Ein Beispiel für die "Empfehlungspolitik" der EU ist das Weißbuch der Kommission zu "angemessenen, sicheren und nachhaltigen Pensionen und Renten", das 2012 vorgelegt worden ist und das die Diskussion vor allem um die Anhebung der Altersgrenzen wie auch um die Ausweitung der privaten und betrieblichen, jeweils kapitalfundierten Altersvorsorge befeuert hat. Dieses Weißbuch umfasst u. a. z. B. folgende Vorschläge (vgl. Kasten):
QuellentextVorschläge aus dem Weißbuch 2012
"Die Sozialpartner sollen ermutigt werden, private Zusatz-Vorsorgesysteme zu entwickeln, und die Mitgliedstaaten, ihre steuerlichen und anderen Anreize zu optimieren, um so das Angebot derartiger Systeme auszubauen.
Die Richtlinie zu Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (IORP) soll überarbeitet und die Konsumentinnen und Konsumenten sollen besser informiert werden, um die Sicherheit von Zusatz-Vorsorgesystemen zu erhöhen.
Die Zusatz-Altersvorsorge muss mit Mobilität vereinbar gemacht werden, und zwar durch Rechtsvorschriften, die die Ruhestandsansprüche mobiler Arbeitskräfte schützen, und durch die Förderung der EU-weiten Einrichtung von Pensions- und Rentenaufzeichungsdiensten;
Die Mitgliedstaaten sollen ermutigt werden, eine längere Lebensarbeitszeit zu fördern, indem sie das Ruhestandsalter an die Lebenserwartung koppeln, den Zugang zum vorzeitigen Ruhestand einschränken und die Renten- bzw. Pensionsschere zwischen Frauen und Männern schließen.
Die Angemessenheit, langfristige Finanzierbarkeit und Sicherheit der Renten und Pensionen soll weiterhin einem Monitoring unterzogen und die Renten- und Pensionsreformen in den Mitgliedstaaten unterstützt werden."
Quelle: European Commission (Direktion Beschäftigung, Soziales, Integration) 2012.
QuellentextAltersvorsorge bleibt eine nationale Zuständigkeit
"Altersvorsorge bleibt eine nationale Zuständigkeit, aber es wird zunehmend ein gemeinsames Anliegen in der Europäischen Union. (…) Rentenreformen sind entscheidend für den Erfolg der Strategie Europa 2020 für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum und auch für die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen im Rahmen der verstärkten europäischen Wirtschaftsregierung."
Quelle: Jacob (2013), S. 9 f.
Die Empfehlung zur Heraufsetzung des Regelaltersgrenze in den Rentensystemen − und zwar in automatischer Ankopplung an die Entwicklung der Lebenserwartung − findet sich mittlerweile durchgängig in den EU-Dokumenten. Diese Orientierung ist in den Mitgliedsländern auf Zustimmung, aber auch auf deutliche Kritik gestoßen. Herbert Rische, vormaliger Präsident der Deutschen Rentenversicherung, schreibt dazu:
QuellentextHerbert Rische zum Einfluss der EU auf die Deutsche Rentenversicherung
"Die Anhebung des Rentenalters wäre dann nicht mehr das Ergebnis eines konkreten politischen Willensbildungsprozesses, sondern würde wie ein Mechanismus funktionieren. Die Politik hat sich jedoch laufend mit neuen Entwicklungen, wie zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt, zu befassen und muss entsprechend reagieren.
Durch eine vorgegebene automatische Anpassung könnte den Besonderheiten der Alterssicherung und der jeweiligen demografischen und ökonomischen Entwicklung in den Mitgliedsstaaten sicherlich nur unzureichend Rechnung getragen werden.
Darüber hinaus würde auch in die ureigene Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Ausgestaltung ihrer Alterssicherungssysteme eingegriffen. (...) Eine Art 'Europaformel' für die automatische Berechnung des Renteneintrittsalters kann es meiner Ansicht nach daher nicht geben."
Quelle: Rische (2013), S. 17 f. (bis Juni 2014 Präsident der deutschen Rentenversicherung)
Und Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstandes, stellt fest:
QuellentextKonsens in der Ablehnung des EU-Vorschlages
"Konkret wird von der Kommission vorgeschlagen, dass die Mitgliedsstaaten das Rentenalter in dem Maß erhöhen sollen, in dem auch die Lebenserwartung der Menschen steigt. (…)
Ich habe den Eindruck, dass alle relevanten politischen Akteure in Deutschland die Idee einer solchen Bindung des Rentenalters an die Entwicklung der Lebenserwartung ablehnen, und das ist gut so."
Quelle: Buntenbach (2013), S. 2 (Mitglied des DGB-Bundesvorstandes).
Von Bedeutung ist auch, dass die Kommission in ihrer Orientierung auf einen gemeinsamen Markt durchgängig einen Ausbau der kapitalgedeckten privaten und betrieblichen Altersvorsorgesysteme anmahnt – unabhängig von den Verwerfungen auf den Kapitalmärkten und der anhaltenden Niedrigzinsphase, die die Hoffnungen auf hohe Renditen der Kapitalanlagen nachhaltig gedämpft haben.
Insgesamt definiert die Kommission die Sozialpolitik als "Investitionspolitik". Das "Social Investment Package" von 2013 soll die Mitgliedstaaten anhalten, verstärkt auf soziale Investitionen zu setzen, Effizienz und Effektivität der Sozialsysteme zu optimieren und deren Finanzierung zu modernisieren. Charakteristikum der vorgeschlagenen investiven Maßnahmen ist deren präventive Orientierung; soziale Probleme und Risikolagen im gesamten Lebensverlauf sollen frühzeitig erkannt und bekämpft werden anstatt einen bereits eingetretenen Schaden im Nachhinein zu reparieren.
Diese Strategie − so unumstritten sinnvoll sie ist − passt jedoch nicht auf den Bereich der Alterssicherung. Das gilt erst recht für die Empfehlung, die Inanspruchnahme bestimmter Sozialleistungen an Verhaltens- und Aktivitätsbedingungen zu knüpfen, um die finanziellen Mittel so wirksam und effizient einzusetzen. Denn bei der Rentenversicherung geht es um die Einlösung von Rechtsansprüchen.
Auch die Orientierung der Kommission auf den Ausbau des Sozialschutzes in schwierigen Lebensphasen − gemeint ist hier die Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung – ist unbestritten sinnvoll. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass dabei die umfassenden Aufgaben und Zielsetzungen der Alterssicherung übersehen oder an den Rand gedrängt werden. Diese besteht, so zumindest der bisherige Konsens in Deutschland, nicht nur in dem Minimalziel der Armutsvermeidung, sondern auch der Lebensstandardsicherung und der Gewährleistung zumindest einer gewissen Einkommenskontinuität im Lebensverlauf.
Deshalb kann es nicht verwundern, dass die Politik, wie es Annette Niederfranke, die frühere Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales formuliert hat, den Bemühungen der Europäischen Union um Einfluss auf die Alterssicherungspolitik klare Grenzen setzt:
QuellentextDie Kompetenz für Altersrenten liegt weiterhin bei den Mitgliedsstaaten
"Die Kompetenz für Altersrenten und für die Wahl der notwendigen politischen Maßnahmen liegt weiterhin bei den Mitgliedsstaaten. Die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips muss auch künftig bei der Rentenpolitik Grundvoraussetzung für die europäische Debatte über die Zukunft der Rentensysteme sein und bleiben."
Quelle: Niederfranke, 2013, S. 5.