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Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche. IV. Bethmann Hollwegs Kriegszielpolitik | APuZ 20/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20/1963 Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche. IV. Bethmann Hollwegs Kriegszielpolitik V. .. und die Septemberdenkschrift VI. Sonderfrieden mit Frankreich? VII. Eine Führungskrise VIII. Kronprinz Wilhelm, Tirpitz und der Kanzler Anhang. Nr 22 Nr. 23 Nr. 24 Nr. 25 Nr. 26 Nr. 27 Nr. 27 a Nr. 28 Nr. 29

Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche. IV. Bethmann Hollwegs Kriegszielpolitik

Egmont Zechlin

Um die Jahreswende 1914/15 stand die deutsche Führung vor neuen Entscheidungen. Reichskanzler und Generalstabschef betrachteten „die ganze Situation doch als sehr ernst und schwierig" Sie waren übereinstimmend zu der Einsicht gekommen, daß die Mittelmächte „keinen ihrer Gegner ganz Herr werden" könnten, daß deren militärische „Niederwerfung" „ausgeschlossen" sei Solange Rußland, Frankreich und England zusammenhielten, so lautete die Lagebeurteilung Falkenhayns am 18. November, „sei es uns unmöglich, unsere Gegner so zu besiegen, daß wir zu einem anständigen Frieden kämen. Wir würden vielmehr Gefahr laufen, uns langsam zu erschöpfen".

Inhalt

Unter dem Eindruck dieser Mitteilung der OHL mußte Bethmann Hollweg befürchten, daß der Krieg, wenn er nicht gar infolge von militärischen Rückschlägen eine „im gan-zen für uns ungünstige Wendung" nehme, sich zumindesten entscheidungslos hinziehen würde Und je länger er dauerte, desto mehr gewannen die Alliierten Zeit, ihr über die Erde verstreutes und mangelhaft organisiertes Übergewicht an Menschen und Material zum Einsatz zu bringen. Auch die in den Händen der Neutralen befindlichen Teile der Weltwirtschaft, des Seeverkehrs und des Nachrichtenwesens konnten sich so den Bedürfnissen der Kriegführung der Feindmächte anpassen. Mit fortschreitender Zeit mußte sich dann die Absperrung von den überseeischen Nahrungs-und Rohstoffquellen entscheidend

auswirken. Es wurde die große Sorge des Reichskanzlers, daß es erst zu Friedensverhandlungen kommen würde, wenn die Mittelmächte im Zustand der Erschöpfung gezwungen wären, die Bedingungen der Gegner anzunehmen

Das Kriegsziel der Selbstbehauptung So blieb den Mittelmächten nach Ansicht des Reichskanzlers „als Chance nur, daß der Krieg wegen allgemeiner gegenseitiger Erschöpfung ohne ausgesprochene militärische Niederlage der einen oder der anderen Partei aufhört“. „Das Ergebnis des Krieges würde sich dann für uns im Wesentlichen auf die aller Welt demonstrierte Tatsache reduzieren, daß selbst die größte feindliche Koalition uns nicht niederzwingen kann" Daß Bethmann Hollweg lediglich mit einem solchen Kriegsausgang der Selbstbehauptung des Reiches rechnete, wird noch dadurch bestätigt, daß er diese Erkenntnis des Räsonnements vom 19. November 1914 wiederholt auch in Ministerratssitzungen vorgetragen hat.

„Nach der gesamten militärischen Lage", so betonte Bethmann Hollweg als Preußischer Ministerpräsident in der Staatsministerialsitzung vom 28. November 1914 „müsse man annehmen, daß der Krieg noch lange dauern würde, und man müsse darauf gefaßt sein, daß vielleicht noch Rückschläge auftreten würden, wiedas ja von vornherein im Bereich der Möglichkeit gelegen hätte". „Daß wir Erfolge erreichen würden, welche uns gestatteten, über die Welt zu disponieren, glaube er nicht. Aber selbst wenn wir nur erreichen sollen vor der Welt zu konstatieren, daß uns selbst eine so ungeheure Koalition wie die jetzige nicht zu überwinden vermöge, so würde das einen Erfolg bedeuten, welcher die Gewähr für den späteren Frieden in sich trage." Dies bedeutete für den Kanzler den „endgültigen Sieg". Aber der müsse erst errungen werden, sagte er, bevor über Friedensbedingungen gesprochen werden könnte. Diese würden von dem Grade der militärischen Stärke abhängen. „Auch etwaige Einzelfriedensbeschlüsse müßten sich danach richten, wie die einzelne Macht bezwungen sei."

Es gehört zum Wesen solcher Aussagen, daß sie von der jeweiligen Vorstellung über die Machtverhältnisse beeinflußt werden. Das gilt sowohl für zu erstrebende Ziele wie auch für Verzicht und Resignation. Zudem sah sich der Kanzler jeweils veranlaßt, solche Erklärungen in die Sprache der Siegeszuversicht zu kleiden, selbst wenn das angewandte Vokabular nicht ganz dem Inhalt der Mitteilung entsprach. Die Gesamtlage könne als gut angesehen werden und berechtige zu der Hoffnung auf den endgültigen Sieg, sagte er den Ministern auch am 28. November 1914. Aber selbst in diesen Klang mischen sich Töne des Ausgleichfriedens. So, wenn er auch in dieser Sitzung die von den Deutschen besetzten Gebiete in Nordfrankreich und Belgien als ein „Faustpfand" bezeichnet, das, nach der Interpretation im Räsonnement „wir in den jetzt besetzten Umfang anzusetzen haben [wie] unsere Gegner das Faustpfand des größten Teiles vonGalizien und mehrerer unserer Kolonien"

So bietet sich denn hier eine Grundüberzeugung Bethmann Hollwegs dar, die unbeschadet situationsbedingter Modifikationen und taktischer Rücksichtnahme im auch weiteren Verlauf des Krieges zum Ausdruck kommt. „Wenn wir diese Übermacht bestehen und entwicklungsfähig herauskommen, so haben wir gewonnen", erklärte er am 30. Oktober 1916 im Bundesratsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten und ähnlich im Januar 1917 dem bayerischen Gesandten in Berlin, Graf Lerchenfeld: „Seine Ansicht sei nun einmal die, daß wir den Krieg schon gewonnen haben, wenn uns ein Friedensschluß gelingt, der es ermöglicht, die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands wiederaufzunehmen." Damit wird aus unmittelbarer politischer Arbeit bestätigt, was Bethmann Hollweg in einer Mischung von Rechtfertigungsbedürfnis und Mahnung seinem späteren Nachfolger Hertling im Januar 1918 schrieb: „Zu immer wiederholten Malen" habe er in seinen Gesprächen mit dem Kaiser „den Gedanken scharf vertreten, daß, da nun einmal, wie der Verlauf des Krieges von Anfang an gezeigt habe, eine völlige militärische Niederwerfung unserer Gegner ausgeschlossen sei, die siegreiche Abwehr unserer Feinde und die unversehrte Selbstbehauptung Deutschlands für uns den Gewinn des Krieges bedeute."

„Sicherungen", „Garantien" und der Frieden Wie aber ist unter diesen Umständen zu erklären, daß der Kanzler wiederholt — und zwar im internen Schriftverkehr wie auch in Reichstagsreden — die Forderung nach einem Frieden erhoben hat, der dem Deutschen Reich „Sicherungen" und „Garantien" und Entschädigung für die gebrachten Opfer bringen sollte? Die Formel findet sich zuerst, wie wir schon hörten, in einer Weisung, die der Reichskanzler am 12. September 1914 aus dem Hauptquartier für die Behandlung eines amerikanischen Vermittlungsangebotes an den in Berlin amtierenden Unterstaatssekretär gab: „Wir können nur Frieden annehmen, der wirklich Dauer verspricht und uns vor neuen Über-fällen unserer Feinde schützt. Wenn wir jetzt das amerikanische Vermittlungsangebot annehmen, würde uns dies von unseren Gegnern nur als Schwäche gedeutet und von unserem Volke nicht verstanden werden. Denn das Volk, das solche Opfer gebracht hat, verlangt Garantien für Sicherheit und Ruhe." Die gleiche Sprachregelung gab Bethmann, als Ende November das dänische Vermittlungsangebot benutzt werden sollte, um einen Weg für den Sonderfrieden mit Rußland zu bahnen: Deutschland, das einen Verteidigungskrieg führe, sei stets bereit, solche ihm zukommenden Friedensvorschläge zu prüfen, die ihm volle Entschädigung und Sicherung gegen erneuten Überfall durch drei Gegner gewährleisteten

Bei all diesen Äußerungen zur Kriegszielfrage lassen sich jedoch taktische Motive erkennen.

Die Sprachregelung für die Beantwortung des amerikanischen und des dänischen Vermittlungsangebotes hatte den — ja auch ausgesprochenen — Zweck, den Eindruck der Schwäche zu kompensieren, den eine Bereitschaft Deutschlands zum Frieden beim Gegner hervorrufen konnte. Und die Rücksicht auf die allgemeine Stimmung in Deutschland verrät seine Bemerkung im Räsonnement, daß der Ausgang des Krieges, wie er ihn erwarte, „zwar nicht ohne friedenswirkende und entwicklungsfördernde Folgen bleiben, zunächst aber dem Volke als durchaus ungenügender Lohn für so ungeheure Opfer erscheinen würde"

Was die Formel von den „Garantien und Sicherungen" für Bethmann Hollweg bedeutete, zeigen als ein instruktives Beispiel die Umstände, unter denen er am 7.

April 1915 darüber im Bundesratsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten sprach, wie auch Erläuterungen, die er dort und einige Tage später in einer Sitzung des Preußischen Staatsministeriums gegeben hat. Damals kursierten Gerüchte über Friedensabsichten der Reichsregierung. Es war die Rede von einem Separatfrieden mit Rußland, von einem Festhalten an der „Utopie eines anzubahnenden freundschaftlichen Verhältnisses mit Frankreich" und schließlich von der „Möglichkeit“ eines Friedensschlusses mit England Der Großherzog von Oldenburg war daraufhin in München gewesen, um den König von Bayern zu veranlassen, „sich an die Spitze der deutschen Fürsten zu stellen Und in ihrem Namen beim Kaiser vorstellig zu werden, daß es so nicht weitergehen könne" Der zu der Unterredung hinzugezogene Hertling empfahl stattdessen die Einberufung des Bundesratsausschusses, um sich zunächst dort Klarheit über die Politik des Reichskanzlers zu verschaffen Der bayerische Ministerpräsident konnte kaum wünschen, daß durch eine Aktion der Bundesfürsten, wie sie der als führender Annexionist bekannte Großherzog forderte, Bethmann Hollweg gezwungen würde, Männern wie Falkenhayn oder Tirpitz Platz zu machen

Wie Bethmann Hollweg den Vorstoß im Bundesratsausschuß pariert hat, kann als typisch für die Taktik angesehen werden, mit der er das Kriegszielproblem behandelte. In seiner Antwort an Hertling lehnte er dessen Vorschlag ab, „alle die Modalitäten zu erörtern, unter denen der Friede nicht geschlossen werden kann", fand sich aber zu einem allgemeinen Gedankenaustausch darüber be-reit, welche Friedensbedingungen anzustreben seien, falls die militärische Lage weiterhin so bleiben werde wie bisher. In der Sitzung vom 7. April verstand es der Kanzler dann, den Annexionisten mit einem ihnen geläufigen Vokabular entgegenzutreten, ohne auf seine Grundkonzeption zu verzichten. Wie im Räsonnement vom 19. November nannte er es ein Glück, wenn der Frieden so geschlossen werden würde, daß die Welt sehe, Deutschland sei auch der stärksten Koalition nicht erlegen. Doch fügte er nunmehr den Wunsch nach Kriegsentschädigungen hinzu — so sprach er von einem deutschen Kolonialreich in Zentralafrika — und den nach „strategischer Sicherheit", d. h. nach „Grenzverbesserungen" im Osten und im Nordwesten. Damit war die belgische Frage angeschnitten, in den Augen des Reichskanzlers „ein schauderhaftes Problem", bei dem man unter allen Lösungen nur nach der suchen könne, die noch am wenigsten schlecht sei Weil durch den aber militärisch notwendigen Einmarsch der Deutschen und den blutigen Widerstand der Belgier zukünftig mit einem von Haß erfüllten Nachbarn zu rechnen sei — führte Bethmann Hollweg am 7. April aus — bedürfe Deutschland hier eines ebenso starken Schutzes wie gegenüber den feindlichen Großmächten. Doch an eine Annexion der flandrischen Küste sei nicht zu denken, sagte er einige Tage später in einer Sitzung des Preußischen Staatsministeriums Das würde eine Bedrohung Englands sein und den Zündstoff für den nächsten Krieg bringen. Daß er sich dabei auf ein Urteil Ludendorffs berief, wonach der Besitz von Lüttich als Sicherung ausreichend sein würde, wirkt vor dem Hintergrund seiner späteren Auseinandersetzung mit der dritten OHL geradezu paradox. Auch ließ der Kanzler durchblicken, daß Deutschland genötigt sein könnte, auf Grenzberichtigungen überhaupt zu verzichten. Es sei nutzlos, sich auf bestimmte Forderungen festzulegen, „weil er nicht wisse, ob er sie durchsetzen könne" wie es denn „in diesem uns aufgezwungenen Krieg" darum ginge, „die Stellung, die wir uns in der Welt errungen haben, zu verteidigen. So erklärte er: „Es handelt sich nicht darum, daß wir den Krieg führten, um ein neues Ziel, das wir nur durch Krieg erreichen konnten, zu erlangen. Ein solches Ziel hatten wir nicht, und es wird auch durch den Krieg nicht geschaffen.“

Diese Worte wiegen um so schwerer, als sie, wenn auch vielfach verklausuliert und relativiert, keineswegs dem entsprachen, was die Zuhörer verlangten. Und sie erweisen sich als um so ernster als Bethmann Hollweg auch in der Auseinandersetzung mit der dritten OHL die Kontinuität seiner Haltung und Taktik erkennen läßt. Eine angebliche Äußerung von ihm, daß Deutschland das Erzbecken von Briey-Longwy vielleicht nicht behalten könne, nahmen Hindenburg/Ludendorff zum Anlaß, um in einem Schreiben des Feldmarschalls an den Reichskanzler vom 31. Dez. 1916 „Zweifel an Euere Exellenz grundsätzlicher Stellungnahme" zu äußern und um Mitteilung der „territorialen Mindesforderungen" zu bitten, die selbst auf die Möglichkeit der Kriegsverlängerung hin durchgesetzt werden sollten Worauf der Kanzler auf diesen Versuch, ihn festzulegen, in seiner Antwort am 4. Januar 1917 erklärte, daß „Politik immer die Kunst des Erreichbaren bleiben" werde. So vermöge er nicht die Verantwortung zu übernehmen, den Erwerb von Briey-Longwy — so wichtig er auch in seinen Augen sei — „als eine conditio sine qua non für den Friedensschluß ohne Einschränkung zu proklamieren", wenn etwa „die Absprengung Frankreichs von der Koalition oder überhaupt der ganze Friedensschluß von der Frage abhängig sein würde" Mit einer ähnlichen Argumentation lehnte er es auch ab, „an strategischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen" eine Verständigung mit Rußland scheitern zu lassen Er werde versuchen, die erwünschten Grenzregulierungen durchzusetzen, wenn dies aber nicht gelinge, „sich au! das absolut Notwendige zurückziehen, um damit den Frieden zu erlangen" „Das Wünschenswerte muß dem Notwendigen weichen"

So erklärte er auch 1917 der OHL wiederholt als „vornehmlichste Aufgabe" der deutschen Politik, im Laufe von Verhandlungen „alle diejenigen Elemente auszunutzen, die eine Spaltung der Koalition herbeiführen können, die uns jetzt gegenübersteht" und nannte als das zentrale Thema seiner Kriegszielpolitik, „die jetzige Koalition unserer Gegner zu sprengen und einen oder mehrere derselben für die Zukunft auf unsere Seite zu bringen"

Das Kriegsziel eines neuen Staatensystems Ungeachtet der taktischen Bedingungen, unter denen die Äußerungen Bethmann Hollwegs zur Kriegszielfrage zu verstehen sind, bedeutete doch auch der Kampf um die Selbstbehauptung des Reiches für ihn, daß er eine Umgestaltung und Neuordnung der Machtverhältnisse im Staatensystem erstrebte. Auch ohne daß er ein Programm konkreter Kriegsziele gehabt hätte, war es das Wunschbild dieses Reichskanzlers vom Kriegsausbruch bis zu seinem Rücktritt, daß Deutschland aus diesem Krieg in einer Position hervorginge, in der es gesichert gegen künftige Angriffe und Übergriffe sei und politisch und wirtschaftlich mehr Bewegungsfreiheit habe. Auch Bethmann Hollweg stand unter dem unmittelbaren Eindruck des politischen Erlebnisses seiner Generation und zudem der Erfahrungen seiner Außenpolitik, die der Kriegsausbruch nun so drastisch bestätigt hatte: daß die Deutschen in ihrer kontinentalen Mittellage, und nunmehr noch tatsächlich vom Weltmeer abgeschnitten, auf Verbesserung ihrer politischen Lebensbedingungen angewiesen seien. Noch im Rückblick seiner Memoiren berief er sich darauf, daß die Nation 1914 zu den Waffen geeilt sei „nicht nur, um die Heimat vor Zerstörung zu bewahren, sondern auch in der Hoffnung, die Schranken niederlegen zu können, mit denen feindliche Mißgunst und Neid ihre friedliche Entwicklung einzuengen bestrebt gewesen waren."

Aber die zu erkämpfende politisch-wirtschaftliche Position und etwa eine „verstärkte strategische Sicherheit" brauchen nicht unbedingt durch eine territoriale Machterweiterung geschaffen zu werden. Nicht an zu engen Grenzen habe Deutschland gekrankt, sondern dar-an, „daß es dauernd von einer überlegenen Koalition bedroht wurde." Von diesem Alp und dem des damit drohenden Krieges befreit, könne es „seine Stärke auch innerhalb unveränderter Grenzen ausleben" und es wird durch die oben angeführten Zeugnisse bestätigt, wenn er berichtet, daß er dem Kaiser in der Abschiedsaudienz nach seiner Entlassung im Juli 1917 geraten habe — und dieser das auch als seine eigene Auffassung bezeichnete —, „etwaige Friedensmöglichkeiten auch nicht für angeblich notwendige, bei fortschreitender Kriegstechnik aber leicht trügerische strategische Sicherungen preiszugeben."

Es liegt im Wesen des Krieges, daß er den Kriegführenden die Gelegenheit bietet, durch Einsatz des militärischen Machtinstruments das zu gewinnen, was allein mit Mitteln der Diplomatie nicht zu erreichen war. Für die Ententemächte hieß das einmal nachzuholen, was ihnen die Staatskunst Bismarcks 1866/71 verwehrt hatte. Es galt jetzt die Machtverschiebung einer „deutschen Revolution" zu revidieren, wie Disraeli im Februar 1871 in einer Unterhausrede die deutsche Nationalstaatsgründung genannt hat, die ein größeres politisches Ereignis sei als im vorhergehenden Jahrhundert die Französische Revolution. Zudem brachte der Krieg jedem Partner die Chance, ein besonderes Ziel der nationalen Geschichte zu gewinnen: für die Franzosen Elsaß-Lothringen, für die Russen Konstantinopel und die Meerengen und die Zertrümmerung des Habsburger Staates, für die Engländer schließlich die Gelegenheit, unter dem Schlagwort der „Zerstörung des preußischen Militarismus" die maritime Herausforderung durch den deutschen Schlachtflottenbau zu beseitigen. Wenn die englische Politik auf dem Wiener Kongreß dafür gesorgt hatte, daß der preußischen Armee die Wacht am Rhein anvertraut wurde, so erforderte es nunmehr das Gesetz der „balance of power" einen Machtzuwachs Deutschlands zu verhindern.

Auch den Deutschen brachte der Appell zu den Waffen ein positives Kriegsziel. Auch ihnen stellte die Geschichte eine Aufgabe, die sie im Frieden nicht bewältigt hatten. Es galt, eine Lage zu überwinden, wie sie Bismarck in einer Reichstagsrede vom Juni 1882 charakterisiert hat: „daß Millionen Bajonette ihre polare Richtung doch im ganzen in der Hauptsache nach dem Zentrum Europa haben, daß wir im Zentrum stehen und schon infolge un-serer geographischen Lage, außerdem infolge der ganzen europäischen Geschichte den Koalitionen anderer Mächte vorzugsweise ausgesetzt sind." Bismarck war es 1866 gelungen, die Bildung einer „Kaunitzschen" — d. h. in Erinnerung an den Siebenjährigen Krieg österreichisch-französisch-russischen — Koalition zu verhindern. Und dann hatte er verstanden, mit Hilfe des in Berlin zentrieiten Bündnissystems, durch den regulierenden Einsatz des deutschen Machtgewichtes und in Ausnutzung der internationalen Spannungen die Mächte von Koalitionen gegen Deutschland abzuhalten Auch seinen nächsten Nachfolgern gaben die Rivalitäten Frankreichs und Eng-lands sowie Englands und Rußlands in Ubersee noch Spielraum für eine Politik der „freien Hand". Mit den Ententen von 1904 und 1907 waren diese weltpolitischen Gegensätze beglichen.

Die Partner bekamen damit Kräfte frei, um sich den historischen und aktuellen Konflikten in Europa zuzuwenden. Das führte nun aber dazu, daß sie sich zum konzentrischen Druck auf das Deutsche Reich zusammenfanden. Das nicht mehr von der kolonialen Auseinandersetzung mit England abgelenkte Frankreich konnte sich der elsaß-lothringischen Frage und das von der Gefahr eines russischen Vormarsches nach Indien befreite England der deutschen Flottenfrage widmen, und für Rußland ging der Weg nach Konstantinopel über Berlin. Gegenstöße, mit denen die deutsche Politik die gefährliche Umgruppierung in der Staatenwelt aufzuhalten und Pressionsmethoden, mit denen sie das Ententensystem aufzulockern versuchte, hat-ten die Wirkung, daß dieses sich mehr und mehr verfestigte und noch mehr seine Spitze gegen die Mittelmächte richtete. Die reagierten dann mit militärischen Rüstungen, so mit der deutschen Flottenpolitik, bis schließlich ihre verfehlte Politik in der Julikrise eine Kettenreaktion von Bündnishilfen der Entente-partner auslöste, die sich ebensowenig gegenseitig verlieren wollten wie Deutschland den österreichisch-ungarischen Bundesgenossen.

So war der Versuch der deutschen Staatsführung, die feindliche Koalition durch einen Sonderfrieden mit einer der Flügelmächte zu sprengen, nicht nur ein unmittelbar militärisches Anliegen. Er hatte nicht nur den Zweck, eine Front zu entlasten und den Rücken frei zu bekommen, um an anderen Fronten stärker auftreten zu können: Dieser Politik lag vielmehr der tiefere Gedanke zu Grunde, damit die „Einkreisung" zu beseitigen, die nach der Ansicht des Kanzlers zu den entscheidenden Ursachen des Krieges gehörte, und wenn sie erhalten bliebe, den Keim eines neuen Krieges mit wiederum ungünstiger Ausgangslage für Deutschland erhielt. Die Kriegszielpolitik Bethmann Hollwegs mit dem Bemühen, die feindliche Front durch Verständigung mit einem der Gegner aufzulösen, war auf eine Umgruppierung in der Staatenwelt gerichtet und auf eine Neuordnung der Machtverhältnisse, die der deutschen Politik wieder eine freiere Bewegung ermöglichte, wie sie sie vor der Bildung der französisch-russischen Militärallianz, der entente cordiale und der englisch-russischen Verständigung gehabt hatte. Seine Hauptaufgabe, erklärte Bethmann Hollweg in der Konferenz mit den Vertretern der Industrie am 8. Dezember 1914 nach der Aufzeichnung Stresemanns sei es, „die Coalition der drei Großmächte für die Zukunft unmöglich zu machen". Das nannte er an erster Stelle vor der zweiten, „nur einen Frieden zu schließen, der uns mindestens 50 Jahre Ruhe gibt", und der dritten, „den Versuch zu machen, endlich die Jahrhunderte alten Streitigkeiten zwischen Frankreich und uns zu beseitigen". Diese außenpolitische Konzeption erklärt auch, daß Bethmann Hollweg sich von den annexionistischen Plänen der Industrie distanzierte. Schrieb er schon im Räsonnement vom 19. November, daß bei einem Frieden mit den drei Feindmächten — selbst bei Zusammenwirken der günstigsten Faktoren — „die Herren Stinnes und Genossen dabei nicht auf ihre Rechnung kommen", so sagte er den Vertretern der Verbände am 8. Dezember in aller Deutlichkeit: Nachdem Frankreich die Wunde von 1870 „wohl verwunden" habe, würde es von neuem zu verstümmeln, nichts anders heißen als „die unnatürliche Coalition, der wir uns jetzt gegenüber befänden, zu verewigen." 39) „Am liebsten möchte er überhaupt keinen Quadratmeter fremdsprachigen Gebietes haben", stellte Stresemann in seiner Aufzeichnung fest, und, wenn der Generalstab aus militärischen Gründen dies verlange, es mit einem Tauschangebot (gegen das nördliche Belgien) „weniger verletzend für Frankreich" machen. Aber der Generalstab stellte gar keine Gebietsforderungen. Militärische und politische Führung stimmten damals überein, daß es die Aufgabe der deutschen Politik sei, im Westen wie im Osten einen Verständigungsfrieden zu erlangen. Darum hatte Falkenhayn in der Besprechung vom 18. November die Zustimmung der OHL angekündigt, „Frankreich einen ehrenvollen Frieden zu bewilligen" und dabei ausdrücklich erklärt, „auch von Frankreich verlange er kein Land" — weder den Vogesenabhang noch „das Vorland von Metz (bassin de Briey)" —, nur auf der Schleifung der Festung Beifort müsse er bestehen. Dabei hatte der Generalstabschef von „seiner festen Überzeugung" gesprochen, daß eine Verständigung mit Frankreich gelingen würde, und davon, daß er es „für eine Notwendigkeit halte, daß wir uns nach dem Frieden mit Frankreich ins Einvernehmen setzten" 40).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aufz Tirpitz über Unterredung mit Falkenhayn am 15 Nov 1914, Tirpitz, Deutsche Ohnmachtspolitik im Weltkriege (1926), S 168, ebenso Brief Tirpitz'an Capelle, 16 Nov. 1914, a a. O., S 168f., sowie Tgb Tirpitz vom 15 Nov über diese Bespr. in Tirpitz, Erinnerungen (1919), S. 427 Im übrigen s. das oben mitgeteilte Schreiben Bethmann Hollwegs an Unterstaatssekretär Zimmermann vom 19 Nov. 1914, in; Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche, 1. Folge, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 284— 286 (künftig zitiert als Räsonnement vom 19. Nov. 1914).

  2. Räsonnement v. 19. Nov. 1914, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 284 ff. auch zum folgenden.

  3. Räsonnement v. 19. Nov. 1914, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 285.

  4. Karl Helfferich, Der Weltkrieg (1920), einbändige Ausgabe. S. 302.

  5. Räsonnement v. 19. Nov. 1914, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 285.

  6. Protokoll der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums vom 28. Nov. 1914. Uber diese Protokolle während des Ersten Weltkrieges berichte ich im Zusammenhang an anderer Stelle.

  7. Korrektur von der Hand Bethmann Hollwegs an Stelle von: „aber wenn wir auch nur erreichten".

  8. Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 285.

  9. Das Protokoll fährt fort: „aus dem uns die Gegner nicht heraustreiben würden". Korrektur von der Hand Bethmann Hollwegs.

  10. Aufz.des Unterstaatssekretärs Wahnschaffe. Sitzung vom 30/31 Okt 1916 bei Wolfgang Steglich, Bündnissicherung oder Verständigungsfrieden? Untersuchungen zu dem Friedensangebot der Mittelmächte v. 12. Dez. 1916 (1958), S. 80 und S. 204.

  11. Lerchenfeld an Hertling, 11. Jan. 1917, Karl-Heinz Janßen, Macht und Verblendung, Kriegszielpolitik der deutschen Bundesstaaten 1914— 1918 (1963), S. 257 Anm. 418, nach GStA/Mü, VII, 51.

  12. Bethmann Hollweg an Reichskanzler Hertling, Brief, 26. Jan. 1918, abgedr. Pari. Unters. -Ausschuß, 4. Reihe, Bd. 2 (1925), S. 142 ff.

  13. Bethmann Hollweg an Ausw. Amt, Tel. Nr. 40, 12 Sep. 1914, AA, Wk geh., Gr. Hq., Friedensschlüsse, vgl. Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 272.

  14. Bethmann Hollweg an Ausw Amt. Tel. Nr 117, 24. Nov. 1914, AA, Wk 2 geh., abgedr. Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61. S 286.

  15. Räsonnement v. 19 Nov 1914, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S 285.

  16. So Hertling an Bethmann Hollweg, Brief, 28 März 1915, GStA/Mü VII. 53 Diesen Brief und die weiter unten angeführten Schriftstücke aus dem Staatsarchiv München stellte mir Karl Heinz Jan ßen in Abschriften ganz oder in Auszügen freundlichst zur Verfügung

  17. Die Hintergründe hat kürzlich Karl-Heinz Jan ßen, a a O, S 44 f autgedeckt Die folgende Dar Stellung stützt sich daneben vor allem auf den Bericht Hertlings in seinem Brief an den bayerischen Gesandten in Berlin, Graf Lerchenfeld, vom 29

  18. Sein Gedankengang war dabei der, wie er an Lerchenfeld am 29 März 1915 schrieb: „Geht der Reichskanzler auf die Einberufung nicht ein, so kann man überlegen ob dann der Moment für das Eintreten der Deutschen Fürsten gekommen ist, und das gleiche gilt wenn der Ausschuß einberufen wird, die dort gegebenen Aufklärungen aber als unbefriedigend angesehen werden müssen" So verlangte er in seinem Schreiben an den Reichskanzler vom 28 März 1915 Klarheit, „unter welchen Bedingungen ein Friede nicht geschlossen werden kann" Zugleich wies er darauf hin, daß Ludwig III nach wie vor der Meinung sei, „daß durchgehalten werden muß, bis ein dauernder und ehrenvoller Frieden gesichert ist, und daß bei den ungeheuren Opfern an Gut und Blut, welche gebracht wurden, es nicht genügen kann, zu dem Status guo ante zurückzukehren"

  19. Falkenhayn und Tirpitz waren damals als Kandidaten für das Amt des Reichskanzlers schon soweit im Gespräch, daß sich Bethmann Hollweg am 1 April 1915 veranlaßt sah. Lerchenfeld zu erklären, er werde diesen Männern seinen Platz nicht freiwillig räumen Vgl den Bericht Lerchenfelds an Hertling, 3 April 1915, GStA/Mü VII, 50, nach Janßen, a a O . S 45

  20. Bethmann Hollweg an Hertling, 1 April 1915, GStA/Mü VII, 53

  21. über diese Sitzungen bringt Zusammenfassungen Ernst Deuerlein, Der Bundesratsausschuß für die Auswärtigen Angelegenheiten 1870— 1918 (1955) Die — von Deuerlein vorgenommenen — Zusammenfassungen, — so die über die Sitzung vom 7 April (S. 189 f.), die zudem nicht sämtliche Berichte erfaßte —, zeigen jedoch, daß der Forscher nicht der Kenntnis und vergleichenden Interpretation der einzelnen Berichte, also der des bayerischen, württembergiscben, sächsischen usw Gesandten entbehren kann, soweit sie erreichbar sind

  22. Bethmann Hollweg an Weizsäcker, Brief, 10 Nov 1914, Privatnachlaß Weizsäcker, zit. bei Janßen, a. a. O., S. 237, Anni. 121.

  23. Protokoll der Sitzung des Preuß Staatsministeriums vom 10 April 1915, s o. Anm 6 Vielleicht hat die Abwesenheit Tirpitz'auf dieser Sitzung mit zu der Offenheit des Kanzlers beigetragen.

  24. Protokoll der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums vom 10. April 1915

  25. Aufz. Lerchenfeld über die Bundesratssitzung vom 7 April 1915, „Politischer Schriftwechsel der Gesandtschaft Berlin", GStA/Mü.

  26. Hindenburg an Bethmann Hollweg, Brief, 31. Dez. 1916, pr am 4. Jan. 1917, AA, Wk 15 geh. Das Schreiben trägt — wie üblich — in der Ausfertigung am Schluß der letzten Seite die Paraphe Ludendorffs Bereits abgedr. in Stenographische Berichte über die öffentlichen Verhandlungen des 15. Unters. -Ausschusses der Verfassunggebenden Nationalversammlung nebst Beilagen, Bd. 2 (1920), Beil. 1, S. 117.

  27. Bethmann Hollweg an Hindenburg, Brief, 4. Jan. 1917, AA, Wk 15 geh Entwurf Zimmermanns mit Korrekturen von der Hand Bethmann Hollwegs, bereits abgedr. in: Sten. Ber Bd. 2 (1920), Beilage 1, S. 117 f.

  28. Bundesratssitzung vom 8. Mai 1917, Aufz. Varnbüler Bei Lerchenfeld lautet der Passus. „Wenn dies (der Friedensschluß) nur gelingen sollte unter Ausschließung jeder Gebietserwerbung, so dürfen wir an solchen nur bedingt wünschenswerten Erwerbungen den Frieden nicht scheitern lassen" Angaben bei Janßen, a. a. O., S 126 u. 262, Anm. 476

  29. Bundesratssitzung vom 8. Mai 1917, Antwort des Reichskanzlers auf die Forderung des mecklenburgischen Ministers Langfeld nach einer gesicherten Ostgrenze laut Aufz. Varnbülers nach Janßen, a. a. O., S 261, Anm. 475.

  30. Bundesratssitzung vom 8. Mai 1917, Aufz Varnbüler nach Janßen, a. a. O., S. 262, Anm. 476.

  31. Bethmann Hollweg an Hindenburg, Brief, 4. Jan. 1917, AA, Wk 15 geh.

  32. Bethmann Hollweg an Hindenburg, Brief, 16. April 1917, AA, Wk 15 geh Hiermit beantwortete Bethmann Hollweg einen Brief Hindenburgs vom 5. April 1917 (AA, Wk 15 geh.), in dem dieser unverzügliche kommissarische Besprechungen zur Festlegung von „Mindestforderungen" und „Ausgangsforderungen" für die erwarteten Friedensverhandlungen verlangte.

  33. Th. v. Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, Teil 2, (1921), S. 4.

  34. Th. v Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, Teil 2, (1921), S. 17

  35. Th. v. Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, Teil 2 (1921), S. 19.

  36. Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 12. S. 378.

  37. So im „Kissinger Diktat" (1877), in: Große Politik, Bd. 2, S 154..

  38. Aufz Stresemann über Konferenz beim Reichskanzler am 8. Dez. 1914, abgedr. in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/61, S. 336, vgl. auch Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 283, Anm. 106 und 107. 2. Teil abgedr. als Anlage Nr. 38.

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Egmont Zechlin, Dr. phil., geb. 27. Juni 1896, o. Universitätsprofessor, Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg, Direktor des Historischen Seminars, Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Rundfunk und Fernsehen.