Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Neuvermessung der Weltwirtschaft | Europäische Wirtschaftspolitik | bpb.de

Europäische Wirtschaftspolitik Globale Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine Die ukrainische Wirtschaft und ihre Zerstörung Debatte: Wie die Ukraine wiederaufbauen? Die Ukraine als neoliberales Musterland? Ein moderner, nachhaltiger und inklusiver Wiederaufbau Angriff auf Europas Werte Ökonomische Perspektiven des EU-Beitritts der Ukraine Europa wird gebraucht Russland: Was können die EU-Sanktionen bewirken? Russland auf dem Weg in die Kriegswirtschaft Reaktion der BRICS auf den Ukraine-Krieg Wie der Krieg den globalen Süden trifft Die Neuvermessung der Weltwirtschaft Herausforderungen der Europäischen Wirtschaft Wie Europa von russischer Energie abhängig wurde Wie sieht die künftige Energieversorgung Europas aus? Was bedeutet der Green Deal für Europa? Macht der Green Deal Europa nachhaltiger und wettbewerbsfähiger? Nicht nur Chancen, sondern auch Risiken Jetzt erst recht Deutschlands und Europas Abhängigkeit von China Neue Gesetze für Europas "Digitale Dekade" Brexit: Für Großbritannien härter als für die EU Ist der Brexit Fluch oder Segen für Europa? Der ausgleichende Faktor wird fehlen Ein hoffentlich heilsamer Warnschuss Debatten zur Währungsunion Warum steigen Preise – und was kann man dagegen tun? Kann die EZB die Inflation eindämmen? Im Prinzip ja – aber es wird ihr nicht gelingen 2024 wird sich die Geldentwertung normalisieren Führt die Modern Monetary Theory in die Überschuldung? Das Ende der großen MMT-Illusion Staatsschulden sollten Staatsausgaben nicht begrenzen Braucht die Europäische Zentralbank ein neues Mandat? 20 Jahre Euro – eine Erfolgsgeschichte? Erfolgreicher Euro, aber eine Geldpolitik mit Schwächen Die EZB ist endgültig zum politischen Akteur geworden Versprechen erfüllt, aber mit Konstruktionsfehlern Eine durchwachsene Bilanz Ein gemeinsames Finanzministerium für die Eurozone? Es ist nicht die Zeit für einen Magier Das Ende des europäischen Dilemmas Soll der Euro auf alle Länder der EU ausgeweitet werden? Der Euro schafft größeren Wohlstand Ohne klare Richtung keine neuen Mitglieder Wann kommt die Zinswende in Europa? Es gibt kein Menschenrecht auf Zinsen Ein Lamento, das in die Irre führt Ist die Bankenunion ein Erfolg? Eine gute Idee – eigentlich Nur bedingt einsatzbereit Sparen oder Investieren? Ginge es Europa ohne den Euro besser? Es ist nicht der Euro, es ist der Binnenmarkt Eine Währungsunion ist einem System flexibler Wechselkurse überlegen Sollten unterschiedlich starke Volkswirtschaften eine Währungsgemeinschaft bilden? Ökonomische Zwänge und politische Illusionen der Währungsunion Auch die D-Mark galt von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern Ist das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank sinnvoll? Die Konstruktion der Währungsunion fördert Panikattacken Die EZB handelt gegen die Interessen der Bürger Kann eine Vermögensabgabe helfen, die Überschuldung von Staaten zu lindern? Nur eine Staatsinsolvenz ist moralisch vertretbar Die Politik muss es nur wollen Droht der Eurozone die Gefahr einer Deflation? Schon "Lowflation" ist problematisch Eine negative Inflationsrate ist noch lange keine Deflation Ist die Euro-Krise schon vorbei? Noch ist kein Normalzustand erreicht Falsche Medizin, falsche Symptome Corona-Krise in Europas Wirtschaft Haben die Corona-Soforthilfen gewirkt? Die Corona-Hilfen waren situationsgerecht Unterstützung mit geringer Wirkung Europas neue Wege aus der Krise Europäische Solidarität aus der Not heraus Stürzt Corona Europa in eine neue "Große Depression"? Bedeutet Corona das Ende der Globalisierung? Weiterhin kein Exit der EZB Videos: 4x4 Fragen zur Corona-Krise Wie hat sich die EU in der Corona-Krise bis jetzt geschlagen? Wie wird sich die Pandemie auf Europas Wirtschaft auswirken? Sollte man die Krise nutzen, um die EU klimagerechter umzubauen? Gefährden die Rettungsmaßnahmen die Geldwertstabilität? Zur Lage der Krisenländer in der Eurozone (2014-2017) Kann sich Frankreich von der Krise erholen? Yes, he can Frankreichs europäische Aufgabe Vor der Generalüberholung Frankreich als Zivilisationsthermometer Wird Italien wieder auf die Beine kommen? Der Fall Italien(s) Volk der letzten Minute Je südlicher, desto schlimmer Solider als viele denken Gingen die Reformen in Griechenland zu weit? Ohne Strukturreformen ist alles nichts Der Aderlass hat Griechenland geschadet Was hat Portugal der Sparkurs gebracht? Die Leiden des lusitanischen Musterschülers Sparen unvermeidbar Zeigen Spanien, Irland und Portugal, dass die angebotsorientierte Politik sich auszahlt? Es schmerzt, aber die Reformen wirken Crash-Kurs mit jeder Menge Kollateralschäden Ist Spanien über den Berg? Von Gesundung kann keine Rede sein Rückkehr zum Normalzustand Hat die Sparpolitik Irland aus der Krise geholfen? Via Dolorosa ohne Alternative Die Generation der stillen Verzweiflung Hat die Politik der Troika Griechenland genutzt? Die Schrumpfpolitik ist gescheitert Griechenland hat alle Möglichkeiten Zur Rolle Deutschlands in der Schuldenkrise (2014) Ist Deutschland ein Modell für Europa? Die Mär vom gesunden Staat Marktkonform und doch sozial gerecht Hat Deutschlands Bilanzüberschuss die Krise beschleunigt? Die Eurokrise ist eine Zahlungsbilanzkrise Europa braucht Deutschland, Deutschland braucht Europa Bedrohen unterschiedliche Lohnkosten die Stabilität der Eurozone? Löhne und Produktivität müssen sich gleich entwickeln Konsum und Löhne in Deutschland müssen anziehen Videos: 6x6 Fragen zur Euro-Krise (2015) Hat die Eurozone in ihrer derzeitigen Form eine Zukunft? Sparen oder Investieren - wie sollte die Schuldenkrise überwunden werden? Wie kann Deutschland dazu beitragen, die Euro-Krise zu beenden? Handelt die EZB ohne demokratische Legitimation? In welchen Ländern lauern neue Gefahren für den Euro? Wie kann die Eurozone künftig Krisen besser vermeiden? Didaktische Materialien Einleitung: Ziele und Aufbau der didaktischen Materialien Ökonomische Theorien und gesamtwirtschaftliche Krisen Neoklassik und Keynesianismus Neoklassische Interpretation Keynesianische Interpretation Makroökonomische Grundlagen Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Sparen und Investieren I: Geschlossene Volkswirtschaft Sparen und Investieren II: Offene Volkswirtschaft Staatliche Haushaltsdefizite Staatsverschuldung und private Vermögen Außenbeitrag und Leistungsbilanzsaldo Löhne als Kostenfaktor und als Nachfragequelle Die Inflationssteuerung durch die Geldpolitik Geld- und Fiskalpolitik in einer Währungsunion Didaktische Anwendungen Nominales und reales BIP BIP Sparen und Investieren Ersparnis, Investitionen und Finanzierungssalden Staatsdefizit Staatsverschuldung Beispiel Spanien Löhne und Lohnstückkosten Geldpolitik und Inflation Arbeitsblätter Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) Sparen oder Investieren? Angebotsorientierte Politik Griechenland Spanien Italien Frankreich Deutschland Lohnkosten Deflation Anleihekaufprogramm Vermögensabgabe Interaktive Grafiken zur Europäischen Wirtschaftspolitik Infografiken zur Europäischen Schuldenkrise Glossar Redaktion

Die Neuvermessung der Weltwirtschaft Essay

Robert Kappel

/ 12 Minuten zu lesen

Der Ukraine-Krieg befeuert den Fall der liberalen Nachkriegsordnung. Wenn der Westen mit China und den Schwellenländern kooperiert, könnte eine wahrhaft regelbasierte Weltwirtschaftsordnung entstehen.

Die Zukunft der Weltwirtschaft wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, welchem der geoökonomischen Blöcke es gelingen wird, sich an die Spitze des technologischen Fortschritts zu setzen. (© picture-alliance/dpa, Karl-Josef Hildenbrand)

In der ganzen Welt werden die Bruchlinien tiefer. Dies zeigte bereits die Corona-Pandemie, und das wurde in den vergangenen Jahren nochmals deutlicher an der ausbleibenden Bekämpfung der Klimakrise, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und jüngst auch am Terror der Hamas gegen Israel. In der Folge dieser Großkrisen verschärfen sich die politischen und wirtschaftlichen Konflikte zwischen den USA, Europa und China. Der Abstieg des Westens ist in aller Munde, ebenso wie der Aufstieg des globalen Südens und der BRICS. Dies hat mit drei großen und seit längerem wirkenden Tendenzen zu tun: der Verschiebung der wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse, dem technologisch-ökonomischen Wandel und der geopolitischen Blockbildung.

Eine Welt – drei Pole

China, Indien und weitere Schwellenländer steigen auf und werden zu führenden Nationen. Dies zeigt sich auch an deren Wirtschaftswachstum, das deutlich höher als das der bisher führenden Kernregionen USA und Europa ist. Es wird auch an deren gewachsener Interner Link: hard und soft power, an der Fähigkeit zur Bereitstellung strategischer Güter und ihrer teilweisen technologischen Führerschaft, an der chinesischen Währung als Referenzwährung für manche Länder und auch an der Setzung technischer Normen deutlich. Die Steuerungskraft dieser Länder hat sich auch durch die Gründung des BRICS-Clubs (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und dessen Interner Link: Erweiterung zu BRICS-Plus (Iran, Saudi-Arabien, Ägypten, Vereinigte Arabische Emirate (VAE), Ägypten und Äthiopien) erhöht, und nicht zuletzt auch durch die enge Kooperation mit dem sogenannten globalen Süden.

Für viele Länder des globalen Südens erscheint die Kooperation mit dem BRICS-Club sinnvoller, da die meisten Mitgliedsländer höheres Wirtschaftswachstum und Investitionen im globalen Süden als der Westen verzeichnen und viele Länder vom Westen wegen der nicht eintretenden Versprechungen des neoliberalen Modells – verbunden mit dem meist ausbleibendem Entwicklungsschub – sich enttäuscht abwenden. Daher laufen die EU und die Vereinigten Staaten Gefahr, ihre Führungsrolle einzubüßen, und zwar nicht nur technologisch und wirtschaftlich, sondern auch politisch und militärisch. In den USA und der EU werden diese Gefahren debattiert und über Strategien gegen den drohenden Abstieg beraten.

Es wird viel über eine multipolare Welt gesprochen, faktisch handelt es sich jedoch um drei große Machtzentren (USA, EU und China mit den BRICS), die um die ökonomische und politische Vormacht kämpfen. Die oben genannten multiplen Krisen verdeutlichen, wie zerrissen die Weltwirtschaft inzwischen ist und wie wirtschaftliche und politische Machtkonflikte zwischen den drei Kernzentren bei gleichzeitigem Agieren zahlreicher Schwellenländer, die oft eine regionale Gestaltungsmacht ausüben (wie etwa die Türkei, Saudi-Arabien, Äthiopien oder Iran), Gefahr laufen, globale Konflikte hervorzurufen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine verdeutlicht dies besonders, sind doch hier alle großen Akteure involviert.

Die große Divergenz

Die moderne Globalisierung zeichnet sich durch den rasanten internationalen Austausch von Geld, Waren und Dienstleistungen aus, der durch eine schnelle Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglicht wird. Diese neuen Technologien prägen die geografische Aufteilung der einzelnen Produktionsschritte, so zum Beispiel in der Chip- oder Automobilindustrie. Transportrevolutionen reduzieren die räumlichen Trennungen etwa durch die Containerisierung des Seeverkehrs. Firmen können dadurch die internationalen Produktivitäts- und Lohnunterschiede nutzen. Ehemals isolierte und damit auch geschützte Regionen werden in den Weltmarkt integriert, sie sind aber zugleich verschärfter globaler Konkurrenz ausgesetzt.

Die Liberalisierung des Handelsregimes nach Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) leitete die Explosion des Welthandels ein. Vor allem seit den 1970er Jahren wurden die heutigen reichen Nationen noch reicher, in ihnen konzentrierten sich Produktion und Einkommen. Die Niedrigeinkommensländer entwickelten sich langsamer als die fortgeschrittenen Länder. Die Folge war ein historisch beispielloser Unterschied zwischen den Pro-Kopf-Einkommen im globalen Norden und Süden – die große Divergenz der Weltgesellschaft.

Nur wenige Länder waren in den letzten Jahrzehnten in der Lage, diesen Abstand nennenswert zu verringern, so etwa China, Vietnam, Kolumbien, die Türkei, Malaysia und Indien. Doch den meisten Ländern des globalen Südens gelang dies bisher nicht, und das nicht zuletzt auch wegen der technologischen Führerschaft der G20-Länder. In der Globalisierung profitieren die reichen Länder, die globalen Wirtschaftskerne, die US-amerikanischen, europäischen, japanischen, koreanischen und chinesischen multinationalen Konzerne - die "Superstars" der Weltwirtschaft, die ihre Marktmacht nutzen können, während die armen Länder wenig profitieren, weil sie a) Rohstoffexporteure sind und/oder b) weil sie in den globalen Wertschöpfungsketten nur geringe Profite realisieren und c) im technologischen Wettbewerb hintanstehen.

Machtverschiebungen

Die Neuvermessung der Weltwirtschaft manifestiert sich an den großen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und an der überragenden Bedeutung großer Handelsblöcke für eine integrierte Weltwirtschaft, wozu die TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft) zwischen den USA und der EU, CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) mit den Mitgliedsländern Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam), NAFTA (USA, Kanada, Mexiko) oder RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) mit Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam sowie Australien, China, Japan, Neuseeland und Südkorea gehören. Hier geht es im Wesentlichen um Ausweitung des intra-industriellen Handels.

Handelspolitische Auseinandersetzungen haben zugenommen – vor allem zwischen den drei Großblöcken USA, EU und China. Diese vollziehen sich durch Vergeltungsmaßnahmen, also durch höhere Einfuhrzölle oder andere Einfuhrbeschränkungen. Die gegenwärtigen Handelspraktiken werden gegenseitig als unfair angesehen, sie bergen die Gefahr von Handelskriegen und De-Globalisierung in sich.

Doch die rein wirtschaftliche Betrachtung kann die gegenwärtigen globalen Spannungen nur unzureichend erklären. Bei den Handelsstreitigkeiten zwischen den USA, der EU und China stehen nicht nur Absatzmärkte und Lieferketten im Mittelpunkt, sondern vor allem die globale Technologieführerschaft: also die Fähigkeit, in zentralen Bereichen wie dem Energietransfer, den Halbleitertechnologien und der IT-Software globale Normen und Standards zu setzen, von denen alle Nutzer dieser Technologien abhängig sind.

Die internationalen Beziehungen sind heute mehr denn je zu einer geopolitischen Angelegenheit geworden. Dabei geht es auch um die militärische Vormacht, denn technologische Überlegenheit und die Fähigkeit zur Normsetzung bilden die Grundlage für wirtschaftliche und militärische Stärke. Führende Unternehmen und Nationalstaaten setzen Agenden der „kreativen Zerstörung“ durch Forschung und Innovation ein, um im weltweiten Technologiewettbewerb an der Spitze zu stehen. Volkswirtschaften, die sich in der Defensive befinden, konzentrieren sich angesichts der Machtverschiebungen und des zunehmenden Wettbewerbs verstärkt auf protektionistische Maßnahmen. Viele Länder bleiben dennoch im globalen Wettbewerb marginalisiert, weil sie technologisch und ökonomisch nicht mithalten können. Die entstandene geoökonomische Fragmentierung gefährdet die multilaterale Zusammenarbeit zur Bereitstellung globaler öffentlicher Güter, also etwa den Kampf gegen den Klimawandel, den Schutz der Ozeane und eine stabile weltweite Sicherheitsordnung.

Krisen und Umbrüche

Corona war ein exogener Schock mit globalen Auswirkungen. Die globalen Lieferketten wurden unterbrochen und die globale Arbeitsteilung erwies sich als fragil. Dies wurde noch deutlicher mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der die globale Lage grundlegend verändert hat. Die Folgen wurden nicht nur sichtbar in der europäischen Nachbarschaft, sondern wirkten auch global. So gerieten zahlreiche Länder, die von Nahrungsmittelimporten aus Russland und der Ukraine abhängig waren, in Versorgungskrisen. Interner Link: Betroffen waren unter anderem zahlreiche Länder auf dem afrikanischen Kontinent, vor allem Ägypten, Algerien und Äthiopien. Der Krieg zog auch Rohstoff- und Energiekrisen nach sich, führte zu Preisexplosionen für Gas und Öl.

Russland versuchte in Reaktion auf die Sanktionen und Abschneidung vom Westen, einerseits die BRICS-Länder auf seine Seite zu ziehen – was teilweise gelang – und zugleich neue Achsen zu schmieden oder zu vertiefen, so etwa mit den autoritären Regimen von Nordkorea, Venezuela und vor allem Iran. Ein besonderes Augenmerk legte Putin auf die Zusammenarbeit mit Indien, das deutlich mehr Energie und Rohstoffe aus Russland bezog. Indien jedoch lässt sich nicht auf eine enge Kooperation ein, sondern verfolgt eine eigene Aufstiegsstrategie und will ebenfalls mit den USA und den europäischen Ländern zusammenzuarbeiten. Durch die wirtschaftliche Verschiebung in Folge des Krieges ist Russland ist nun stärker denn je von China abhängig und ein nachgeordneter Player in der antiwestlichen Allianz – unter der Führung Pekings.

Die multiplen Krisen verdeutlichen, wie sehr die Fundamente der liberalen Nachkriegsordnung der Welt geschwächt worden sind. Doch handelt es sich um eine seit längerem beobachtbare allmähliche Verschiebung der Macht. China und Indien mit dem BRICS-Club nehmen größeren Einfluss. Er geriert sich immer deutlicher als Exponent einer nicht-liberalen Weltordnung, der Unterstützung in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern erfährt, während die Westmächte zögern. In der Abstimmung in den Vereinten Nationen (UN) zur Verletzung der Souveränität der Ukraine durch Russland kam dies deutlich zum Ausdruck. Eine Vielzahl von Ländern stimmte nicht mehr mit dem Westen. Und auch wirtschaftlich versprechen sich immer weniger Länder etwas vom Westen. Doch zugleich kann China die Vereinigten Staaten kaum als Hegemon ablösen, denn China und die BRICS-Plus-Länder verfügen nicht über die erforderliche Bindekraft – dazu fehlen die erforderlichen Ressourcen von hard, soft und smart power. So entsteht eine fragile Ordnung der sich gegenseitig blockierenden drei Kernzentren.

Die Zukunft des liberalen Systems

Angesichts der fragilen Unordnung versuchen die führenden Länder und Blöcke, allen voran die USA, China und die BRICS-Plus-Länder, Japan und Europa, über Nearshoring oder Friendshoring ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Schwachstellen zu verringern. Nearshoring bedeutet die verstärkte Kooperation in geografischer Nähe (zum Beispiel der EU mit Osteuropa oder der USA mit Kanada und Mexiko). Die Politik des Friendshoring verfolgt die Intensivierung der Beziehungen von befreundeten Staaten. Die demokratischen Länder vertiefen ihre Kooperation mit anderen demokratischen Ländern, also etwa der EU mit Australien, Japan und Südkorea. Zugleich intensivieren auch die BRICS-Plus-Länder ihre Verbindungen untereinander, so zum beispielsweise China mit Iran und Saudi-Arabien, oder Indien mit Südafrika.

Um den wirtschaftlichen Protektionismus Chinas einzuhegen und einen Vorsprung gegenüber Europas Transformationsplänen zu erlangen, hat die US-Regierung mit ihrer Industriepolitik und nationalen Sicherheitsstrategien agiert, so mit den Buy American-Bestimmungen des Inflation Reduction Act und dem CHIPS and Science Act, der US-Investitionen in die Halbleiterherstellung in China verbietet. Auf diese Interventionen haben die EU, China und zahlreiche Schwellenländer wiederum mit Gegenmaßnahmen reagiert, um ihre Industrien zu schützen. Solche Maßnahmen verstärken die die Gefahr globaler wirtschaftlicher Abwärtsspiralen. Die verfolgten Strategien vertiefen wirtschaftliche Spaltungen und laufen dem Geist der multilateralen Grundsätze zuwider.

Trotz der globalen Fragmentierung und der Konflikte zwischen den drei Zentren EU, USA und China mit den BRICS könnten sich Möglichkeiten für Entspannung abzeichnen. Die USA und China halten es für nützlicher, die tiefsitzenden Spannungen abzubauen. Das Treffen von Xi Jinping und Joe Biden anlässlich des Gipfels der APEC-Länder (Asia-Pacific Economic Cooperation) im November 2023 in San Francisco verdeutlichte, dass die beiden Präsidenten ein Interesse an wirtschaftlicher Stabilität und der Berechenbarkeit der Beziehungen haben. Während China die Handels- und Investitionsaktivitäten mit den USA ankurbeln will, verfolgt die US-Regierung die Wiederaufnahme der militärischen Kommunikation und Maßnahmen zum Klimawandel. In Arbeit sollen auch Leitplanken beider Regierungen sein, die den Rahmen des Wettstreits und «rote Linien» definieren. Beide Seiten scheinen zu wissen, dass Zusammenarbeit der beiden wichtigsten Länder der Welt unabdingbar ist, um die drängenden globalen Herausforderungen anzugehen und auch um eine Wirtschaftsordnung der gleichberechtigten Beziehungen zu ringen, als sich gegenseitig in eine Spirale von Aufrüstung, Handelskriegen und regionalen Kriegen zu begeben.

Von den drei Machtzentren hängt im Wesentlichen ab, ob weitere Verwerfungen drohen oder ob die gravierenden Probleme der Weltgesellschaft gemeinsam bewältigt werden: die Schaffung einer stabilen globalen Sicherheitsordnung und eines inklusiven Weltwirtschaftssystems sowie der Kampf gegen die Klima-, Armuts- und Beschäftigungskrisen.

Das liberale Modell des Westens steht unter Strom und ist herausgefordert, intern ein auf Inklusion ausgerichtetes Gesellschaftsmodell zu verfolgen und extern die Idee einer regelbasierten Ordnung nicht aufzugeben. Dafür bedarf es allerdings einer neuen Strategie. Die Zukunft des liberalen Systems hängt davon ab, ob es gelingt, drei wesentliche Fragen zu beantworten:

  • Erstens: Kann der Westen eine fortschrittliche politische Ausrichtung verfolgen und Abschied vom neoliberalen Modell nehmen, das die globale Ungleichheit hervorgebracht hat? Es geht um einen globalen new deal der inklusiv ist und den sozialen Schutz und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt.

  • Zweitens: Kann der liberale Westen mit seinen Verbündeten die liberale Weltordnung reformieren, damit sie wieder mehr Anziehungskraft entwickeln kann, Ungleichheiten beseitigt und ein verlässliches multilaterales System von gleichberechtigten Staaten entwickelt? Falls dies dem Westen gelingt, könnte die drohende Dominanz des autokratischen Modells unter der Führung des BRICS-Clubs abgewendet werden. Falls nicht, verliert der Westen einen Teil seiner internationalen Gestaltungsmacht.

  • Drittens: Kann der Westen auf die Länder des globalen Südens zugehen, um mit ihnen gemeinsam die Grundpfeiler für eine neue Weltordnung mit gleichberechtigter Repräsentation zu erarbeiten? Um dies zu erreichen, ist die Handlungsfähigkeit des Westens ebenso gefordert wie die des globalen Südens, um die Fragmentierung der Weltgesellschaft zu reduzieren.

Wenn es dem Westen gelingt, seine Attraktivität und Ausstrahlung zu erneuern und durch die gerade skizzierten Maßnahmen auszuweiten und Kooperationspartner für eine liberale Moderne und eine regelbasierte Weltordnung gewinnen, kann es auch möglich sein, auf neuer Basis mit den Ländern des globalen Südens zusammenzuarbeiten. Voraussetzung dafür ist ein eine westliche Strategie der zivilen Weltgesellschaft. Die gegenwärtige Krise zeigt, wie notwendig es nicht nur ist, die sich globalisierende Ökonomie mit zivilisierenden Regeln einzuhegen und zu mehr Inklusivität beizutragen, sondern auch die Macht autoritärer Staaten einzuhegen und auf demokratisch legitimierbare Ziele einer Weltgesellschaft hin zu kanalisieren. Transnational agierende Netzwerke können Mitgestalter einer zivilen wirtschaftlichen und politischen Weltordnung werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert Kappel, The Challenge to Europe: Regional Powers and the Shifting of the Global Order, in: Intereconomics 5/2011, S. 275-286.

  2. Vgl. Johannes Plagemann und Henrik Maihack, Wir sind nicht alle. Der globale Süden und die Ignoranz des Westens, München 2023.

  3. Vgl. hierzu Henry Farrell/Abraham Newman (2023), The New Economic Security State. How De-risking Will Remake Geopolitics, in: Foreign Affairs 6/2023, S. 106-122.

  4. Auch wenn die BRICS-Länder gemeinsam gegen die westlich dominierte Weltordnung agieren und insofern einen Pol bilden, stellt die Gruppe keine Einheit dar. Die Länder haben unterschiedliche ideologische Vorstellungen, sie kooperieren unterschiedlich stark mit den USA und der EU, sie verfolgen unterschiedlichen Agenden in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten und Asien, sie haben ungleiche wirtschaftliche Bedeutung und sie nehmen in Sicherheits- und Friedensfragen unterschiedliche Positionen ein, was sich auch am Krieg Russlands gegen die Ukraine und im Krieg der Hamas gegen Israel zeigt. China und Indien sind sogar miteinander im Konflikt in der Kaschmirfrage. Die BRICS-Plus-Länder verfügen nur über eine eingeschränkte kollektive Führungskraft. Dies wird besonders deutlich an den Vorstellungen zur Reform des internationalen Finanzsystems und der Weltwirtschaftsordnung, der Reform der UN, sowie den Maßnahmen zur Behebung der Klimakrise. Vgl. Malte Brosig, The Role of BRICS in Large-Scale Armed Conflict Building a Multi-Polar World Order, London 2019; Oliver Stuenkel, BRICS Faces a Reckoning, 23. Juni 2023, Externer Link: foreignpolicy.com/2023/06/22/brics-summit-brazil-russia-india-china-south-africa-putin-nonalignment-global-south.

  5. Vgl. Kenneth Pomeranz, The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton 2000.

  6. Vgl. Richard Baldwin, The Great Convergence. Information Technology and the New Globalization, Cambridge, MA und London 2016.

  7. Vgl. David Autor et al., The Fall of the Labor Share and the Rise of Superstar Firms, in: Quarterly Journal of Economics 2/2020, S. 645-709.

  8. Vgl. Pol Antràs, De-Globalisation? Global Value Chains in the Post-COVID-19 Age, NBER Working Paper No. 28115, 16. November 2020, Externer Link: www.nber.org/papers/w28115.

  9. Vgl. Cora Jungbluth/Thieß Petersen, How the Global War Can Change the Global Economy, 22. März 2022, Externer Link: globaleurope.eu/globalization/how-the-ukraine-war-can-change-the-global-economy.

  10. Vgl. Philippe Aghion et al., The Power of Creative Destruction, Cambridge, MA 2021 sowie Daron Acemoglu/Simon Johnson, Power and Progress, London 2023.

  11. Vgl. Robert Kappel, Russia and Africa: the Invasion of Ukraine Leads to the Next Major Crisis, in: Strategic Review for Southern Africa, 1/2022, S. 25-36.

  12. Vgl. Sandra Destradi, Reluctance in World Politics, Bristol 2023.

  13. Vgl. Maria-Grazia Attinasi, Friend-shoring Global Value Chains, in: ECB Economic Bulletin 2/2023, S. 59-66, Externer Link: www.ecb.europa.eu/pub/pdf/ecbu/eb202302.en.pdf.

  14. G. John Ikenberry, The End of Liberal International Order?, in: International Affairs 1/2018, S. 7-23; Kristalina Georgieva, The Price of Fragmentation. Why the Global Economy Isn’t Ready for the Shocks Ahead, in: Foreign Affairs 5/2023 sowie Stefan Mair, Warum Multipolarität richtig ist, in: Internationale Politik 6/2023, S. 82-89.

  15. Vgl. Cord Jakobeit et al., Transnationale Akteure und Normbildungsnetzwerke, Baden-Baden 2018.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Robert Kappel für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Prof. Dr. em. Robert Kappel, Institut für Afrikastudien der Universität Leipzig, war von 2004 bis 2011 Professor an der Universität Hamburg und Präsident des German Institute of Global and Area Studies (GIGA). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die sozioökonomische Entwicklung in der Globalisierung und die Politik und Wirtschaft in Afrika.