbessern will, sondern auch radikale Kritik, die Bestehendes ablehnt und durch etwas anderes ersetzen möchte. Es gibt nicht die Möglichkeit, scharf zwischen „radikaler" und „gemäßigter", „systemimmanenter" und „systemtranszendierender" Kritik zu unterscheiden. Wer der neoliberalen Auffassung von Staat und Wirtschaft zuneigt, wird die Forderung nach Vergesellschaftung von wichtigen Industriezweigen als radikal ansehen; demokratische Sozialisten könnten hingegen anführen, daß diese Forderung mit dem Grundgesetz vereinbar und insofern keineswegs radikal sei. Was radikal ist, hängt mindestens zum Teil vom Standpunkt des Betrachters ab. Außerdem gibt es keinen Anlaß, bestehende Institutionen und Systeme absolut zu setzen. Politische und wirtschaftliche Institutionen sind historisch bedingt und weder unantastbar noch allgemeingültig. Jeder Versuch, die Bonner Demokratie oder die soziale Marktwirtschaft gegen eine Kritik zu sichern, die diese Systeme grundsätzlich in Frage stellt, müßte die Träger der politischen Bildungsarbeit in die Rolle von bornierten staatlichen Tugendwächtern drängen und eben die Freiheiten gefährden, die geschützt werden müssen.

Wohl aber hat die politische Bildung die Aufgabe, Ideen und Aktionen abwehren zu helfen, die unabdingbare Voraussetzungen freiheitlichen und friedlichen Zusammenlebens gefährden. Diese Aufgabe ist gegenüber der gegenwärtigen linksradikalen Kritik an der „westlichen" Demokratie besonders schwierig zu erfüllen. Denn diese Kritik steht mit ihrer emanzipatorischen Zielsetzung in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus, aus der die ideologischen Grundlagen der Demokratie stammen, und tritt im Namen der gleichen Ideale auf, die auch für die politische Bildungsarbeit gelten. Die oft zu beobachtende Hilflosigkeit von Politikern und Lehrern gegenüber der linksradikalen Kritik hat ihre Ursache nicht nur in einem aus der deutschen Vergangenheit verständlichen Schuldgefühl, die Angehörige vor allem der älteren Generation zögern läßt, „autoritär" zu reagieren, sondern folgt auch aus der Sorge, man könne mit der Ablehnung einiger Thesen der radikalen Kritik zugleich unabdingbare Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft in Frage stellen. Andererseits aber enthält die Ideologie der „Neuen Linken" Elemente, die mit ihrer eigenen emanzipatorischen Zielsetzung unvereinbar sind und, wenn sie nicht isoliert und bekämpft werden, Freiheit, Frieden und Rationalität zerstören könnten.

2. Ursachen und Zentralthesen der linksradikalen Demokratiekritik

Die schnelle Ausbreitung und starke Wirkung der linksradikalen Demokratiekritik, die seit Mitte der sechziger Jahre in allen hochindustrialisierten „westlichen" Demokratien zu beobachten ist, läßt sich heute in ihren Ursachen relativ zuverlässig erkennen. Politische Mißstände spielten die Rolle des offene Kritik und Aktion auslösenden Faktors; die Bereitschaft, zur radikalen Kritik überzugehen, muß jedoch durch Bedingungen erklärt werden, die von konkreten politischen Einzelproblemen unabhängig sind und lediglich mit sozialpsychologischen Kategorien erfaßt werden können. Allein die Gleichartigkeit der Reaktion amerikanischer, französischer und westdeutscher Jugendlicher auf sehr unterschiedliche politische Herausforderungen legt diese Hypothese nahe, überall empfinden es jugendliche Intellektuelle geradezu als Befreiung, wenn politische Konflikte ihnen die Möglichkeit bieten, aufgestautes Mißbehagen zu äußern und am konkreten Fall zu rationalisieren. Es wäre daher auch eine Illusion zu glauben, daß mit politi-sehen Reformen die Prädisposition jugendlicher Intellektueller zu radikaler Kritik und radikaler Aktion behoben werden könnte. Politische Reformen können zwar die Tendenz zur Solidarisierung mit den aktiven Rebellen einschränken, aber nicht den harten Kern der Protestbewegung ändern; denn sie ändern nur langsam und partiell die sozialen und psychologischen Bedingungen, aus denen die Neigung zum Protest erwuchs.

Für die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborene Generation ist der technische, wirtschaftliche, soziale und politische Wandel zur Selbstverständlichkeit geworden. Mit der immer schnelleren Veränderung der Umwelt-bedingungen müssen sich auch die sozialen Normen ändern. Verhaltensweisen, die einer früheren Generation unabdingbar erschienen, Kenntnisse', deren Notwendigkeit bisher nicht bestritten wurden, werden fragwürdig. Die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, bieten mit ihrer Zuspitzung der Information auf das Ungewöhnliche das Bild einer Welt, in der alles möglich und vieles erlaubt ist, und üben einen Einfluß auf die Heranwachsenden aus, mit dem weder Elternhaus noch Schule konkurrieren können. Treffend hat McLuhan in seiner berühmten Analyse des anbrechenden Zeitalters der elektronischen Information von der „Fernsehgeneration" gesprochen, deren Selbst-und Umweltbewußtsein erheblich von dem der Älteren abweiche Die Folge ist einerseits eine Steigerung der Erwartungen: Die Jugendlichen verlangen von der Gesellschaft Entfaltungschancen, von denen ihre Eltern noch nicht einmal zu träumen wagten. Andererseits aber kommt es zu einer „Verunsicherung" der Jugendlichen, der die Eltern, selber durch den raschen Wandel der Umwelt unsicher geworden, nicht entgegentreten können. Für die Eltern war das Erwerbs-und Sicherungsmotiv noch Ultima ratio in einer verwirrenden Welt. Für die Jugendlichen ist auch das fragwürdig geworden. Sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, um die Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung erreichen zu können. Sicher ist nur eins: Die alten Regeln, die alten Anforderungen gelten nicht mehr. So flüchten sie sich in einen extremen Subjektivismus: Das, was subjektiv als befriedigend empfunden wird, gilt als richtig. Subjektivismus nach dem Verlust tradierter fester Maßstäbe verstärkt aber die unkritische Abhängigkeit von Modeströmungen. Der außengeleitete Anarchist scheint das unvermeidliche Produkt des Zerfalls der liberalen bürgerlichen Gesellschaft zu sein.

Bruch der geistigen Kontinuität zwischen den Generationen und Unsicherheit der Jugend ist nun nichts Neues. Daß dieser Bruch und diese Unsicherheit heute in überraschender Schärfe auftreten, hängt mit einem ökonomischen Phänomen zusammen. Die nach 1945 Geborenen sind, soweit sie aus der Mittelschicht stammen, Wohlstand und materielle Sicherheit gewöhnt. Es fehlt ihnen das Erlebnis eigener materieller Not, das die Generation ihrer Eltern in der Weltwirtschaftskrise oder den Kriegs-und Nachkriegsjahren nur zu deutlich hatte. Das für die Älteren entscheidende Motiv der Anpassung an eine auch von ihnen als fremd und repressiv empfundene Gesellschaft, Karriere zu machen und Geld zu verdienen, ist bei der Nachkriegsgeneration in den hochindustrialisierten Ländern schwächer als bei irgendeiner Generation zuvor.

Für die Universitäten ergab sich daher ganz unerwartet das Problem, wie man mit alten Lehrplänen und traditionellen Lehrformen Studenten gewinnen sollte, für die das Erwerbs-motiv nur noch eine begrenzte Bedeutung hatte. Sie verlangten von der Universität die Chance, das tun zu können, was sie interessierte, was sie anging, und rebellierten, wenn sie in Studienordnungen , eingepaßt'werden sollten, deren Zweck sie nicht mehr einsehen konnten. Dabei hat sich vor allem in den Vereinigten Staaten gezeigt, daß schlechte Studienbedingungen, im Gegensatz zu einer in Deutschland verbreiteten Ansicht, nur eine geringe Bedeutung für die Auslösung studentischer Kritik und militanter Aktion hatten. Die Rebellion trat vor allem in den besten Universitäten auf und richtete sich gegen die frühe Spezialisierung und Professionalisierung, die einerseits zur Leistungssteigerung der Universitäten unentbehrlich ist, andererseits aber das Gefühl der Studenten verstärkt, in eine Rolle gepreßt zu werden, deren Funktion im Gesamtzusammenhang nicht mehr einsichtig ist

Die gleiche Forderung nach optimalen Chancen freier, lediglich von subjektiven Wünschen gesteuerter Selbstentfaltung („unstructured free growth" im Jargon amerikanischer Jugendlicher) wird auch in der Politik erhoben. Die technische und wirtschaftliche Entwicklung hat die Überzeugung gefördert, daß die Umwelt des Menschen „machbar" geworden sei. Ebenso wie sich technische Probleme optimal lösen lassen, scheinen politische und soziale Probleme einer wissenschaftlich-rationalen Lösung zugänglich zu sein. Die Anforderungen der gegenwärtigen Arbeitswelt in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern scheinen angesichts des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte unnötig und nur durch den repressiven Charakter einer am Erwerbsstreben orientierten Gesellschaft erklärbar zu sein. Die Kluft zwischen dem enormen technischen und dem quälend langsamen politischen und sozialen Fortschritt wird als unerträglich empfunden. Die bestehende Gesellschaftsordnung wird dafür verantwortlich gemacht, daß Möglichkeiten, die Freiheitschancen zu erhöhen, nicht genutzt werden. Die Folge ist eine Wendung gegen die vorhandene politische und soziale Ordnung, die in den USA mehr mit anarcho-syndikalistischen, in Frankreich und der Bundesrepublik mehr mit marxistischen Ideen gerechtfertigt wird, ohne daß es möglich wäre, den schillernden und sich dauernd verändernden ideologischen Inhalt der Revolte auf einfache Formeln zu bringen.

Allen rebellierenden Gruppen gemeinsam ist die Neigung zur Aktion um der Aktion willen und die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, wenn es taktisch notwendig erscheint. Von den sozialpsychologischen Ursachen der Rebellion her sind beide Tendenzen, die zum Aktionismus ebenso wie die zur Gewaltsamkeit, verständlich. Die Weigerung, sich der bestehenden Gesellschaft anzupassen, läßt Energien unbeschäftigt und aggressive Impulse unbefriedigt, die bisher für die Berufsvorbereitung und den Konkurrenzkampf in Schule und Universität gebraucht wurden. Möglichkeiten, die frühere Generationen zum Abreagieren der Aggressivität hatten, sind heute eingeschränkt. Der Kriegsdienst, der Teile der Jugend noch vor einer Generation anzog, weil er Chancen zur Befriedigung der Aggressivität bot, hat seine Attraktivität verloren. Krieg als Mittel der Internationalen Politik wird abgelehnt, zum Teil aus Einsicht in die Sinnlosigkeit des Krieges unter modernen Bedingungen, zum Teil aber auch, weil ein Krieg nur als imperialistischer Akt der verhaßten kapitalistischen Gesellschaft denkbar erscheint. Abenteuer in den Kolonien, die einst die Energien vieler englischer, französischer und auch deutscher Jugendlicher banden, sind kaum noch möglich, Peace-Corps und Entwicklungsdienst bieten nur unzureichenden Ersatz. So zeichnet sich ein Problem ab, das gerade den hochindustrialisierten Überflußgesellschaften in Zukunft immer größere Schwierigkeiten bereiten dürfte: Der äußere Frieden ist für die europäischen Staaten zur Zeit vielleicht besser gesichert als jemals seit Beginn dieses Jahrhunderts; die Anforderungen, die der Kampf um erträgliche Lebensverhältnisse an den einzelnen stellt, sind leichter, als sie es für irgendeine Generation zuvor waren. Die Erhaltung des inneren Friedens wird aber zugleich immer schwieriger, weil die Möglichkeiten fehlen, die frei gewordenen Energien in gesellschaftlich fruchtbare Bahnen zu lenken. Die „Friedensforschung", die zur Zeit Mode wird, müßte den Voraussetzungen zur Wahrung des inneren Friedens einer Gesellschaft ebensoviel Aufmerksamkeit widmen wie den Fragen des internationalen Konfliktes.

Der Aktionismus ist aber nicht nur ein Mittel zur Befriedigung aggressiver Impulse. Er dient auch dazu, dem einzelnen das Gefühl zu geben, ein Stück seiner Umwelt beherrschen zu können, und er bringt die Anerkennung der eigenen Gruppe und damit Sicherheit in der Gemeinschaft Gleichgesinnter ein. Beim Demonstrieren, beim sit-in, bei der Arbeit in Basis-gruppen erfährt der einzelne das, was die Gesellschaft gerade den Jugendlichen zu lange versagt: Er glaubt, etwas bewirken, etwas schaffen zu können, was ihm sinnvoll erscheint; die Teilnahme an der Aktion erzeugt zugleich die Bestätigung der eigenen Person durch die Gruppe, nach der sich so viele Jugendliche sehnen. Gewaltanwendung steigert diese Wirkungen; denn sie isoliert die Gemeinschaft der Gleichgesinnten von der übrigen Gesellschaft am schroffsten und steigert entsprechend die internen Gruppenbindungen. Wenn sich außerdem die Möglichkeit bietet, eigene psychische Bedürfnisse durch politik-wissenschaftliche und soziologische Theorien zu rationalisieren, so durch die Lehre von der Einheit von Theorie und Praxis bei Marx oder Rosa Luxemburg oder durch Sorels „Reflektioneu über die Gewalt", so wird die Faszination von Aktionismus und Gewaltsamkeit für jugendliche Intellektuelle erklärlich.

Bei allem Bemühen um die Erklärung der gegenwärtigen Verhaltensweisen linksradikaler Jugendlicher aus psychologischer Motivation darf jedoch nicht übersehen werden, daß ein wichtiger Grund für die rasche Ausbreitung von aggressiven und gewaltsamen Techniken der politischen Aktion einfach ihr Erfolg ist. Es läßt sich nicht leugnen, daß in den USA, in Frankreich und in der Bundesrepublik Veränderungen im Bildungssystem und auch im politischen System, die nicht nur von der „Neuen Linken" gefordert wurden, erst dann erfolgten, wenn provozierende und gewaltsame Aktionen die Parlamente und Regierungen aufgeschreckt hatten. Die Folge ist, daß die Methoden der Radikalen von vielen gebilligt werden, die die psychologische Prädisposition des harten Kerns der Protestbewegung nicht teilen. Vor dem Hintergrund dieser sozialpsychologischen Phänomene muß auch die Demokratie-kritik der „Neuen Linken" gesehen werden. Sie entzündete sich zwar an konkreten Strukturproblemen der modernen Demokratie und an einzelnen politischen Fehlentscheidungen, so an der „Entideologisierung" der „Volksparteien", an der Vernachlässigung des öffentlichen Sektors bei der Verwendung des Volks-einkommens, an der oligarchischen Erstarrung von Parteiapparaten, am Vietnam-Krieg und an der Rassendiskriminierung in den USA.

Ihre Radikalität und ihr ideologischer Dogmatismus ist jedoch nur durch den Rückgriff auf die genannten sozialpsychologischen Faktoren zu erklären.

Im Mittelpunkt steht die Behauptung, daß die repräsentative Demokratie in den spätkapitalistischen Staaten bloße Formaldemokratie sei, das heißt, den Massen zwar das Wahlrecht gebe, sie durch ausgeklügelte politische Techniken jedoch von der inhaltlichen Bestimmung der Politik ausschließe. Sie wird gestützt durch vier Argumente:

— Solange erhebliche wirtschaftliche Ungleichheiten bestünden, wie sie vor allem durch Privatbesitz an Produktionsmitteln unvermeidlich seien, könne von politischer und rechtlicher Gleichheit nicht die Rede sein. Die Besitzenden hätten weitaus mehr Möglichkeiten, auf den politischen Entscheidungsprozeß Einfluß zu nehmen, als die Arbeiter. — Solange das Bildungssystem nicht demokratisiert sei — und beim Bestehen krasser ökonomischer Ungleichheiten könne es keine Gleichheit der Bildungschancen geben — komme es in den politischen und administrativen Führungsgruppen zu einer Überrepräsentation der Angehörigen der bisherigen Oberschicht. Aus diesem Grunde habe auch die Ausweitung des Wahlrechts die Herrschaft der Besitzenden bisher nicht gefährden können. — Durch Ideologien und Techniken der Repräsentation, so durch die Unabhängigkeit des Abgeordneten von Weisungen seiner Wähler, lange Wahlperioden, restriktive Techniken des Wahlverfahrens und der Kandidatenaufstellung, würden die oligarchischen Tendenzen in Parteien, Fraktionen und Verbänden verstärkt; die Führungsgruppen „verselbständigten" sich gegenüber der „Basis".

— Die Manipulation der Wählermeinung durch Massenmedien und Parteipropaganda sei heute soweit perfektioniert, daß die Wähler kaum noch eine rationale Entscheidung aufgrund ihrer wahren Interessen treffen könnten.

Die Behauptung, daß die repräsentative Demokratie bloße Form sei, bedeutet zugleich die Ablehnung der pluralistischen Demokratie-theorie, wie sie im Anschluß an angelsächsische Vorbilder auch für die Bundesrepublik formuliert worden ist und bisher das Selbstverständnis der westdeutschen Demokratie bestimmt hat. Die sogenannte pluralistische Struktur von Staat und Gesellschaft ermögliche nicht den freien Wettbewerb aller gesellschaftlicher Interessen, sondern diene lediglich dem Interessenausgleich der in das kapitalistische System integrierten Gruppen. Systemgefährdende Interessen würden hingegen ausgeschlossen. Die Möglichkeit des Parteiverbots nach Art. 21 GG sei nur ein formaler Ausdruck dieser Beschränkung. Wichtiger und wirksamer sei der manipulative Effekt des Pluralismus auf die Beherrschten. Dadurch, daß begrenzte Interessenkonflikte nicht nur zugelassen, sondern durch die Spielregeln der Formal-demokratie sogar betont würden — man denke an die Auseinandersetzung um einen Regierungswechsel oder um Tarifkonflikte —, werde der Eindruck erweckt, als würden alle Interessen berücksichtigt. Der Wille zur Veränderung werde dadurch geschwächt. In Wirklichkeit ändere sich durch die begrenzten Konflikte und den beschränkten Interessenausgleich, den das angeblich pluralistische System zulasse, die Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen nicht. So könne durch gewerkschaftliche Lohnpolitik keine Umverteilung von Einkommen und Vermögen durchgesetzt werden; denn die Unternehmer würden kostensteigernde Lohnerhöhungen über die Preise auf die Verbraucher abwälzen. Im Parteiensystem sei Fundamentalopposition, die Mißstände schonungslos aufdeckt und Bestehendes radikal verändern will, unmöglich geworden. Die Logik der Teilnahme am Parlamentarismus habe die systemgefährdende sozialistische Klassen-partei gezwungen, Wähler aus allen Schichten der Bevölkerung zu werben. Der daraus folgende Zug zur „Volkspartei" hindere die sozialdemokratischen Parteien an einer harten Vertretung der Arbeiterinteressen. Die Reste der alten Klassenstruktur, die sich auch heute noch in den „Volksparteien" finden, verstärken in dieser Sicht den integrativen Effekt des Systems. Denn bei einem Regierungswechsel CDU—SPD oder Konservative—Labour entstehe die Illusion, daß nun Arbeiterinteressen kräftig gefördert würden. Diese Illusion hemme die Entwicklung des Klassenbewußtseins. Das System beschränke auf diese Weise den Herrschaftskonflikt auf einen Führungskonflikt

Der Parlamentarismus, gleich ob in englischer, bundesdeutscher oder nordamerikanischer Form, wird in ähnlicher Weise als Instrument der Manipulation kritisiert. Ein Teil der politi-sehen und gesellschaftlichen Führungsgruppen sei, vom Volke gewählt, sichtbar im Parlament tätig und im Besitz von Macht zur Durchsetzung von Wählerwünschen. Dadurch schienen sie öffentlich kontrollierbar und demokratisch legitimiert. Das Parlament werde so zum Konstitutionalisierungsorgan, „das die . . . Entscheidungen verfassungskonform erscheinen läßt und ihnen daher ideologisch und institutionell die Weihe des demokratischen Beschlusses verleihe" In Wirklichkeit sorge aber das Repräsentationsprinzip dafür, daß Wünsche aus dem Volke, die den Herrschenden nicht genehm seien, leicht abgefangen werden könnten. Vom Bürgertum einst konzipiert, um die Entscheidungsgewalt in den eigenen Händen halten zu können, bewirke die Repräsentation heute die Stabilisierung des Kartells der Etablierten.

Die Kritik an der Repräsentation führt die radikale Linke zur Suche nach geeigneten Verfahren unmittelbarer Demokratie. Dabei ist jedoch eine erhebliche Schwierigkeit zu überwinden. Solange das Volk noch nicht in der Lage ist, sein durch Manipulation entstandenes falsches Bewußtsein zu überwinden und die Wahrheit zu erkennen, kann sich die aufgeklärte Elite nicht von plebiszitären Entscheidungen abhängig machen. Elemente unmittelbarer Demokratie — von der Öffentlichkeit von Sitzungen über die Abberufbarkeit von Abgeordneten bis zur Verlegung von Grundsatzentscheidungen in Vollversammlungen — werden daher immer dann angewendet, wenn sie als Kampfmittel gegen das „Establishment" brauchbar sind. Die Legitimität plebiszitärer Mehrheitsentscheidungen wird aber nur dann anerkannt, wenn ihr Inhalt „progressiv" im Sinne der Vorstellungen der Elite ist. Ein konsequenter Übergang zur unmittelbaren Demokratie kann daher auch erst für die Zukunft gefordert werden, wenn das politische Bewußtsein des Volkes, nicht zuletzt als Folge einer revolutionären Auseinandersetzung mit dem heute herrschenden System, ein höheres Niveau erreicht hat.

Die übrigen Thesen der linksradikalen Demokratiekritik sind entweder aus dem zentralen Argument von dem bloß formalen Charakter der repräsentativen Demokratie in spätkapitalistischen Gesellschaften abgeleitet oder sie entsprechen der pragmatischen Kritik an der Leistungsfähigkeit der gegenwärtigen demokratischen Regierungssysteme, die auch und speziell von reformistischen Wissenschaftlern und Publizisten geübt wird. Betont werden vor allem die Machtkonzentration bei der Regierungsbürokratie, die Verfilzung von ökonomischen und politischen Interessen im Zuge zunehmender Konzentration in der Wirtschaft, die Vernachlässigung öffentlicher Bedürfnisse zugunsten des von der Großindustrie manipulierten Konsums, die Unfähigkeit der Regierungen, wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten, ohne den Unternehmerinteressen weitgehend entgegenzukommen. Da diese kritischen Thesen weder ein Monopol der „Neuen Linken" noch radikal in dem Sinne sind, daß sie, für sich genommen, das System der repräsentativen Demokratie grundsätzlich in Frage stellten, brauchen sie hier nicht näher ausgeführt zu werden.

Um so wichtiger aber ist es, die Implikationen der zentralen These linksradikaler Demokratiekritik zu prüfen. Sollte die Behauptung zutreffen, daß die gegenwärtige „westliche" Demokratie bloß formalen Charakter habe, die Macht bei einer ökonomisch-politischen Führungsgruppe konzentriere und die'politische Entmachtung der Massen durch Manipulation und automatische Stabilisatoren garantiere, so wäre Fortschritt auf dem Wege zur rationalen Selbstbestimmung in diesem System tatsächlich kaum möglich. Reformen würden höchstens die Integration der Beherrschten in ein System fördern, das Instrument der herrschenden Klasse bliebe. Ein Beispiel, das von der deutschen „Neuen Linken" immer wieder angeführt wird, um die Sinnlosigkeit systemimmanenter Reform zu belegen, ist die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindustrie, die zwar „fortschrittlich" im Vergleich zu den Regelungen in anderen kapitalistischen Ländern sei, aber lediglich dazu geführt habe, den Interessenkonflikt zwischen Arbeitern und dem Management zu verschleiern. So stellt sich für einen großen Teil der „Neuen Linken" die Frage, ob anders als durch gewaltsame Zerschlagung des bestehenden Systems, durch Revolution, ein Abbau von Herrschaft noch zu erreichen sei.

Der Sprung von der radikalen Kritik zur revolutionären Agitation und Aktion wird um so leichter getan, als nicht nur die historisch-empirische Analyse die Integrationskraft des bestehenden Systems zeigt, sondern — und das ist für das Verhalten vieler radikaler Intellektueller ausschlaggebend — die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre das Leiden des einzelnen an der modernen Gesellschaft nicht unbedingt vermindert haben. Das trifft vor allem dann zu, wenn dieser einzelne aus der ökonomisch und sozial privilegierten Mittelschicht stammt und materielle Not aus eigener Erfahrung nicht kennt. Vom psychologisierenden Neomarxismus belehrt, daß individuelles Leiden in vielen Fällen Schuld der repressiven Gesellschaft sei, erwartet er von Reformen die Lösung seiner eigenen psychischen Probleme und wendet sich von dem gesamten System radikal ab, wenn konkrete politische, soziale und wirtschaftliche Verbesserungen diese Erlösung nicht bringen. Die Überzeugung, daß die bestehende „formale" Demokratie unheilbar ist, daß aber die Mehrheit der Bevölkerung, von den Herrschenden manipuliert, sich dem System angepaßt hat und die eigene hoffnungslose Lage nicht erkennt, legt eine Strategie der Konfliktverschärfung zur Schulung des politischen Bewußtseins nahe. Provokationen und Konfrontationen sind notwendig, um den Schleier, den die Herrschenden über die Klassen-und Interessengegensätze gebreitet haben, zu zerreißen. Konfrontationspolitik ist aber nur durchzuhalten, wenn an den eigenen Prinzipien nicht gezweifelt wird. Ideologischer Dogmatismus und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden sind die unvermeidliche Folge.

3. Die Unterschiede im Demokratieverständnis

Der Demokratiebegriff, von dem die „Neue Linke" bei ihrer Kritik der „Formaldemokratie" der kapitalistischen Gesellschaft und bei ihrer Forderung nach Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche ausgeht, steht in einem schroffen Gegensatz zu dem Demokratieverständnis, das bisher für die angelsächsischen Demokratien maßgebend war und das auch die politische Ordnung der Bundesrepublik bestimmt hat. Demokratie im Sinne der „Neuen Linken" läßt sich am besten mit der Terminogie Ernst Fraenkels als „heteronom legitimierte Demokratie" beschreiben, während die pluralistische Demokratie angelsächsischer Tradition als „autonom legitimierte Demokratie" bezeichnet werden kann

Heteronom legitimierte Demokratie „geht von der Existenz eines vorgegebenen, objektiv erkennbaren bonum commune aus und setzt sich die Aufgabe, einen Consensus omnium zwecks Realisierung des bonum commune zu erzielen" Dieser Demokratiebegriff ist bei Rousseau, bei den Jakobinern und bei den Marxisten zu erkennen. Sie alle glauben, daß das Gemeinwohl, das heißt im Falle der „Neuen Linken" der historisch notwendige Prozeß der revolutionären Überwindung des Kapitalismus, von einer elitären Minderheit erkannt werden kann und daß die Aufgeklärten die Aufgabe haben, die Zustimmung des Volkes zu zur Verwirklichung des von ihnen formulierten Zieles zu gewinnen. Dabei wird vorausgesetzt, daß das Volk die Realisierung des objektiv gegebenen Gemeinwohls wolle und lediglich durch Manipulation und unzulängliche Einsicht darin gehindert sei, das Wahre zu erkennen. Die Faszination eines solchen Demokratiebegriffs für junge Intellektuelle, die sich im Besitz des Schlüssels zur Geschichte glauben und überdies täglich an den Techniken der Massenbeeinflussung beobachten können, daß der Mensch nahezu zu allem überredet werden kann, sogar zum Gebrauch seiner Vernunft, ist nur zu verständlich.

Der heteronom legitimierten Demokratie stellt Fraenkel die autonom legitimierte Demokratie gegenüber. Autonom legitimiert ist sie, weil ihr die „richtige" Politik nicht von einer elitären Minderheit vorgeschrieben wird, sondern weil in ihr Politik das Resultat eines Ausgleichs der Interessen verschiedener Gruppen der Gesellschaft ist, die von diesen Gruppen selbst konzipiert und vertreten werden. Autonom legitimierte Demokratie ici also „pluralistisch". Die Gruppeninteressen mögen kurzsichtig und eigensüchtig sein, co sie entsprechen dem, was die einzelnen Menschen aufgrund ihrer sozialen Lage, ihrer Erwartungen und ihrer zwar begrenzten, aber immerhin eigenen Einsicht für richtig halten. Sie können in der Regel nicht vollständig durchgesetzt werden, weil sie mit den Interessen anderer Gruppen kollidieren; das Ergebnis des politischen Prozesses ist ein Kompromiß. Doch die Regierung hat einen gewissen Vertrauenskredit, innerhalb dessen sie sich um den Aus-gleich der Interessen bemühen muß. überzieht sie ihn, das heißt vernachlässigt sie die Interessen einiger Gruppen in solchem Maße, daß ihre Mehrheit verloren geht, so kann sie ausgewechselt werden.

Autonom legitimierte Demokratie impliziert, daß es keinen einheitlichen Volkswillen gibt.

In den konkreten politischen Fragen ist ein breites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen zu beobachten; nur selten sind über irgendein zur Entscheidung anstehendes politisches Problem auch nur zwei Drittel der Wähler der gleichen Meinung. Autonom legitimierte Demokratie impliziert zugleich, daß das Ergebnis der politischen Willensbildung nie als absolut richtig angesehen werden kann. Der Kompromiß, der in der Form von Rechtsnormen schließlich allgemeinverbindlich wird, ist politisch zweckmäßig, wenn die Zustimmung der Bürger zur jeweiligen Regierung jetzt und in der voraussehbaren Zukunft verstärkt wird. Ob der politisch erreichbare Kompromiß sich nach einigen Jahren noch als richtig erweist, muß abgewartet werden. Es kann sein, daß eine Lösung, die heute die Zustimmung der Mehrheit findet, von Experten als sachlich falsch abgelehnt wird, und daß sich nach einiger Zeit herausstellt, daß die Experten recht gehabt haben. Es kann sein, daß sich die Kritik der Experten als übertrieben oder sogar falsch erweist, was beim gegenwärtigen Stand sozialwissenschaftlicher Forschung nur zu leicht eintreten kann — man denke an die Zuverlässigkeit wirtschaftswissenschaftlicher Prognosen. Es kann sein, daß die Interessen und Werte der Gruppen sich verändern und daß ein Kompromiß, der heute von der Mehrheit akzeptiert wird, in einigen Jahren revidiert werden muß. Daher ist stets Skepsis bei der Beurteilung konkreter politischer Maßnahmen und Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen geboten. Der Absolutheitsanspruch irgendeiner konkreten Lösung ist systemwidrig, das „Durchwursteln" unvermeidlich.

Wer Vollkommenheit sucht, um Sicherheit zu finden, kann sich damit nur schwer abfinden. Veränderung ist nur mit Konsensus der Mehrheit und mit mindestens stillschweigender Duldung der Minderheit möglich; die Richtung der Veränderung bleibt umstritten. Die Chancen zur Durchsetzung von Zielen, die den selbständig formulierten eigenen Interessen der Gruppen entsprechen, sind jedoch relativ groß, wenn auch Gleichheit der Chancen infolge der unterschiedlichen Größe, des unterschiedlichen Organisationsgrades und der unterschiedlichen Finanzkraft der Gruppen nicht gegeben ist.

Heteronom legitimierte Demokratie beruft sich auf wissenschaftlich begründete Annahmen über die Entwicklungstendenzen der Gesellschaft. In der Tat: Gäbe es die Möglichkeit, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit Sicherheit vorherzusagen, so käme der intellektuellen Elite, die imstande ist, den historischen Prozeß zu analysieren und daraus den Maßstab für richtige Politik abzuleiten, der Führungsanspruch zu. Autonom legitimierte Demokratie berücksichtigt die Unsicherheit menschlicher Erkenntnis und erhofft nicht von einer den Gang und den Sinn der Geschichte deutenden Globaltheorie, sondern eher von einem Prozeß der offenen Diskussion und des Ausprobierens verschiedener Konzeptionen eine Annäherung an das Richtige. Zur heteronom legitimierten Demokratie paßt die angeblich wissenschaftliche totale Ideologie, sei es nun die marxistisch-leninistische oder die nationalistische. Zur autonom legitimierten Demokratie passen pragmatische politische Ideen und sozialwissenschaftliche Theorien, die logisch und empirisch überprüfbar sind. Sofern die „Neue Linke" behauptet, ihren Führungsanspruch mit einer wissenschaftlichen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung rechtfertigen zu können, benutzt sie einen Wissenschaftsbegriff, der auf der gläubigen Hinnahme von wertgebundenen Prämissen beruht und seit dem Niedergang theologisch-philosophischer Spekulation Mitte des 19. Jahrhunderts überwunden schien.

Heteronom legitimierte Demokratie läßt keine Abweichungen von dem als wahr erkannten Volkswillen zu. Es gibt nur eine Wahrheit, und die muß durchgesetzt werden. Differenzen werden nur in Fragen von sekundärer Bedeutung geduldet. Autonom legitimierte Demokratie zweifelt an der Möglichkeit, konkrete politische Probleme absolut richtig zu lösen, und läßt daher eine Vielfalt von Interessen und Lösungsvorschlägen zu. Ihre Toleranz ist jedoch dadurch beschränkt, daß sie eine feste Übereinkunft über die Spielregeln des politischen Prozesses braucht; diese Übereinkunft ist nur zu erzielen, wenn die Spielregeln Minderheiten einen sicheren Schutz bieten. Gerade weil sie den Gruppen das Recht gibt, eigen-süchtige und kurzsichtige Interessen zu vertreten, muß sie Schwache dagegen schützen, von den Starken vergewaltigt zu werden. Die Freiheitsgarantien des Rechtsstaates sind daher unabdingbar, auch wenn sie in vielen Fällen dazu führen, daß wünschenswerte Veränderungen durch erworbene Rechte erschwert werden. Pluralistische Demokratie mit autonomer Legitimation ist in Gesellschaften entstanden, in denen die Privatsphäre des einzelnen groß und die Staatstätigkeit relativ begrenzt war. In ihnen waren Fehlentscheidungen als Folge politisch unvermeidlicher, doch sachlich unbefriedigender Kompromisse leichter zu ertragen als in Gesellschaften mit umfassender staatlicher Aktivität. Inzwischen ist in allen westlichen Demokratien der Umfang der Staatstätigkeit vor allem durch Übernahme wirtschaftlicher Steuerungsaufgaben gewachsen. Hinzu kommt, daß seit dem Zweiten Weltkriege eine merkbare Beschleunigung des wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels eingetreten ist. Dieser Wandel aber zwingt zu Anpassungen, die in vielen Fällen mit staatlichen Eingriffen in erworbene Rechte verbunden sind und die durch die Rechtsstaatlichkeit und den Minderheitenschutz der pluralistischen Demokratie erschwert werden. Beispiele sind die Agrarreform, die Regional-und Stadtplanung, die Bildungsreform, der Ausbau öffentlicher Kontrolle über die private Wirtschaft. Viele politische Maßnahmen, die Sachkenner für notwendig halten, scheitern oder werden verzögert durch unumgängliche Rücksichten auf Sonderinteressen. Kritik am pluralistischen Willensbildungsprozeß kommt daher von zwei Seiten: Politiker, Verwaltungsbeamte, Wissenschaftler klagen, daß eine pluralistische Demokratie mit autonomer Legitimation wie die Bundesrepublik oder die USA kaum noch zu regieren sei. Die ungeduldigen jugendlichen Intellektuellen behaupten dagegen, es würde überhaupt nur noch im Interesse der Privilegierten regiert.

Die Bereitschaft, die pluralistische Demokratie mit autonomer Legitimation zugunsten einer gelenkten Demokratie mit heteronomer Legitimation aufzugeben, wächst daher nicht nur in sozialistischen Kreisen, sondern wird auch von manchen „Technokraten" geteilt. Die Erziehungsdiktatur scheint die Lösung der Anpassungsschwierigkeiten zu sein, denen die Dynamik des beginnenden elektronischen Zeitalters die pluralistische Demokratie ausgesetzt hat. Eine Generation nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus scheinen viele bereits vergessen zu haben, wohin eine zentrale und totale Manipulation des Volkes führen kann.

4. Die Konsequenzen für die politische Bildung

Die Neigung eines Teils der „Neuen Linken" zu Intoleranz, Gewaltsamkeit und zur Erziehungsdiktatur mag aus den geschilderten sozialpsychologischen Ursachen zu erklären sein und von radikalen Kritikern der pluralistischen Demokratie mit der These gerechtfertigt werden, daß das bestehende System ohne Konfrontationspolitik und gewaltsame Zerschlagung der Manipulationsmechanismen nicht verändert werden könne. Einsicht in die Ursachen des radikalen Protestes und sogar Verständnis für die Frustration, in der sich viele junge Intellektuelle befinden mögen, dürfen aber nicht daran hindern, die Folgen einer von Intoleranz und Gewaltsamkeit gekennzeichneten, die Diktatur der Aufgeklärten anstrebenden Bewegung für den Fortbestand einer freiheitlichen und friedlichen Gesellschaftsordnung deutlich zu erkennen. Die friedliche Lösung von politischen Konflikten ist nur möglich, wenn bei der Auseinandersetzung der verschiedenen Interessen Spielregeln eingehalten werden, die auch von den Verlierern akzeptiert werden können. Sie müssen Garantien der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit, der wirtschaftlichen und sozialen Sicherung aller Gruppen einschließen. Gewaltanwendung gegen Andersdenkende verletzt diese Spielregeln und führt zur Verstärkung der Aggressivität nicht nur der Opfer der Gewalt, sondern auch derjenigen, die Gewalt anwenden. Eine weitere Zunahme der gegenwärtig in allen Teilen der Welt zu beobachtenden Neigung zur Gewaltanwendung bei innenpolitischen Konflikten wäre das Vorspiel zur Diktatur, aber nicht der der Erziehungsdiktatur der Linken; denn die von der radikal-sozialistischen Ideologie nicht überzeugte Mehrheit der Bevölkerung wird eher nach dem „starken Mann" und der repressiven Regelung der Konflikte rufen, als eine Gefährdung von Sicherheit und Wohlstand hinnehmen.

Die politische Bildung sollte sich daher intensiver als bisher der „Erziehung zum Frieden" widmen. Sie wird Einsichten und Verhaltensweisen fördern müssen, die der Gewaltanwendung bei internationalen und bei innerstaatlichen Konflikten entgegenwirken können. Das ist nicht möglich, wenn sie ein har-monisches Miteinander-Füreinander als politisches Ideal entwirft. Vielmehr muß sie zeigen, daß Politik stets mit dem Ausgleich von Interessen verbunden ist, und dazu beitragen, die Voraussetzungen für eine friedliche und rationale Regelung der Konflikte zu schaffen.

Erziehung zum Frieden heißt aber nicht Erziehung zur resignierenden Hinnahme bestehender Verhältnisse. Im Gegenteil kann in einer durch raschen Wandel von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Moral gekennzeichneten Gesellschaft Frieden nur erhalten werden, wenn es gelingt, funktionslos gewordene Herrschaftspositionen abzubauen, ineffiziente Systeme zu ändern, vor allem aber die Chancen zur Selbstentfaltung und Selbstbestimmung für alle, gerade auch für die bisher benachteiligten Gruppen zu erweitern. Nur dadurch kann Aggressivität als Folge steigender, doch unbefriedigter Erwartungen in Grenzen gehalten werden. Erziehung zum Frieden heißt daher auch Erziehung zur Ausnutzung der Möglichkeiten, die jedes demokratische System zur Durchsetzung der eigenen Interessen bietet, allerdings unter Achtung des Rechtes jedes anderen, seine eigenen Interessen ebenso im Rahmen rational begründbarer Spielregeln zu vertreten.

Hartmut von Hentig nennt einige Prinzipien, nach denen sich eine Pädagogik richten sollte, die zum Frieden erziehen will:

— Erziehung zur Empfindsamkeit gegenüber dem Unrecht, das andere erfahren;

— Erziehung zur Ablehnung der Gewalt;

— . Erziehung zum Ertragen des unvermeidlichen Maßes an Unrecht, dem sich der Friedliche in einer von Gewalt gekennzeichneten Welt aussetzen muß;

— Erziehung zur Unsicherheit und zum Zweifel, zum Mißtrauen gegenüber Autoritären und „heiligen" Überzeugungen;

— Erziehung zum Ungehorsam, wenn „Gehorsam Beschwichtigung des Übels, Verleugnung des tatsächlichen Skandals" ist;

— Erziehung zum Leben mit Konflikten, um den Krieg zu vermeiden;

— Erziehung zur Veränderung der Welt.

Er faßt zusammen: „Erziehung zum Frieden heißt darum in erster Linie Erziehung zur Politik. Politik ist eine Verfahrensweise, ein System von Regeln, Institutionen und Prozeduren, die das Verhältnis der Menschen zueinander beweglich ordnen und in einer Demokratie jedenfalls den ständigen Abbau von Herrschaft bezwecken, die immer wieder von alleine nachwächst."

Hentig hat mit diesen Prinzipien die wichtigsten Forderungen aufgestellt, die angesichts der Zunahme politisch motivierter Gewalttaten an die politische Bildung gerichtet werden müssen. Um sie zu erfüllen, wird sich die politische Bildung mehr als bisher mit den sozialpsychologischen Ursachen politischen Verhaltens beschäftigen müssen. Die Erschöpfung der kollektiven Aggressivität in den Kriegs-und Nachkriegsjahren mag dazu beigetragen haben, daß die Schwierigkeiten der Umwandlung triebhafter Aggressivität in politisch ungefährliche und möglichst fruchtbare Aktivität übersehen wurden. Soweit wir heute wissen, ist triebhafte Aggressivität dem Menschen konstitutiv; zwar kann sie durch repressive Gesellschaftsordnungen verstärkt, durch Aufklärung, Demokratisierung und Chancen der Selbstentfaltung sicherlich verringert werden. Es gibt jedoch keinen Anlaß zu der Annahme, daß in einer Gesellschaft, die optimale Bedürfnisbefriedigung gewährt, die Aggressivität unter der Gefahrenschwelle bliebe. „Der Glaube jedoch, daß schon die wachsenden Produktiv-kräfte befriedend auf die unfriedliche menschliche Art einwirken könnten, scheint eine Hoffnung, die nur enttäuscht werden kann. Vielmehr dürften die entscheidenden Übel wohl nur sekundär von der Gesellschaft herrühren, primär vom Menschen, der nur so im-perfekte Gesellschaften zu errichten in der Lage war und von dem man nicht annehmen kann, daß er mit einer neuen Generation, mit neuen . Eliten'. . . das Schlüsselwort für eine plötzliche Verwandlung in ein friedlich-tolerantes Wesen finden wird."

Politische Bildung wird sich bemühen müssen, die Ursachen und Mechanismen menschlicher Aggressivität durchschaubar zu machen. Ziel muß sein, bereits den Heranwachsenden zur selbstkritischen Beobachtung und Selbstkorrektur des eigenen Verhaltens zu befähigen. Erziehung zur Selbstkritik ist die notwendige Ergänzung einer Erziehung zur Gesellschaftskritik. In der Ideologie der „Neuen Linken" wird der repressiven Gesellschaft die Schuld an allen vermeidbaren Übeln zugeschrieben, die den Menschen plagen. Dabei wird übersehen, daß menschliches Zusammenleben nur möglich ist, wenn die einzelnen, freiwillig oder gezwungen, ein gewisses Maß an Triebverzicht leisten. Es mag sein, daß die bestehende Gesellschaft ein unnötig hohes Maß an Triebverzicht verlangt und vielleicht auch relativ ungefährliche Triebe unterdrückt, überaus gefährliche dagegen auf hilflose Minderheiten und schwache Nachbarn ablenkt. Weniger Repression, weniger Entfremdung und gesicherter sozialer Frieden ist aber nicht lediglich durch Erweiterung der Freiheitsräume innerhalb der Gesellschaft zu erreichen. Ebenso notwendig ist es, den einzelnen durch Erziehung zu befähigen, sein Leben vernünftig zu ordnen. Selbstkritik und Selbstkorrektur bedeuten keineswegs Unterdrückung von Trieben durch harte Selbstdisziplin; eine solche Zielsetzung wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, und Pädagogen sollten einsehen, „wie unmoralisch es ist, die Moral zu überschätzen" Es geht vielmehr darum, die eigene triebhafte Motivation zu durchschauen und Kompensationen zu suchen, die politisch und menschlich zu verantworten sind.

Es ist notwendig, auf die Grenzen zu verweisen, die der Schule, der Universität und der politischen Erwachsenenbildung bei dem Versuch gesetzt sind, politisch gefährliche Aggressivität einzudämmen. Die Psychologie lehrt, daß soziales Fehlverhalten in vielen Fällen durch falsche frühkindliche Erziehung bedingt ist. Wenn die Erziehungsberatung der Eltern so unzureichend, die materiellen Voraussetzungen für eine sinnvolle Erziehung durch die Eltern so unbefriedigend sind wie in der Überflußgesellschaft der Gegenwart, muß mit Schäden gerechnet werden, die in der frühen Kindheit eintreten und die keine noch so intensive politische Bildung korrigieren kann. Bessere Kindergärten können Erziehung im Elternhaus nicht ersetzen; dennoch wäre ihr Nutzen für die Sicherung eines freiheitlichen und friedlichen Zusammenlebens vielleicht höher als der einer qualitativ und quantitativ unzureichenden politischen Bildung, wie sie heute in den Schulen praktiziert wird.

Das soll kein Plädoyer für die Abschaffung der „Sozialkunde" an den Schulen sein. Im Gegenteil: Die Schulen müssen den Versuch wagen, zur Politik zu erziehen. Nur sind ihre bisherigen Bemühungen für Schüler, Lehrer und für die Gesellschaft unbefriedigend geblieben. Das liegt nicht daran, daß politische Bildung bisher nur „affirmativ" gewesen sei, wie ein verbrei-teter Vorwurf lautet. Wer langjährige Erfahrungen mit Anfangssemestern der Politikwissenschaft hat, konnte beobachten, wie die Inhalte der politischen Bildung, die von den Schulen vermittelt wurden, mit der Mode wechselten, und wie mit der Krise des Selbstverständnisses der Bundesrepublik die Kritik auch Einzug in die Schulen hielt. Politische Bildung an den Schulen leidet vielmehr am Mangel an qualifizierten Lehrern, an unrealistischen Zielen und mangelhafter Stoffauswahl und Methodik.

Der Unterricht in Politik („Sozialkunde" verschleiert das eigentliche Problem, „Gemeinschaftskunde" ist ideologieverdächtig und sachlich falsch; denn es geht um Gestaltung der öffentlichen Ordnung und Konfliktregelung, nicht um die Integration des einzelnen in eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten) kann nur von einem fachlich speziell ausgebildeten Lehrer erteilt werden. Ein Studium der Geschichte oder der Soziologie genügt dazu nicht, wenn auch die historischen und soziologischen Bezüge der Politik unbestreitbar und wichtig sind.

Dazu nur zwei Beispiele: Der Historiker wird in der Regel dazu neigen, zeitgeschichtliche Stoffe in den Mittelpunkt der politischen Bildung zu stellen. Er kann sich dabei auf die Lehrpläne zur politischen Bildung berufen, in denen der Beschäftigung mit der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus zentrale Bedeutung zugewiesen wird. Gewiß ist es notwendig, der Jugend die Verführbarkeit des deutschen Bürgers durch eine nationalistisch-antisozialistische Ideologie, die Herrschaftstechniken moderner Diktaturen und die Folgen totalitärer Herrschaft für den einzelnen zu zeigen. Wilhelm Hennis hat aber schon vor Jahren darauf hingewiesen, daß der Schüler aus der Konfrontation mit den Extremfällen Nationalsozialismus und Stalinismus kaum ein ausgewogenes Urteil über die Normalsituation, in der er selber lebt, gewinnen kann. „Die typische Haltung der durch die Konzentration auf die Gegenmodelle Nationalsozialismus und Bolschewismus Politisierten ist nur zu oft maßlose Aufgeregtheit, die abrupt spießbürgerlicher Resignation Platz machen kann." Sollte die Geistesverwirrung, die man heute angesichts der Anwendung des Begriffes „Faschismus" zur Kennzeichnung von Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik feststellen muß, etwa durch die zeitgeschichtliche politische Bildungsarbeit gefördert worden sein? Zeitgeschichte hat ihren Platz im Geschichtsunterricht. Im Fach Politik ist es oft notwendig, auf Kenntnisse zurückzugreifen, die im Geschichtsunterricht erworben wurden. Aber Zeitgeschichte allein ermöglicht nicht Verständnis für politische Probleme und für Lösungsmöglichkeiten in der Gegenwart; sie liefert lediglich, und das soll nicht unterschätzt werden, Erfahrungen über die Bewährung bestimmter Institutionen und — noch wichtiger — über das Verhalten von Menschen unter bestimmten sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen. Sie ist eine unentbehrliche Ergänzung, aber kein Ersatz für Politikwissenschaft. Auch die Soziologie ist nicht in der Lage, den zentralen Bereich der politischen Bildung auszufüllen. Sie zerfällt heute in zwei sich erbittert bekämpfende Richtungen, die beide immer weiter von der Analyse politischer Ziele, Prozesse und Institutionen abrücken. Die empirisch-analytische Richtung liefert unentbehrliche Hypothesen und Fakten zum Verständnis menschlichen Verhaltens, rechnet jedoch die Untersuchung politischer Zielsetzungen und Institutionen nicht zu ihren Aufgaben. Die dialektische Richtung liefert Kritik der Zielsetzungen und politischen Systeme und erhebt einen dezidiert politischen Anspruch, interessiert sich aber nicht für die nüchterne empirische Analyse politischer Prozesse und Institutionen. Verständnis für die hier und heute aufgegebenen und lösbaren Probleme und für die Zweckmäßigkeit politischer Ordnungen setzt aber Sachkenntnis politischer Ziele, Prozesse und Institutionen voraus, die von keiner der soziologischen Schulen vermittelt wird. Sachkundiges Urteil über Ideologien und Utopien, über Konflikte und die Möglichkeiten, sie zu regeln, über die Leistungsfähigkeit der Institutionen kann nur durch eine spezialisierte politikwissenschaftliche Ausbildung gefördert werden, die die meisten Sozialkundelehrer bisher nicht oder nur unzureichend erfahren haben.

Die Folgen der unzureichenden Ausbildung der Sozialkundelehrer seien an einem Beispiel illustriert: ökonomische Faktoren üben mindestens seit der Weltwirtschaftskrise 1929— 1933 einen überaus wichtigen Einfluß auf das Wählerverhalten aus. Die Wirtschafts-und Sozialpolitik ist heute zur umfangreichsten und zentralen Staatsaufgabe geworden. Die Schule ist aber ganz und gar unfähig, eine auch nur einigermaßen ausreichende Einführung in die Funktionsweise der verschiedenen Wirtschaftssysteme und in die Aufgaben und Methoden der Wirtschaftspolitik zu bieten, weil sie keine dafür ausgebildeten Lehrer hat. Auch die Politikwissenschaft ist daran nicht unschuldig; denn auch sie hat, wenn man vom Otto-Suhr-Institut in Berlin absieht, dem Gewicht der Wirtschaft für die Politik nur unzureichend Rechnung getragen. Das Ergebnis ist nur zu deutlich: naive, illusionäre, dem ideologischen Schlagwort offene Vorstellungen über Wirtschaft bei dem größten Teil der Schüler und Studenten, grobe Fehleinschätzungen wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen, unrealistische Erwartungen und — mit unausweichlicher Konsequenz — extremistische politische Reaktionen als Folge enttäuschter Erwartungen. Das trifft nicht nur auf Anhänger der „Neuen Linken" zu; bei NPD-Wählern und bei der Agitation für landwirtschaftliche Interessen ist ähnliches zu beobachten.

Das Ziel und damit auch die Stoffauswahl der politischen Bildung bedürfen einer kritischen Überprüfung. Eine Schwäche der bisherigen politischen Bildungsarbeit scheint darin zu liegen, daß politische Freiheit oft — bewußt oder unbewußt — mit dem Abbau jeder institutionalisierten Machtausübung, also Herrschaft, gleichgesetzt wurde und illusionäre Erwartungen über die Selbstbestimmungschancen des einzelnen in einem hochindustrialisierten Sozialstaat geweckt wurden. Auch in der freiesten Demokratie bleibt der Zwang, sich rechtmäßig zustande gekommenen Mehrheitsentscheidungen zu fügen. Die einzige Schranke, die gegen Mehrheitsherrschaft errichtet werden kann, ist die Garantie von Grundrechten und staatsfreien Individualsphären, in denen der einzelne nach eigener Faon selig werden kann. Die im Interesse sozialer Gerechtigkeit notwendige Ausdehnung der staatlichen Aktivität im Bereich von Wirtschaft und Bildung muß aber zwangsläufig die Individualsphären einschränken. Es ist richtig, daß die Garantien einer staatsfreien Sphäre bisher vor allem den Schichten von „Besitz und Bildung" zugute kamen. Doch eine Erhöhung der Selbstbestimmungsschancen für alle wäre mit der Ausweitung der Staatstätigkeit nur dann verbunden, wenn gleichzeitig der Einfluß des einzelnen auf zentrale staatliche Entscheidungsprozesse verstärkt werden könnte. Das ist jedoch gerade nicht der Fall. Der zunehmende Umfang und die steigende Kompliziertheit der Staats-tätigkeit bewirken im Gegenteil die Konzen-B tration von Entscheidungsgewalt bei Berufs-politikern und ihren technokratischen Berater-stäben. Viele sehen in Selbstverwaltungsorganisationen, die in sich demokratisch geordnet sind, einen Ausweg aus dem Dilemma. Mitbestimmung von Arbeitern im Betrieb, Dezentralisierung von Staatsfunktionen und Stärkung der Gemeindeautonomie sind Beispiele dafür. Ob, aber die Selbstverwaltung in kleinen Einheiten angesichts der immer komplizierteren Steuerungsprobleme vor allem der modernen Wirtschaft noch Chancen hat, bleibt abzuwarten. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher dafür, daß sichZentralisierung und Großorganisation durchsetzen werden. In der „Neuen Linken" wird das Problem natürlich auch gesehen. Zum Teil entziehen sich ihre Anhänger einer Antwort durch anarchistische Illusionen; die Mehrheit aber wählt den Ausweg, die „Identität von Regierenden und Regierten" als wahre Demokratie anzustreben und diese Identität durch gemeinsame Verpflichtung auf ein vorgegebenes, durch die aufgeklärte Elite erkennbares Gemeinwohl erreichen zu wollen. Daß eine solche „heteronom-legitimierte Demokratie" alles andere als frei von politischer Herrschaft sein würde, wird geleugnet. Politische Bildung muß ein realistisches Bild der Demokratie und ein realistisches Modell des demokratischen Bürgers zeigen. Ein realistisches Bild ist nicht unkritisch gegenüber bestehenden Ordnungen, sondern muß im Gegenteil konkrete Möglichkeiten zur Veränderung des Bestehenden nachweisen. Ein realistisches Modell des Bürgers ist nicht das Modell eines unpolitischen Bürgers, wohl aber eines Bürgers, dessen Motivation zu politischem Engagement nicht überschätzt wird. Demokratie ist eine Methode der Ausübung politischer , Führungsfunktionen, der Bestellung politischer Führungsgruppen und der Durchsetzung von individuellen und kollektiven Interessen. In der modernen Industriegesellschaft ist diese Methode dadurch gekennzeichnet, daß politische Führung Entscheidungsbefugnis auf Zeit im Auftrage des gesamten Volkes bedeutet, daß verschiedene potentielle Führungsgruppen um diesen Auftrag konkurrieren, daß alle Bürger des Gemeinwesens das Recht haben, ihre eigenen Interessen politisch zu vertreten und an der Auswahl der Führungsgruppe teilzunehmen. Demokratie kann nicht unmittelbare Volksherrschaft im Sinne des klassischen griechischen Modells sein, und sie kann auch nicht Volksherrschaft im Sinne der Identität von Regierenden und Regierten sein, weil diese moderne Version des klassischen Ideals die Pluralität der Interessen leugnet oder mit totalitärer Manipulation überdeckt.

In der freiheitlichen Demokratie der modernen Industriegesellschaft hat der Bürger konkrete Chancen, seine Interessen zu vertreten, vor allem, wenn er sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt und organisiert vorgeht; er hat jedoch wenig Aussicht, als einzelner merkbaren Einfluß auf Entscheidungen von allgemeiner Bedeutung auszuüben. Nur wer als Berufspolitiker zu den Führungsgruppen der Verbände, Parteien und Fraktionen gehört, ist imstande, Entscheidungen von allgemeiner Bedeutung merkbar zu beeinflussen. Der Aufstieg in diese Führungsgruppen ist aber in der Regel nur bei Einsatz der vollen Arbeitskraft möglich; die Zeit der Honoratiorenpolitik ist endgültig vorbei. In der Kommunalpolitik und in den örtlichen Organisationen von Parteien und Verbänden sind die Wirkungschancen für Bürger, die nebenberuflich Politik treiben wollen, günstiger; sobald aber leitende Funktionen angestrebt werden, bleibt auch in diesen Bereichen nur Politik als Beruf übrig.

Erziehung zu politischer Verantwortung kann unter diesen Umständen nur Erziehung zum Frieden, Erziehung zu rationaler Auswahl zwischen den verschiedenen Führungsgruppen und Erziehung zur Wahrung der Kontrollmöglichkeiten über die Führungsgruppen bedeuten. Eine Erziehung, die die aktive und ständige Teilnahme des Bürgers an die Politik als Ideal hinstellt, muß dagegen notwendig scheitern. Sie überschätzt die Motivation des Durchschnittsbürgers, politisch aktiv zu werden, und zugleich die Wirkungschancen, die ein modernes politisches System bietet. Sucht sie die Schwäche der Motivation durch manipulative Politisierung zu überspielen, so produziert sie emotionalisierte, ideologisierte und schließlich frustrierte Bürger. Die Gefahr, daß Bürger mit überzogener politischer Aktivierung die Grenzen zwischen der eigenen Privatsphäre und der Öffentlichkeit nicht mehr sehen können, ist nicht gering. Hennis bringt ein Zitat aus Leopold Schwarzschilds „Tagebuch", in dem das Problem getroffen ist: „Insoweit der Mensch Teil der Nation ist — er ist keineswegs mit allem nur dies! — hat er den Anspruch darauf, daß sie ihm die Primitivitäten sichere, zu deren Sicherung sie existiert: Nahrung, Rechtssicherheit, Schutz gegen Gewalt und einige diffizilere Dinge. Nicht aber darf die Nation verindividualisiert werden. Nicht darf man sie als Person auffassen, die zu einem Lebensstil hingerissen werden dürfte, den sie — da sie eben nicht Person, sondern nur ein Netz feinster Beziehungen ist — ohne schwere Verwirrung dieses Netzes nicht überstehen kann. Und nicht darf man, vor allem, dieser nicht existierenden Person den Lebensstil aufzwingen wollen, den man der eigenen Person gemäß findet. Die gräßliche Langeweile, die das eigene Blut verdickt, ist kein Grund für kurzweilige Aderlässe an der Nation! i. . Diejenigen, die ihren privaten Lebenstrieb naiv auch ihrem Volk einimpfen wollen, ihre privaten Erfüllungen in mystischer Verwechslung auch für die Erfüllung einer Gemeinschaft halten, haben noch nicht das Abc der Menschheit erfaßt.

Für die Stoffauswahl ergibt sich aus diesen Überlegungen die Konsequenz, daß eine realistische Darstellung der Wirkungschancen, die der einzelne im politischen System besitzt, stärker betont werden sollte. Thomas Ellwein hat mit seiner „Politischen Verhaltenslehre" eine vorzügliche Anleitung dazu gegeben. Der zukünftige Wähler muß lernen, wie er Interessen durchsetzen kann, und er muß Kriterien gewinnen, nach denen er die Leistungen von Parteien, Verbänden und Regierungen beurteilen kann. Es ist selbstverständlich, daß eine Einführung in die Wahrung von Interessen sich nicht erschöpfen kann in der Frage „Wer bekommt was, wann, wie und warum?", sondern daß sie die Voraussetzungen friedlicher und freiheitlicher Kooperation mit einschließen muß. Rationale Wahrnehmung von Eigeninteressen und Achtung des Rechts der anderen, ihre Interessen ebenfalls im Rahmen der allgemeinverbindlichen Spielregeln zu verfolgen, ist kein Widerspruch.

Betonung von Interessen und Wirkungschancen bedeutet z. B.: Dem Prozeß der Willensbildung in Parteien, Verbänden, Parlamenten und Regierungen sollte mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden als der formalen Darstellung von Institutionen; die Kenntnis der Institutionen ergibt sich aus der Analyse des politischen Prozesses, während die formale Darstellung der Institutionen über den Willensbildungsund Entscheidungsprozeß unter Umständen gar nichts sagt. Die Frage „Wie ist das Hochschulgesetz zustande gekommen, welche Interessen haben sich dabei durchgesetzt, welche Kritik am Inhalt und am Verfahren ist von den verschiedenen Interessengruppen zu erwarten", ist sinnvoller als die Frage „Welche Aufgaben hat das Parlament?".

Die Frage nach den Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens ist wichtiger als die nach der historischen Entwicklung von Parteien; Wählerverhalten ist ohne den Rückgriff auf historische Daten nicht zu erklären, die Parteigeschichte fällt daher nicht fort, doch die historischen Daten müssen ergänzt werden durch die Hypothesen über die Wirkung von Primärgruppenkontakten und Massenmedien auf die Meinungsbildung des Wählers, über die Rolle des Wahlkampfes, über die Wirkung von Sachund Personalfragen. Ziel ist es, dem Wähler Daten und Fragestellungen zu vermitteln, die ihn sein eigenes Verhalten leichter durchschauen lassen und zugleich seine Resistenz gegenüber der Manipulation durch Agitation und Propaganda erhöhen.

Durch den Nachweis konkreter Einflußchancen wird der Kritik, das bestehende System sei ohne revolutionäre Gewalt nicht zu verändern, am wirkungsvollsten entgegengetreten. Ebenso wichtig ist aber die Schulung der Kritikfähigkeit an ideologieverdächtigen Rationalisierungen von eigenen und fremden Interessen. Die Wahrung eigener Interessen innerhalb der Grenzen rechtsstaatlicher Spielregeln ist legitim; die Behauptung, daß die eigenen Interessen identisch seien mit denen der Nation, ist ein weitverbreitetes Laster. Politische Bildung muß lehren, die konkreten Gruppeninteressen hinter den Ideen und Ideologie zu sehen. Aus der Geschichte der politischen Ideen, die in der bisherigen politischen Bildung manchmal zu großen Raum einnahm, sollten die Probleme ausgewählt werden, an denen der Zusammenhang von Interessen und Ideen am deutlichsten gezeigt werden kann. Auch müssen die psychologischen Prozesse, die zu politischen Vorurteilen führen, herausgearbeitet werden, so daß Selbstkritik möglich wird.

Lernen zu lehren ist auch in der politischen Bildung wichtiger geworden als die Vermittlung von Fakten, die von der historischen und wissenschaftlichen Entwicklung rasch überholt werden. Andererseits ist politisches Problembewußtsein nicht ohne die Kenntnis von Fakten möglich. Eine Lösung des Dilemmas kann nur erreicht werden, wenn der Bürger das wichtigste Handwerkszeug politischer Analyse kennenlernt. Wer die Fragestellungen und Methoden, mit denen politische Phänomene analysiert werden können, an einem konkreB ten Beispiel intensiver kennengelernt hat, wird imstande sein, die gleichen Fragestellungen und Methoden selbständig auf andere Beispiele anzuwenden. Das „exemplarische" Vorgehen, das als Folge der Überfülle des Stoffes unvermeidlich ist, sollte nicht verstanden werden als der Versuch, an einigen „typischen" Beispielen allgemeine Regeln darzustellen; das ist methodisch fragwürdig, weil dabei oft Unvergleichbares verglichen wird und die Basis für eine Verallgemeinerung höchst unsicher bleibt. Exemplarisches Vorgehen hat Sinn, wenn daran spezifische Fragestellungen und Denkmethoden, die auch auf andere Probleme anwendbar sind, geübt werden.

Diese Forderungen und Vorschläge zur Didaktik der politischen Bildung sind nicht neu; ähnliches ist seit Jahren zu hören gewesen. Nur scheint als Folge des Mangels an fachspezifisch ausgebildeten Lehrern die Umsetzung in die Praxis besonders lange zu dauern. Das trifft auch für die folgenden methodischen Forderungen zu, die angesichts der radikalen Bewegungen der Gegenwart verstärkt erhoben werden müssen.

Politische Sachverhalte müssen mehr als bisher problematisiert werden. Ziel muß es sein, kritisches Problembewußtsein zu fördern, und zwar nicht einseitig im neomarxistischen Sinne der Zurückführung jedes Phänomens auf Klassenkampf und Herrschaft des Kapitals, sondern durch Prüfung der Legitimation bestehender Institutionen und Normen an den Maßstäben der Leistungsfähigkeit und der Demokratisierung. Mit Problematisierung der Sachverhalte kann ein weiteres, beinahe noch wichtigeres Ziel angestrebt werden: Toleranz gegenüber der Meinung anderer und die Fähigkeit zu rationaler, sachlich begründeter Diskussion. Der Stoff sollte so dargeboten werden, daß mehrere begründete Meinungen gegenübergestellt und diskutiert werden können. Auf einer weiteren Stufe kann dann die Interessenbedingtheit jedes Standpunktes geprüft werden.

Toleranz wird überdies gefördert durch das Bemühen um Wissenschaftlichkeit im Sinne der intersubjektiven Überprüfbarkeit der Aussagen. Auch für die politische Wissenschaft gilt, daß Aussagen, die von anderen nicht nachgeprüft werden können, mit Wissenschaft nichts zu tun haben. Gewiß sind die Methoden der Nachprüfung in der Wissenschaftslogik umstritten; am Prinzip, daß Wissenschaftlichkeit einer politologischen Aussage nur dann vorliegt, wenn sie logisch oder empirisch nachprüfbar ist, wird dadurch nicht gerüttelt. Globale Interpretationen des Geschichtsprozesses wie der Marxismus sind nach diesem Kriterium keine wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern verwissenschaftliche Arbeitshypothesen, die als Anregung wissenschaftlicher Forschung höchst fruchtbar sein können, aber nicht als gesichert gelten.

Eine überaus schwierige Aufgabe der politischen Bildung ergibt sich aus der Tendenz vieler jüngerer Intellektueller, Wissenschaft als Religionsersatz zu benutzen und die Frage nach dem Sinn der Geschichte, nach dem Bewegungsgesetz der Gesellschaft wissenschaftlich beantworten zu wollen. Damit aber wird die Sozialwissenschaft überfordert. Ihr Anspruch ist viel bescheidener. In ihren Spitzenleistungen kann sie Theorien „mittlerer Reichweite", die an Zeit und Ort gebunden sind, entwickeln; die vorliegenden Versuche zu Globaltheorien bleiben Spekulation. Ein Beispiel dazu: Eine allgemeine Theorie des Wählerverhaltens, die imstande wäre, die Reaktionen des amerikanischen, deutschen, japanischen und indischen Wählers gleichermaßen zu erklären, ist nirgendwo in Sicht. Jeder Sachkenner weiß, welche unendlichen Schwierigkeiten schon der Vergleich des Wählerverhaltens in relativ vergleichbaren Systemen, wie dem der Bundesrepublik und Großbritanniens, bereitet. Man wäre schon froh, wenn man eine-befriedigende Theorie des Verhaltens der Bundesbürger bei gegebenem Parteiensystem hätte. Die gleiche Skepsis, die gegenüber den Ansprüchen marxistischer Theoretiker am Platze ist, sollte auch gegenüber manchen wissenschaftsgläubigen Technokraten geübt werden; denn auch Systemtheorie und Datenverarbeitung haben bisher die Sozialwissenschaft der allgemeinen Theorie nicht viel näher gebracht.

Politische Bildung wird daher mehr als bisher das Verständnis für die Grenzen sozialwissenschaftlicher Aussagen pflegen müssen. Generalisierende Aussagen, idealtypische Abstraktionen sollten nur mit äußerster Vorsicht benutzt werden. Wissenschaftlich arbeiten heißt zunächst einmal, skeptisch zu sein und Hypothesen an der Empirie zu testen. Eine politische Bildung, die vorwiegend an Fragen der Ideengeschichte orientiert wäre oder mit Querschnitten operierte, die die Jahrhunderte Überspannen, könnte einer vorschnellen Generalisierung leicht Vorschub leisten und die Anfälligkeit der Jugend für globale, in sich vielleicht konsistente, aber realitätsferne und ideologie-verdächtige Theorien fördern. Das vielleicht schwierigste Problem, das die radikale Demokratiekritik für die gesamte Gesellschaft aufgeworfen hat, ergibt sich aus der Erkenntnis, daß zur Integration einer pluralistisch-demokratischen Industriegesellschaft die Chance der materiellen Bedürfnisbefriedigung offenbar nicht genügt. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten ist nicht nur das Potential an Aggressivität, sondern auch das Potential an Idealismus unterschätzt worden. Jede Gesellschaft bedarf der Integration durch eine Idee, die über den gegenwärtigen Zustand hin-ausweist. Für eine ihrem Anspruch nach demokratische Gesellschaft kann diese Idee nur im Fortgang der Aufklärung, in der Verbesserung der Freiheits-und Gleichheitschancen bestehen. Der unentbehrliche Konsensus über die Strukturprinzipien der freiheitlichen Demokratie kann nur erreicht werden, wenn eine realistische, konkrete Utopie dem bestehenden Zustand entgegengesetzt wird und Möglichkeiten sichtbar sind, durch rechtsstaatlich-demokratisches Handeln diesem Ziel näher zu kommen. Die politische Bildung wäre aber falsch beraten, wollte sie den Entwurf der konkreten Utopie selber leisten. Sie soll die kritischen Fragen nach Form und Inhalt eines heute möglichen „guten Staates" stellen, doch sie kann der Politik nicht die Aufgabe abnehmen, das Gemeinwesen so zu gestalten, daß es ein besserer Staat wird. Der Konsensus über die Strukturprinzipien der freiheitlichen Demokratie muß sich aus der Zustimmung zu den Zielen ergeben, die sich das Gemeinwesen setzt; er ist durch idealistische Appelle der politischen Bildungsarbeit nicht zu erreichen. Der Erziehungseffekt der politischen Wirklichkeit ist viel größer als alle Bemühungen der politischen Bildung. Erziehung zu Frieden und Freiheit kann nur dann Erfolg haben, wenn auch die öffentliche Ordnung dem Frieden und dem Fortschritt in Freiheit dient.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Marshal McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964.

  2. Vgl. dazu Arthur M. Schlesinger, The Crisis of Confidence, New York 1969.

  3. So Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt 1968, S. 31.

  4. Agnoli, a. a. O., S. 63.

  5. Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 19683, und ders., der modernen Demokratie, in: Strukturanalyse Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/69.

  6. Ders., Strukturanalyse, a. a. O., S. 15.

  7. Hartmut von Hentig, Erziehung zum Frieden, in: Spielraum und Ernstfall, Stuttgart 1969.

  8. Hartmut von Hentig, a. a. O., S. 150.

  9. Alexander Mitscherlich, Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität, Frankfurt/M. 1969, S. 125 f.

  10. Heutig, a. a. O., S. 141.

  11. Wilhelm Hennis, Motive des Bürgersinns, in: Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 223.

  12. Leopold Schwarzschild, Die letzten Jahre von Hitler, Hamburg 1966, S. 38 f., bei Wilhelm Hennis, Die deutsche Unruhe, Hamburg 1969, S. 135.

  13. Thomas Ellwein, Politische Verhaltenslehre, Stuttgart 19686.

Weitere Inhalte

Dieter Grosser, Dr. rer. pol., o. Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Seminars für Politikwissenschaft an der Universität Münster, geboren 25. August 1929. Veröffentlichungen u. a.: Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, 1963; Politik im 20. Jahrhundert (zusammen mit Hartwich, Horn, Scheffler), 1964 u. 1968; Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie. Die Stellung der deutschen Parteien zum parlamentarischen Regierungssystem im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, 1969; Das britische Regierungssystem in der Bewährungsprobe, in: Der Staat, 1969/2; Konzentration ohne Kontrolle (Herausgeber), 1969.