Im Hintergrund der wissenschaftlichen Debatten um eine Flexibilisierung der Altersgrenzen stehen Vorstellungen von einer generellen Destandardisierung des Lebenslaufs: Die These in der aktuellen wissenschaftlichen Debatte ist, dass sich der früher gängige Dreischritt einer Jugendphase mit Erziehung und (Aus-)Bildung, einer Erwerbs- (bzw. Familien-)phase und einer Alters- bzw. Ruhestandsphase auflöst. Durch die höhere Lebenserwartung entstehe eine neue dritte Phase des "aktiven Alters", das eigentliche höhere, eher passive Alter beginne als vierte Phase erst deutlich später. Die lineare Erwerbstätigkeit (früher idealtypisch lebenslang bei einem Unternehmen) werde durch häufigere Wechsel – auch Berufswechsel –, durch atypische Arbeitsverhältnisse etc. immer mehr destandardisiert.
Patchwork-Biografien (wie Patchwork-Familien) würden künftig zur Normalität. Dadurch würden z. B. auch Erwerbsunterbrechungen in Phasen der Kinderbetreuung bzw. Pflege oder Sabbaticals etwa im Sinne eines lebenslangen Lernens möglich, ja nötig. Flexible Altersgrenzen könnten in diesem Sinne dazu beitragen, die bisher gängige "Entberuflichung" des Alters zu überwinden.
Allerdings führt eine solche Entwicklung auch zu Gefahren: Wenn z. B. die Forderung nach einer freien Wahl des Renteneintrittsalters ohne Hinzuverdienstgrenzen für über 60-Jährige erhoben wird (soweit bereits Rentenansprüche in Höhe des Grundsicherungsniveaus erworben wurden), so könnte dies zu einer Art Kombi-Lohn-Effekt führen. Arbeitgeber könnten und würden ihre älteren Beschäftigten drängen, früh in Rente zu gehen und zu schlechteren Konditionen dennoch weiterzuarbeiten. Könnte es nicht auch sein, um ein vergleichbares Beispiel anzuführen, dass die geringe Verbreitung der Teilrenten daran liegt, dass Beschäftigte angesichts der inzwischen weit verbreiteten unbezahlten Überstunden fürchten, ihr effektiver Stundenlohn würde in einer solchen Konstellation noch niedriger ausfallen?
Der Hinweis im Demografiebericht der Bundesregierung (vgl. Kasten) ist jedenfalls zu beachten, dass die "Grenzen des Alters" mit bedacht werden müssen, die vor allem darin bestehen, dass nicht alle Älteren bis ins höhere Alter fit und voll leistungsfähig sind.
Ziele der Politik für ältere Menschen
Die gewonnenen Jahre sind eine große Chance für die ältere Generation und die Gesellschaft insgesamt. Diese Chance gilt es zu nutzen und ältere Menschen zu ermutigen und zu unterstützen, sich mit ihren Kompetenzen einzubringen.
Dazu sind Altersbilder erforderlich, die die Gestaltungspotenziale des Alters sichtbar machen. Gleichzeitig dürfen aber auch die Grenzen des Alters nicht aus dem Blick verloren werden. Hilfe und Unterstützung sollten angeboten werden, wo es erforderlich ist.
Bundesministerium des Inneren (2011), S. 67.
Zu bedenken ist dabei, dass es bei Renten nicht um Hilfen und Unterstützung im Sinne von Bedürftigkeit, sondern um durch Beiträge erworbene Eigentumsrechte geht. Dies setzt Grenzen für die Einschnitte in die Alterssicherung und für die inzwischen modern gewordene Inpflichtnahme der Älteren, gleichgültig ob durch ein längeres Arbeiten oder durch Überlegungen bis hin zu einem "Sozialen Pflichtjahr" für die "aktiven Alten".
Ein risikoreicher Paradigmenwechsel – "Aktives Altern"
In einer kollektiv alternden Gesellschaft muss es konsensual getragenes Ziel sein, die Beteiligung der Älteren selbst an der Sicherung des kleinen und großen Generationenvertrages einzufordern. Es gilt, das überkommene Versorgungsparadigma zugunsten eines Aufforderungs- wenn nicht sogar Verpflichtungsparadigmas zu überwinden. Alternde Gesellschaften zwingen zu einer neuen Verantwortungsübernahme durch die Älteren selbst.
Das darf aber nicht – so wie es speziell neoliberale Altenpolitikkonzepte im Umfeld des bewusst falsch interpretierten "aktiven Alterns" meinen – zu einer Rücknahme sozialstaatlicher Verantwortung und zu einer Finanzierungsverlagerung zu Lasten der Älteren selbst führen.
Quelle: Naegele (2011), S. 96.
Einige Schlussfolgerungen
Früher (im Defizitmodell) wurde Alter vor allem mit einem quasi automatischen Leistungsabbau und daraus folgendem Verlust an Produktivität assoziiert. In der Folge wurden Ältere von den Betrieben möglichst schon vor dem Rentenalter ausgegliedert. Ältere sahen sich auch selbst häufiger so und strebten einen vorzeitigen Renteneintritt an. Gerade auch angesichts der deutlich gestiegenen durchschnittlichen Lebenserwartung häuften sich in den 90'er-Jahren wissenschaftliche Studien, die sich vom Defizitmodell abkehrten. Es wurde im "Kompetenzmodell" gezeigt, dass die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit nicht automatisch, zumindest nicht schon bis zum gängigen Rentenalter abnehmen muss, sondern stark von den Arbeitsbedingungen und Verhaltensweisen der Beschäftigten abhängt.
Diese Unterschiede und die sich dabei durch die gesamten Erwerbsbiografien ziehenden Ungleichheiten gilt es, wie es auch die Kommission zum Sechsten Altenbericht herausgearbeitet hat, (vgl. Kasten) zu berücksichtigen und eben nicht, wie es in der Politik zu leicht geschieht, nur pauschal allen Älteren eine längere Arbeitsfähigkeit zu unterstellen.
Das Alter reproduziert soziale Ungleichheit
Im Hinblick auf soziale Ungleichheiten ist die Empfehlung der Sechsten Altenberichtskommission bedeutsam, das "Alter" nicht als einen Lebensabschnitt zu verstehen, in dem sich die Menschen – losgelöst von vorangehenden Lebensverläufen – nur aufgrund ihres gleichen Alters in einer ähnlichen Lebenslage befinden. Ein solches Bild vom Alter wäre unangemessen.
Vielmehr plädiert die Sechste Altenberichtskommission dafür, unterschiedliche Lebenssituationen im höheren Lebensalter im Zusammenhang mit dem individuellen Lebensverlauf zu sehen. Damit ist die Botschaft verbunden, dass das Alter die Menschen nicht gleichmacht, sondern dass die individuelle Lebenssituation im Alter in hohem Maße von der gesamten biografischen Entwicklung abhängt. Möglichkeiten und Grenzen im höheren Lebensalter werden durch im Lebenslauf erfahrene Möglichkeiten und Grenzen vorstrukturiert.
Aus dem Sechsten Altenbericht lässt sich deshalb die Empfehlung ableiten, Benachteiligungen über alle Lebensphasen hinweg zu bekämpfen und auf diese Weise das Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Armut in der Gruppe der älteren Menschen möglichst gering zu halten.
Quelle: Deutscher Bundestag (2011), S. 82.
In diesem Sinne scheint die Frage nach Prioritäten legitim. Ist es wichtiger, mehr Flexibilität bei den Altersgrenzen aus dem Motiv einer größeren Wahlfreiheit für den (bessergestellten) Einzelnen heraus anzustreben, oder wäre es nicht wichtiger, vorrangig an die Bedürfnisse derer zu denken, die die entsprechenden Optionen gar nicht haben? Eine Sozialversicherung muss sich gerade auch hier darum bemühen, durch entsprechende Regeln sozialen Ausgleich zu schaffen.